Volksentscheid: Tempelhofer Feld


Foto: orangedrunk (CC BY-NC-SA 2.0)Das Tempelhofer Feld in Berlin soll nicht bebaut werden. Das entschieden die Berliner in einem Volksentscheid. Foto: orangedrunk (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Berliner setzten per Volksentscheid durch: das ehemalige Flugfeld Tempelhof soll nicht bebaut werden. Die Diskussion um die Stadtentwicklung geht weiter. Ein Überblick. Von Alexander Wragge

Worum ging es?

Stadtentwicklung per Direktdemokratie ereignete sich am 25. Mai 2014 (Tag der Europawahl) in Berlin. Alle Wahlberechtigten (in Berlin gemeldete deutsche Staatsbürger) konnten in einem Volksentscheid bestimmen, was mit dem ehemaligen Flughafen Tempelhof passiert...

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Zur Abstimmung standen zwei Gesetzesentwürfe. Die Regierungsfraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus (SPD und CDU) warben in ihrem Entwurf grundsätzlich für das Bebauungs- und Nutzungskonzept unter dem Titel „Tempelhofer Freiheit“ (Webseite). Demnach sollten an den Rändern des Tempelhofer Feldes Gebäude entstehen: bis zu 4.700 Wohnungen, eine neue Landesbibliothek und Gewerbeflächen. Von den heute 300 Hektar Freifläche sollten rund 230 erhalten bleiben (Mehr unter „Konzept: Tempelhofer Freiheit“).

Gegen diese Pläne wandte sich die Initiative „100 Prozent Tempelhof“ (Abkürzung: „thf100“) in ihrem Gesetzentwurf („ThF-Gesetz“). Die Bebauung und Privatisierung des Tempelhofer Feldes wird damit ausgeschlossen. Stattdessen soll es der Freizeit und der Erholung dienen (Mehr unter: „Konzept:100 Prozent Tempelhof“).

Rund 1,15 Berliner nahmen am Volksentscheid teil (46, 1 Prozent aller Wahlberechtigten). Einer Schätzung des Bündnisses “Wahlrecht für alle” waren rund 460.000 in Berlin lebende Menschen ohne deutschen Pass vom Volksentscheid ausgeschlossen.

Rund 64,3 Prozent der Teilnehmer des Volksentscheids gegen die Bebauung (Siehe offizielles Ergebnis. Mit rund 738.000 Ja-Stimmen konnte „100 Prozent Tempelhof“ das erforderliche Quorum (etwa 623.000) deutlich überschreiten. Für das Konzept des Senats stimmten nur rund 468.000 Berliner, oder 40,8 Prozent der Teilnehmer.

Zuvor gelang es in Berlin bei vier Versuchen nur einmal, ein Gesetz per Volksentscheid zu beschließen. So setzte eine Initiative 2011 per Volksentscheid durch, dass alle Verträge zur Wasserwirtschaft offenzulegen zu sind. [weniger anzeigen]


Reaktionen auf den Volksentscheid

Ein starkes Signal, eine Niederlage, ein Mißtrauensvotum - die Reaktionen auf den Erfolg der Bebauungsgegner fallen naturgemäß verschieden aus. Offen bleibt, wie es mit dem Wohnungsbau in Berlin und der Zentral und Landesbibliothek (ZLB) weitergeht...

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Die Initiative 100 Prozent Tempelhof feierte ihren Erfolg am Kottbusser Tor. Initiator Michael Schneidewind, sagte zur Zeitung „taz“, er sei „überglücklich und froh“ über den Ausgang des Volksentscheids. „Wir wollten für unsere Stadt das Beste, das haben die BerlinerInnen wohl verstanden.“ Das Resultat des Volksentscheids bedeute ein „starkes Signal, dass die Stadtentwicklung in Berlin zukünftig anders funktionieren kann“. Der Vereinsvorsitzende Diego Cardenas sagte: „Es ist ein Votum auch für mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung.“

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) sagte im Interview mit dem RRB-Inforadio „Das ist in der Tat eine Niederlage und sie ist auch deutlich.“ Die Entscheidung der Berliner müsse man nun akzeptieren, "das ist auch Kernelement von Demokratie und Volksentscheiden". Einen Rücktritt lehnte Worwereit ab. Einen Zusammenhang zum Missmanagement beim Großflughafen BER sieht er nicht. „Auf dem Tempelhofer Feld ging es ja nicht um schief gegangene Baumaßnahmen, sondern um die Zukunft der Stadt. Wir haben jährlich bis zu 50.000 neue Einwohner, der Leerstand wird immer knapper. Die Berliner wollen bezahlbaren Wohnraum - aber offensichtlich nicht vor der eigenen Haustür."

Der Berliner SPD-Chef Jan Stöß fordert die Berliner dazu auf, über Neubau-Standorte zu diskutieren. „Neben bezahlbarem Wohnungsneubau müssen wir (...) auch an unsere Infrastruktur denken: Wir brauchen Kitas, Schulen, Sportplätze, eine moderne Verkehrsinfrastruktur und auch Platz für entstehende Arbeitsplätze“, so Stöß in einem Diskussions-Anstoß auf Publixphere. „Darum werben wir für eine neue Einstellung, für ein neues Bewusstsein, für ein Ja zu Neuem.“

Der Stadtsoziologe Andrej Holm kommentiert: „Das Abstimmungsergebnis ist nicht nur eine Entscheidung über die Zukunft des Tempelhofer Feldes, sondern auch ein deutliches Mißtrauensvotum gegen die halbherzige Wohnungspolitik der vergangenen Jahre. Was es braucht in Berlin ist ein wohnungspolitisches Gesamtkonzept, dass den dauerhaften Erhalt von preiswerten Bestandsmieten, die Schutz der Mieter/innen vor Verdrängung und einen kommunalen oder zumindest gemeinnützigen Wohnungsneubau umfasst.“

Was wird aus der ZLB?

Die Zentral und Landesbibliothek (ZLB) erklärte: „Mit Respekt, aber auch mit Bedauern nimmt die ZLB das Ergebnis des Volksentscheides zum Tempelhofer Feld zur Kenntnis. Mit der Entscheidung gegen die Randbebauung ist auch der geplante Neubau der ZLB dort nicht möglich.“ Berlin brauchte unabhängig vom Ausgang des Volksbegehrens weiterhin eine starke Öffentliche Zentralbibliothek und Lösungen für die unzureichende derzeitige Situation der ZLB.

Ursprünglich war auf dem Tempelhofer Feld ein Neubau der Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) geplant. Darin sollten Bestände der Amerika Gedenkbibliothek (AGB) und der Berliner Stadtbibliothek (BStB) zusammengeführt werden. An sieben Tagen in der Woche sollten bis zu 10.000 Besucher in der ZLB Platz finden. Der Baubeginn war für 2016 geplant, die Eröffnung 2021/22. Der Landesrechnungshof hatte das Vorhaben in seinem Jahresbericht 2014 kritisiert und den Stopp der Planungen gefordert. Der Senat habe den Neubau in seine Finanz- und Investitionsplanung aufgenommen, „obwohl der Flächenbedarf und die Wirtschaftlichkeit (…) zu keinem Zeitpunkt mit der vorgeschriebenen systematischen Wirtschaftlichkeitsuntersuchung nachgewiesen worden sind“.

Kultur-Staatssekretär Tim Renner (SPD) kündigte an, alternative Standorte und den Bedarf der ZLB neu zu prüfen. Die Berliner Grünen schlagen – auch auf Publixphere - vor, das Tempelhofer Flughafengebäude als Bibliothek zu nutzen.

Wie geht es weiter mit dem Wohnungsbau?

In der Diskussion bleibt, wo angesichts des Bebauungsstopps auf Tempelhofer Feld neue Wohnungen entstehen könnten. Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) sieht im Innenstadt-Bereich Platz für 16.900 Wohnungen, die bis 2020 gebaut werden könnten. Das Bündnis „Mieterstadt“ (Netzwerk für soziales Wohnen und bürgernahe Stadtentwicklung) fordert in einem 4-Punkte-Plan, die bestehenden Sozialwohnungen in Berlin zu sichern. [weniger anzeigen]


Geschichte des Flughafens

Der ehemalige Flughafen Tempelhof steht für eine bewegte Geschichte: von ersten Flugexperimenten über den Größenwahn der Nationalsozialisten bis zur Berliner Luftbrücke. Ein Überblick...

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Der Flughafen Berlin-Tempelhof ging 1923 in Betrieb – im Innenstadtbereich, vier Kilometer südlich des Stadtkerns. Schon Luftfahrt-Pioniere wie Otto Lilienthal, die Gebrüder Wright und Graf Zeppelin hatten auf dem ehemaligen Exerzierfeld Flugexperimente vorgeführt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fand auf dem Tempelhofer Feld ein Propaganda-Aufmarsch zum „Tag der nationalen Arbeit“ statt. Ab 1934 plante der Architekt Ernst Sagebiel den Neubau des Flughafengebäudes nach nationalsozialistischen Architektur-Vorstellungen. Bis 1950 sollte Tempelhof das „größte Luftkreuz der Welt“ sein. Das Areal sollte Teil der geplanten ”Welthauptstadt Germania“ werden.

Bei der Fertigstellung 1941 war das Flughafengebäude das flächengrößte zusammenhängende Gebäude der Welt – bis heute zählt es zu den längsten Europas. Zwischenzeitlich befand sich auf dem Tempelhofer Feld ein SS-Gefängnis, in dem vor allem Sozialdemokraten, Kommunisten und Homosexuelle inhaftiert waren. Außerdem diente das Gelände der Rüstungsproduktion – etwa von Jagdflugzeugen. Auch verfügte der Flughafen über eine unterirdische Eisenbahntrasse, ein Wasserwerk und einen „Dokumenten-Bunker“, der bei Kriegsende ausbrannte (heute zeigt eine Führung die aufwendige Unterkellerung). In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges verweigerte der zuständige Flughafenkommandant die von Hitler angeordnete vollständige Sprengung.

Während der Berliner Blockade Ende der 1940er Jahre, nutzten amerikanische und britische Alliierte den Flughafen, um den Westteil der Stadt mit Lebensmitteln, Medizin, Kohle und Rohstoffen für die Industrie zu versorgen (”Berliner Luftbrücke. Der Flughafen Tempelhof war „Schauplatz früher Flugversuche, Ausdruck nationalsozialistischen Größenwahns, Symbol für die Freiheit und den Überlebenswillen einer ganzen Stadt“, fasst eine Informationsseite des Berliner Senats seine Geschichte zusammen.

Seit 1995 steht das gesamte Flughafengebäude unter Denkmalschutz. Allerdings ist es stark sanierungsbedürftig – die Kosten werden laut eines Presseberichts (Mitte 2013) auf rund eine halbe Milliarde Euro geschätzt.

Nach Fertigstellung des Flughafens Tegel endete 1975 der zivile Flug- und Frachtverkehr in Tempelhof. Allerdings nutzte die US-Armee das Gelände bis 1993 als Militärflughafen. Ab 1985 gab es zudem Geschäftsreiseverkehr mit kleineren Maschinen. 2001 stürzte ein Kleinflugzeug beim Landeanflug auf ein Wohngebäude im Berliner Stadtteil Neukölln ab. Tempelhof sei für Notlandungen ungeeignet – so ein Ergebnis einer Untersuchung.

Bereits 1996 hatten der Bund und die Länder Berlin und Brandenburg beschlossen, Schönefeld zum Großflughafen Berlin Brandenburg International (BBI) auszubauen und Tempelhof zu schließen. Ein Volksbegehren für den Weiterbetrieb blieb erfolglos. 2008 machte der Flughafen Tempelhof endgültig dicht. Seitdem gilt es, das rund 386 Hektar große Gelände (inklusive Gebäude) mitten in der Stadt zu gestalten und zu nutzen. Zum Vergleich: der Central Park in New York misst knapp 350 Hektar. [weniger anzeigen]


Heutige Nutzung

An manchen Sonntagen im Sommer strömen etwa 16.000 Besucher auf das frühere Flugfeld. Das Areal mit der ehemaligen Start- und Landebahn bietet Platz zum Grillen, Radfahren und Kiten. Im Gebäude finden Messen, Konzerte und Dreharbeiten statt...

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In den vergangenen Jahren entwickelte sich das Areal zum Naherholungsgebiet. Die Start- und Landebahn nutzen beispielsweise Kiteboarder (Video), in Teilbereichen der Wiese darf gegrillt werden. 2012 besuchten durchschnittlich 8.000 Menschen pro Tag das Tempelhofer Feld, so das Ergebnis eines Besuchermonitorings im Auftrag des Landes Berlin. An Sonntagen im Sommer zählte man im Schnitt rund 16.000 Besucher. Aktuell kommen mehr als 2 Millionen Menschen pro Jahr.

Das Areal bietet bis heute Platz für zahlreiche Zwischennutzungen. Das ehemalige Flughafengebäude wird für Veranstaltungen (z.B. den A&P Berlin Summer Rave), Dreharbeiten (z.B. 2011 für„Cloud Atlas“) und Messen (z.B: die Modemesse Bread & Butter) genutzt. 2015 soll in Tempelhof ein Rennen der Formel E (Rennwagen mit Elektroantrieb) stattfinden. [weniger anzeigen]


Zitate rund um das Tempelhofer Feld

Ein Luxus? Ein Nationaldenkmal? Geplumst aus der postindustriellen, kriegsgeplagten Geschichte Europas? Zitate zum Tempelhofer Feld...

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Der Kulturjournalist Georg Dietz (Spiegel Online) meint, bei der Tempelhof-Entscheidung zeige sich ein grundsätzliches Problem: „Wie findet eine Demokratie, die Elemente der direkten Bürgerbeteiligung will, das richtige Maß aus Gemeinschaft und Egoismus, aus Interesse und Kompromiss?"

Die Redakteurin Juliane Schumacher (taz) schreibt: „...eines, was Tempelhof bietet und was sicher viele potenzielle Konflikte vermeidet, haben nur wenige andere Parks und Flächen in Berlin zu bieten: Raum. (…). In einer Großstadt wie Berlin, wo so viele Menschen, Vorlieben, Verhaltensweisen aufeinanderprallen, ein Luxus, der selten zu finden ist.”

Der Journalist Nico Drimecker ("Flugfeldkapitäne") formuliert: „Das Flugfeld ist eine Art Heterotopie, ein Ort, an dem sich die Menschen „nicht normal“ verhalten, abweichend – Beispiele sind Friedhöfe, forensische Kliniken, Gärten, Bordelle. Das Flugfeld zählt zweifellos dazu. [...] (Das Flugfeld)...ist aus der postindustriellen, kriegsgeplagten Geschichte Europas des vergangenen Jahrhunderts geplumpst und windet sich seit einigen Jahren unter der ‘Gestaltungsmacht’ des Senats und den anderen Freiflächen-Verweigerern, die von vernunftgeleitetem, ökonomisch-zweckgebundenen Nutzungszwang getrieben werden.“

Der Historiker Arnulf Baring kommentiert “Wenn es in der Geschichte mit rechten Dingen zuginge, müsste der Flughafen Tempelhof das wichtigste deutsche Nationaldenkmal sein.“ [weniger anzeigen]