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Europäischer Abend: Juncker-Plan, Grexit, Demokratie


Foto: Rat der EUDie EU-Finanzminister billigten jüngst den "Investitionsplan für Europa". Wird der Plan der Juncker-Kommission reichen, um die Verwerfungen in Europas Wirtschaft zu kitten? Im Bild von links nach rechts: Carlo Padoan (Finanzminister Italien), Pierre Moscovici (EU-Wirtschafts- und Währungskommissar) und Yanis Varoufakis (Finanzminister Griechenland). Foto: Rat der EU.

Aktuell dominiert wieder einmal die Zahlungsfähigkeit Griechenlands die Nachrichten. Der systematische Blick auf Europas Wirtschaft kommt dagegen oft zu kurz. Anders in der Diskussion rund um den Europäischen Abend in Berlin, die wir offline und online (hier auf Publixphere) geführt haben. Einige Ergebnisse im Überblick


Ein Beitrag von Redaktion

Ausgangspunkt des Europäischen Abends am 16. März in Berlin waren die Fragen: ‘Wie groß sind die Risse im Fundament der Wirtschaftsgemeinschaft?’ und ‘Welche Reformen und Rezepte helfen?’. Vorab wurden sie intensiv auf Publixphere diskutiert. Ein paar Knackpunkte der Debatte (online und offline) seien kurz zusammengefasst - auch damit neue Diskussionen daran anknüpfen können.

Analyse

Wie groß sind die Risse?

Großes Problembewusstsein zeigt sich in Punkto Europas Wirtschaft vor allem online. “Der Euro war ein historischer Fehler” meint Rakaba. “Gibt es überhaupt ein gescheites Fundament für die Eurozone?” fragt GeertV. “Die Risse in der EU sind tief und kaum noch zu schließen” kommentiert nemo. Auch Matthias Kullas, Experte vom Centrum für Europäische Politik CEP (CEP) sieht erhebliche 'Risse', wenn er kommentiert: “Die gegenwärtige Krise zeigt die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Euro-Staaten deutlich: Einige Euro-Staaten setzen auf den Markt als zentralen Koordinationsmechanismus, andere auf den Staat.”

Ulrike Guérot European Democracy Lab beobachtet, in der aktuellen Diskussion über Griechenland-Hilfen werde oft übersehen, “dass es eigentlich um eine systemische Krise geht, die alle Euroländer betrifft”. Das Project for Democratic Union (PDU) warnt : “Es droht die Rückkehr in (neo)realistische Zustände, in denen die europäischen Staaten die Gewinne ihrer Nachbarn als eigene Verluste verbuchen.” Der EU-Abgeordnete Fabio De Masi MdEP, DIE LINKE kommentiert: “Die Eurozone hat nahezu sieben Jahre Depression hinter sich und steuert auf ein verlorenes Jahrzehnt zu.”

Von derart düsteren Diagnosen war am Europäischen Abend in Berlin wenig zu spüren. Die Redner und das Podium problematisierten vor allem die wirtschaftliche Lage in Griechenland und Südeuropa, weniger der Währungsunion im Ganzen. Auch teils strukturelle Schieflagen - etwa bei den Handelsbilanzen und Finanzierungskosten der Euroländer - wurden anders als in der Online-Diskussion nicht aufgegriffen. Systematische Ansätze wie die EU-Arbeitlosenversicherung (Siehe Publixphere-Diskussion) oder die Finanztranstransaktionssteuer (Siehe Kommentar von MisterEde) kamen nicht oder kaum zur Sprache.

"Wir sind immer noch zusammen"

Linn Selle, Vorstandsmitglied der Europäischen Bewegung Deutschland, warb zumindest dafür, sich beim Blick auf die junge Generation von nationalen Sichtweisen zu lösen. „Sie ist die europäischste Generation überhaupt“, so Selle. Zugleich fühlten sich 60 Prozent der jungen Europäerinnen und Europäer in ihren Staaten abgehängt. „Dies ist kein griechisches Zivilisationsproblem, sondern ein europäisches".

Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig (SPD) streifte in seinem Statement Fortschritte in der gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik: „Europa bricht auseinander, schrieben die Medien 2008. Aber wir sind immer noch zusammen, weil wir gemeinsam agiert haben. (...) Und wir koordinieren heute besser als wir das vor der Finanzkrise getan haben.” Auch EU-Kommisar Günther Oettinger beschwor eher den Zusammenhalt als die Risse.

Bleibt schon einmal festzuhalten: auch bei den Analysen in unserer gemeinsamen Debatte zeigen sich gewaltige 'Risse'. Die einen wenden sich der Lage in einzelnen Ländern und Wirtschaftssektoren zu (EU-Kommissar Günther Oettinger sprach am Europäischen Abend vor allem über die Digitalisierung und den Energie-Binnenmarkt). Die anderen pochen darauf, die Eurozone im Ganzen zu betrachten und ihre ökonomischen wie politischen Mechanismen grundsätzlich zu problematisieren. Die einen zeichnen ein düsteres Bild. Für andere scheint die europäische (Wirtschafts-)Welt noch recht in Ordnung.

Welche Rezepte helfen?

Reicht der Juncker-Plan?

Europas Wirtschaft braucht mehr Investitionen - darin besteht breite Einigkeit. Die Finanzminister der EU-Staaten haben jüngst dem "Investitionsplan für Europa” zugestimmt, vorgelegt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Bis Juni wollen sich Parlament und Kommission auf das Programm verständigen. Zwischen 2015 und 2017 sollen 315 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Investitionen für Infrastruktur-Projekte mobilisiert werden. Die Ausgangslage: Seit 2007 ist das Investitionsniveau in der EU deutlich gesunken (um etwa 15 Prozent).

“Der Investitionsfonds kann ein entscheidender Schritt Richtung Arbeit und Wachstum in Europa werden”, meint Udo Bullmann MdEP, SPD auf Publixphere. Allerdings seien handwerkliche Verbesserungen erforderlich. Auch Burkhard Balz MdEP, CDU erklärt in der Online-Diskussion: “Wir brauchen mehr Investitionen in der EU.” Zugleich sind diese Balz zufolge kein Allheilmittel. “Wir müssen nicht nur in Projekte, sondern auch weiter in unsere Reformanstrengungen und in unsere Wettbewerbsfähigkeit investieren.”

In der Kritik steht die Höhe der Investitionen. Den deutschen Beitrag nannte Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig (SPD) beim Europäischen Abend “bescheiden”. Online fragt MisterEde, warum die Bundesregierung bei der Unterstützung des Juncker-Plans so "knausrig" sei. Berlin hat bislang eine Beteiligung von acht Milliarden Euro in Aussicht gestellt.

Eine massiv größere Investitions-Offensive fordert Fabio De Masi MdEP, DIE LINKE . “Statt Junckers Privatisierungsplänen braucht die EU dringend ein öffentliches Investitionsprogramm von mindestens 500 Milliarden Euro jährlich über 10 Jahre”. Die Europäische Zentralbank (EZB) könne für entsprechende Anleihen der Europäischen Investitionsbank (EIB) garantieren. Auf dem Podium des Europäischen Abends war der aktuelle Investitionsplan kaum Thema. Andreas Kluth, Leiter des Berliner Büros des "Economist", erinnerte vielmehr an die Rolle der Psychologie: "Eine ängstliche Gesellschaft investiert nicht".

Neue Legitimation?

Das Project for Democratic Union (PDU) hält zwar Investitionen speziell in Südeuropa für notwendig, fragt aber nach der demokratischen Legitimation. “Klar ist (...), dass die ‘Nordstaaten’ nicht einfach Geld nach Lissabon, Madrid und Athen überweisen können in dem Vertrauen, dass das schon irgendwie seinem Zweck zugeführt werden wird.” Griechen, Spanier, Italiener und Deutsche müssten in Wahlen gemeinsam darüber bestimmen, welche Programme genau umgesetzt werden. Die Schlussfolgerung des PDU: “Das geht nur über ein gemeinsames europäisches Budget, eine wirklich handlungsfähiges Parlament und eine gemeinsame Exekutive.”

Die Denkfabrik PDU fordert langfristig eine politische Vereinigung der Eurostaaten auf anglo-amerikanischer Verfassungsgrundlage. Tiefgreifenden institutionellen Reformen, die zwingend eine Änderung des EU-Vertrags voraussetzen, erteilten Matthias Machnig und EU-Kommissar Günther Oettinger am Europäischen Abend allerdings eine Absage."Wir müssen mit dem Vertrag zurechtkommen", so Oettinger.

Wirtschaftliche Ungleichgewichte in der Eurozone...

...werden vor allem online problematisiert. nemo meint, Deutschland habe sich durch die Senkung von Lohnkosten (zwischen 1999 und 2008) einen "unfairen Wettbewerbsvorteil" gegenüber den Nachbarn in der Eurozone verschafft. MisterEde teilt diese Sicht. Seiner Argumentation nach könnten Transferzahlungen die Folgen vorhandener Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen. Aha stellt mit derselben Zielsetzung zur Diskussion, Länder mit hohen Handelsüberschüssen (wie Deutschland) dazu zu zwingen, diese durch Investitionen oder einen höheren Mindestlohn zum Wohle aller zu verwenden. Bislang hat Deutschland noch keine europäischen Sanktionen wegen seiner Überschüsse erleben müssen.

Rakaba zweifelt allerdings daran, dass höhere Löhne in Deutschland den Nachbarn im Euroraum nachhaltig helfen würden. Mit Blick auf den globalen Markt fragt er: “Keine Industrie in Deutschland, keine Industrie in Italien, dafür Industrie in China: Ist das der geniale Plan?”. Ed-Eretsim wünscht sich in der Debatte mehr Fakten. “Gibt es Möglichkeiten, genau zu analysieren, ob der (deutsche) Überschuss wirklich schädlich für andere Länder der Eurozone ist? Scheinbar gibt es da ja sehr verschiedene Meinungen.”

Staateninsolvenz? Eine kleinere Eurozone?

Befürworter eines griechischen Ausstiegs aus der Eurozone fanden sich auf dem Podium des Europäischen Abends keine. Richard Kühnel, der Vertreter der EU-Kommission in Deutschland, meinte, ein "Grexit" sei politisch von niemandem gewünscht. „Ein Grexit wäre eine Bankrotterklärung an die Intelligenz Europas."

Die ARD-Journalistin Marion von Haaren mahnte, Griechenlands spezielle Lage zu berücksichtigen. “Wir Deutsche müssen einfach lernen, dass nicht jede Medizin, die wir für richtig halten, überall hilft. Man kann nicht nur in Euro und Cent rechnen und die soziale Misere komplett ausblenden.“

Einen Vorschlag, der mittelfristig geordnete Staatsinsolvenzen und damit Euro-Austritte ermöglichen könnte, macht das Centrum für Europäische Politik CEP . “Notwendig ist die Einführung einer Staateninsolvenzordnung, da dann jedes Land seine eigene Vorstellung von Fiskal- und Wirtschaftspolitik verwirklichen kann, hierfür aber auch die Konsequenzen tragen muss”, so CEP-Experte Michael Kullas. Den bisherigen Weg, die Eurozone ohne die Option eines Austritts zusammenzuhalten, hält Kullas dagegen für wenig erfolgversprechend. "Der Versuch, die unterschiedlichen fiskal- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Euro-Staaten durch wirtschaftspolitische Koordinierung oder Regeln zu überbrücken, ist zum Scheitern verurteilt. Die wirtschaftspolitische Koordinierung wird nur faule Kompromisse hervorbringen."

Aktuell wirbt der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch MdB, CDU auf Publixphere für den Grexit. "Nur wenn Griechenland aus dem Euro austritt (aber natürlich EU-Mitglied bleibt), bekommt das Land wieder Luft zum Atmen." Einen halben Verbündeten fand Willsch am Europäischen Abend in Andreas Kluth, Leiter des Berliner Büros des "Economist". Der Austritt Griechenlands aus dem Euro sei wirtschaftlich gesehen nur eine Frage der Zeit. Aber: Wünschenswert sei dies nicht.

It's not just the economy, stupid

Ebenfalls online wird der Versuch unternommen, in der aktuellen Debatte Wirtschaft und Demokratie zusammenzudenken. Ulrike Guérot European Democracy Lab regt eine Diskussion zum Gesellschaftsmodell Europas an - etwa zum Verhältnis zwischen Markt und Staat. “Wenn wir Antworten finden, hätten wir ein Stückchen Europa mehr gefunden…..im Sinne der politischen und sozialen Gleichheit aller Bewohner von Euroland (...)”. Den Volkswirtschaften in der Eurozone liegen Guérot zufolge unterschiedliche Kulturen zu Grunde - etwa in Punkto Mittelstand und Ausbildungssystem. Es könne nicht darum gehen, den anderen Eurostaaten das sozio-kulturelle Modell Deutschlands aufzudrücken. Vielmehr sei die politische Idee der Republik die tragende Idee der europäischen Geistesgeschichte. Im Rahmen des European Democracy Lab treibt Guérot die Debatte um eine res publica europae voran.

Auch das Project for Democratic Union meint: “Die wirtschaftliche Misere der Eurozone ist mehr als nur ein ökonomisches Problem. Sie stellt Europa und das Model friedlicher Kooperation, wie es nun schon immerhin 70 Jahre existiert, vor eine Zerreissprobe.” MisterEde stellt fest: "Die Risse in der Wirtschaftsgemeinschaft sind bei weitem nicht so groß wie die Risse in der Wertegemeinschaft. Ohne Wertegemeinschaft allerdings keine Wirtschaftsgemeinschaft."

Zumindest in Punkto Werte scheinen sich die Online-Diskutantinnen und die Rednerinnen des Europäischen Abends gut verständigen zu können. Die Bundestagsabgeordnete und Vizepräsidentin der Europa-Union Eva Högl (SPD) erinnerte zur Begrüßung an die dunkelsten Tage, die hinter Europa liegen. „Mit der Gründung der Wirtschaftsgemeinschaften haben sich die einstigen Kriegsgegner zusammengetan."

Hinweis: Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, Aspekte dieses Überblicks in neuen Diskussionen aufzugreifen oder hier zu kommentieren. Alle laufenden Diskussionen zum Schwerpunkt Troika und Eurokrise findet ihr hier.

Links:

Bild: PublixpherePublixphere-Zitate wie dieses von Nutzer GeertV stellten wir am Europäischen Abend in Berlin via Beamer vor. So manchen Besucher brachten sie ins Grübeln.


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