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Was an der Flüchtlingskrise ist historisch?


Foto: picture alliance / dpaAuf dem Messegelände in Hamburg haben hunderte HelferInnen eine Kleiderkammer für Flüchtlinge auf die Beine gestellt. Foto: dpa

Auch in den USA ist die Aufmerksamkeit für die Flucht nach Europa groß. Das erlebte Isabel Schayani bei einer Konferenz in Harvard. Zurück kommt sie mit einem Gedanken...


Ein Beitrag von Isabel Schayani

Wie historisch ist das, was wir gerade erleben und was man mit dem Begriff “Flüchtlingskrise” versucht zu umschreiben? Auf dem Hinflug zur German American Conference an der Harvard Universität in Boston dachte ich darüber nach, unter mir dieses Meer, das seine Unschuld verloren zu haben scheint.

Deutsche Studenten, die an der Elite-Uni studieren, haben in ihrer Freizeit diese zweitägige Denkveranstaltung (oder soll ich sagen Denk-Messe, sie fand nämlich in einer Kirche statt) organisiert. Nicht Gedenk, sondern Denk. Da reden Vertreter der US-amerikanischen Gesellschaft mit Deutschen, streiten und messen sich miteinander. Sie kommen aus der Kultur, aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Mit der Flüchtlingskrise haben die Deutschen jetzt einen Punktvorteil. Einen im Bereich Menschlichkeit. Da konnte in Harvard niemand dran vorbei. Und die Flüchtlingskrise war in jedem Gespräch dort Thema Nummer eins. Auch der deutsche Botschafter in den USA, Peter Wittig, fand, der Austausch über Flucht und Integration sei für die transatlantischen Beziehung wichtig. Wir könnten von den Amerikanern lernen. Das Thema bewegt sich aus der Multi-Kulti-Ecke dahin, wo die Wirklichkeit es gerade hinkatapultiert: Es steht oben auf der Agenda.

Um mal kurz zu skizzieren, was spannend an diesen zwei Tagen war: Es sind intellektuelle Duelle, wie das zwischen dem ehemaligen CIA- und NSA-Chef General Hayden und Ex-Datenschützer Schaar (Ingo Zamperoni dirigierte es gelassen und konzentriert), die die deutschen Harvard-Studenten bei dieser Konferenz ermöglichen.

Für den US-General gibt es zwei wesentliche Kategorien: gut und böse. Aus die Maus. “Politiker kommen und gehen, wir bleiben”. Ihr “business” sei es eben, Informationen zu sammeln. Die Bundeskanzlerin zu belauschen, sei sicherlich deutlich nützlicher (useful) gewesen als ihren Vorgänger.

Peter Schaar, deutsch, nüchtern und klar, hielt dem General entgegen, die Stasi habe schließlich auch nicht den Fall der Mauer aufhalten können. Nein, gegen die Zivilgesellschaft konnte auch die Stasi am Ende nichts ausrichten. Sie war stärker.

Und diese deutsche Zivilgesellschaft, die bewegt sich gerade wieder. Diese Zivilgesellschaft diskutiert, packt an, organisiert Sprachkurse. Sie übersetzt die europäischen Werte in Taten. Die renommierte Islamforscherin Joselyne Cesari hörte sich genau an, was in Deutschland passiert, um mich dann sichtlich bewegt zu fragen: Das macht alles die Zivilgesellschaft? Ja, sagte ich, ohne wirklich die Dimension zu begreifen. Sie wolle kommen, um das selber zu sehen. Im ostdeutschen Guben, erzählte die Grüne Europaparlamentarierin Ska Keller, würden sich die Rechten, die früher gegen Ausländer waren, die Rechten, plötzlich für Flüchtlinge einsetzen. Ist diese erwachte Zivilgesellschaf die historische Dimension der Phase, die wir gerade erleben?

Es gibt vermutlich 15 Antworten auf diese Frage. Mindestens. Aber diese Zivilgesellschaft, Vereine, Bürgerinitiativen, Gemeinden, die ist auf jeden Fall eine Antwort wert. Und dann kam Prof. Karl Kaiser von der Harvard Kennedy School, lebenserfahren, der diesen glasklaren Blick für politische Zusammenhänge hat. Er hatte eine Antwort auf meine Frage. Seit der Wiedervereinigung haben die Deutschen eine andere Macht, sagte er. Bis heute sei es die Aufgabe der Politik, diese erstarkte Rolle Deutschlands für andere annehmbar zu gestalten. Die Flüchtlingskrise sei ein großes Risiko für Deutschland. Dafür brauche das Land amerikanischen Optimismus. Beim Mauerfall sei die Zivilgesellschaft entscheidend gewesen. Und jetzt sei sie es wieder. Die Zivilgesellschaft.

Als ich auf dem Rückflug wieder das Meer unter mir sah, das seine Unschuld verloren hat, da fügten sich die Harvard-Puzzle-Steine zusammen und ich dachte: Ja, die ganzen Aktiven in meiner Umgebung, die plötzlich mit einem Syrer zum Arzt gehen, Schuhe in Größe 42 suchen und pragmatisch versuchen, zu tun, was Menschen hilft, die eben hier sind, das ist diese Zivilgesellschaft. Ihre Bewegung könnte historisch sein.


Hinweis: Dieser Text erschien zunächst auf dem Blog von tagesschau.de

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Kommentare

  • Was kommt nach der Kleiderspende?

    Hallo Isabel Schayani, schön wie Sie es sehen! Amerikanischen Optimismus find ich im Prinzip gut, nur macht Donald Trump mir bei der Migration in die USA nicht den Eindruck, er würde überzeugt "Wir schaffen das!" rufen. Heißt PEGIDA in den USA nicht Tea Party, hat eine eigene Partei (Republikaner) und ist gigantisch groß??? So viel Polemik soll reichen.

    Mich interessiert wie wir Zivilgesellschaft nach der 'ersten Hilfe' stärken. Nach der Kleiderspende. Wenn es um Kontakt und Intergration geht, sich kennenlernen, als Einwanderungsgesellschaft zusammenwachsen. Da hätte ich gerne Begegnungsstätten überall in Deutschland. Da hätten auch die EInheimischen was von. Die begegnen sich nämlich auch viel zu selten.

    Es wäre schade, wenn am Ende wieder alle nur 'ihrs' machen und von den anderen nichts mehr wissen wollen.

  • Wer glaubt, dass Thema Migration und Integration müsse noch aus einer "Multi-Kulti-Ecke" nach oben auf die Agenda rücken, hat wohl die vergangen 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland nicht mitbekommen, und auf dem Mond gelebt oder so. Die Zivilgesellschaft braucht Anerkennung klar. Aber das ist alles keine einmalige Aktion, für die wir uns auf die Schulter klopfen und mit der wir in den USA angeben können, sondern ein neues Leben, eine neue Gesellschaft, ein neues Deutschland! Da muss jetzt ein neuer Geist und Ruck und Shift her, wie nach der Wiedervereinigung! Die Akzeptanz ist aber noch nicht da. Schon wollen die Ersten die Syrer doch lieber wieder nach Hause schicken oder die Mauer wieder aufbauen, um im Bild zu bleiben.