+4

Thorsten Wiesmann: Jenseits der Postmoderne


Foto: "Selbst mit Liebesbeziehungen wird nur noch eine Weile gespielt, abgeklärt und selbstironisch." Foto: Charlie Foster (CC0 1.0)

Thorsten Wiesmann widmet sich dem aktiven Umgang mit Informationen und der Transformation der Gesellschaft. Was kommt nach der Postmoderne?


Ein Auszug aus Thorsten Wiesmanns demnächst erscheinendem Buch "Die Transformation der Gesellschaft"


Das zur Zeit global entstehende Theater der Unmittelbarkeit kann als künstlerische Kreation und Aufführung definiert werden für ein Publikum, welches erst gerade im Moment dabei ist sich zu bilden, innerhalb eines intensiven sozialpolitischen Kampfes bei dem dominante Netzwerke der Macht in Frage gestellt werden. Dieses Theater der Realität findet immer im Moment der Gegenwart statt und verkörpert sowie reflektiert einen bestimmten Moment der Dringlichkeit, der dann Persönliche- oder Gruppentransformation auslöst, die dann bestehende Parameter der Erfahrung der offiziellen Kultur und deren existierende politische Ordnung der Machteliten untergräbt.

Die Grenze zwischen Staatsapparat und Bürger löst sich dabei auf, wie etwa angespornt durch den Gesang von Ramy Essam, dem sogenannten Sänger der Ägyptischen Revolution, welcher spontan in Kairo zur Stimme des Volkes wurde mit seinen improvisierten Liedern. Es ist diese Stimme des Volkes, die Hamid Dabashi in seinem Buch über den Arabischen Frühling als post-ideologische Wissens-Herstellung beschrieben hat und als ein Mittel, um den Zustand des Postkolonialismus und so die Dominanz der europäischen Herrscher-Erzählungen zu brechen.

Die Performance von Essam, oder anderen, durchdrang schließlich die ganze Arabische Welt und legte die Fragwürdigkeit der Mythologien offen, die die Staatsapparate in verschiedenen Ländern dort fabriziert und genährt hatten.

Das Theater der Unmittelbarkeit trägt auf diese Weise dazu bei, die institutionellen, disziplinären und wirtschaftlichen Grenzen des Staates zu öffnen, so dass es zum Kraftzufluss in neue Netzwerkstrukturen kommen kann. Dadurch können die Bürger sich aus den staatlich produzierten Vorstellungen wie Scham, Schande und Angst befreien, die der Staat benutzt, um die Bürger im Unbewussten in Bezug auf die eigentlichen Verhältnisse zu halten.

Gerade entstehen überall neue Bildungs- und Arbeitsräume der Kollaboration, bei denen aus den Parametern von Kontrolle und Überwachung ausgestiegen wird, die bislang Beziehungen von oben herab bestimmten. An Stelle solcher fremd gesteuerten Beziehungen entstehen nun jene, welche die Verantwortung auf allen Ebenen gleichzeitig und gleichmässig verteilen und so die kollektive Integrität aller Beteiligten gleichermaßen herausfordern. Niemand wird bei einer solchen natürlichen Ordnung dazu gezwungen, eine übergeordnete anonyme Behörde blind zu vertreten, oder Gewinne im Interesse von anonymen Anlegern zu steigern. Von einer Kultur, die Informationen sammelte und hortete, gehen wir nun über in eine Kultur, die Informationen sinnvoll miteinander teilt. Open Value Networks (OVN), die etwa seit 2011 von der Organisation SENSORICA entwickelt werden, spielen dabei eine mögliche Rolle.

Netzwerke des Vertrauens bringen ein Wissen hervor, welches direkt, pluralistisch und prozessual ist. Bei der Software Entwicklung nennt man solche Arbeitsweisen Spiral Development und meint damit die Zusammenarbeit ganz verschiedener Akteure im digitalen Raum nach dem Dreischritt – Plan a little, – Build a little, – Deploy a little.

Das Prinzip Wachstum durch Teilen

Mit dem Beginn der Moderne verlor die Religion ihre Deutungsmacht und die Kunst begann sich als neues Muster der Wahrheit dem Alltag aufzudrängen. Doch diese Periode währte nicht lange, denn die Wissenschaft forderte ihr Recht auf ganzer Breite ein. Die neue jetzt beginnende Periode verschmilzt Kunst, Wissenschaft und Spiritualität gleichermaßen miteinander. Und zwar über das Prinzip Wachstum durch Teilen.

Die Vertreter der Postmoderne, die bislang unseren kulturellen Diskurs prägten, verloren sich in einer überwiegend materialistischen Kulturkritik. Die Kultur nach der Postmoderne zeigt nun, daß es eine tiefere Weise gibt Sinn zu bestimmen, und zwar als sich selbst verstärkender Feedback-Prozess. Denn wie sagte schon Zarathustra: Ich bin meine Gedanken, denn meine Gedanken steuern meine Worte, meine Worte steuern meine Handlungen, ich bin also meine Handlungen, und meine Handlungen bestimmen meine Worte.

Denker wie Pierre Lévy oder Jean Luc Nancy stehen heutzutage an diesem Punkt der Überwindung der Postmoderne, da sie den Sinn des einzelnen Menschen aus der Gemeinschaft heraus erkennen und so den Leib-Seele-Dualismus im abendländischen Denken durchbrechen. Ihre Grundthese lautet, dass der Mensch sein Sinn-Sein erst durch Beziehungsaufnahme erfährt und darüber, wie er innerhalb sozialer Bezüge über die von ihm empfundenen absoluten Bezüge sich mitteilt. Es gibt keine Bedeutung solange Bedeutung nicht geteilt wird. Bedeutung selbst ist das Teilen des Seins. Allmählich beginnt sich der Gedanke des Mit-Teilens der Verteilung, des Anteils, der Teilhabe, der Mitteilung durchzusetzen.

Die Rückführung auf eine Anbindung aller Wissenschaften an mathematische Gesetze, die sich auf unterschiedliche Weise in allen Lebensbereichen widerspiegeln, konnte in der Postmoderne vorbereitet werden, jedoch wurde dabei noch nicht ausreichend dargelegt, inwiefern diese Gesetze sich aus ewigen geistigen Weisheiten ableiten. Dadurch kam es zu einem überbordenden Relativismus, der den Verfall des alten Weltbildes und der von diesem hervorgebrachten Kultur immer mehr jetzt beschleunigt. Wie transformieren wir nun unsere Kultur hin auf das neue Weltbild der Fülle, des Friedens und der Gerechtigkeit?

Der aktive Umgang mit Informationen

Bislang lebten die Bürger unserer Gesellschaften überwiegend im Sinne von passiven Informationsmanagement. Das Neue ist das aktive Informationsmanagement. Jeder ist nun für seine Informationsstruktur selber zuständig. We are literally the media with which we communicate.

Diese Aktivierung der eigenen kreativen Wirklichkeit ist das Mittel, welches es ermöglicht, uns kollektiv gegenseitig nun aus dem Alptraum der Post-Geschichte aufzuwecken.

Mistress America (2015) ist, wie zuvor schon der andere Film von Greta Gerwig und Noah Baumbach Frances Ha (2013), ein Film über die Freundschaft zwischen zwei jungen Frauen im heutigen New York. Nun stecken die Helden völlig hier fest in "an appetite for dead styles and fashions", etwas was man die letzte Station der Post-Postmoderne nennen könnte. Diese Menschen begehren nicht mehr auf gegen das System welches sie unterdrückt, sondern verwandeln ihren Schmerz in eine Haltung der bloßen coolen Informiertheit. In einer Szene sagt Frances zu einer Frau, die sie darauf hinweist, dass ihre zweitägige Parisreise auf Kosten ihrer Kreditkarte sie nur weiter ins Schuldsystem reinziehe, sie wüsste dies, denn sei hätte auch Dokumentarfilme gesehen.

Fragmentiertes und konsumiertes Wissen führt nicht mehr zu sinnvoller Handlung in einem allgemeinen Klima der Orientierungslosigkeit. Diese Orientierungslosigkeit ist das Ergebnis einer Kultur, die keine Authentizität mehr bieten kann, denn alles ist in ihr nur noch Zitat oder Referenz. So wird Wissen auch nur noch verzweifelt konsumiert und nicht mehr reflektiert. Ideen und selbst Liebesbeziehungen werden nicht mehr gelebt, sondern es wird völlig abgeklärt und selbstironisch mit ihnen nur noch für eine Weile gespielt. Das Wunder dieser beiden genannten Filme ist jedoch, dass all dies schonungslos gezeigt wird und trotzdem unterschwellig eine Art Hoffnung auf eine neue Art der Selbstfindung aufleuchtet, die jene gesamte dargestellte Kulturstufe im Ansatz auch schon hinter sich lässt. Das tritt wohl am deutlichsten zutage in einer Szene wo Frances bei einem Essen mit Bekannten sich plötzlich von deren Gehabe der Selbstdarstellung löst und darüber spricht wonach sie im Leben eigentlich suche: Nach einer Begegnung mit anderen Menschen auf einer rein geistigen Ebene des tieferen gegenseitigen Erkennens.

Transformation beginnt immer mit dem bewussten Gebrauch der individuellen Kraft der Imagination. Wann immer ein innerer Zustand in uns so stabil wird, dass er unser allgemeines Lebensgefühl zu bestimmen beginnt, ändert sich unser Charakter entsprechend dieses Zustandes und so tritt wahre Transformation ein. Nur über die Kraft der Liebe zu einem vorgestellten Bild, kann dieses beginnen unser Lebensgefühl wirklich zu bestimmen. Die Transformation der Wirklichkeit ist das Ergebnis von mit Liebe durchwirkten Glauben an ein ideales Bild von der Welt. Wir transformieren die Wirklichkeit, im dem wir sie entsprechenden Idealen gemäß als inneres Bild imaginieren. Das ideale innere Bild wird für uns zur äußeren Wirklichkeit, je nach dem wie stark wir all unsere Gedanken von diesem Bild ausgehend denken. Dabei sind solche idealen und symbolischen inneren Bilder eben deswegen keine bloßen Wunsch- oder Erinnerungsbilder, weil sie nicht wie diese unser Denken unbewusst steuern, sondern dieses Denken uns im Zusammenspiel mit der Vorstellungskraft bewusst machen. Daduch lernen wir zu entdecken, wie unsere Fantasien unser Begehren hervorbringen. Dies ist der alles entscheidende Schritt um uns wirklich aus Ideologien, die uns in einer Scheinfreiheit halten – wie dem Neoliberalismus, befreien zu können.

All diese Arbeit der Transformation ist aber nur in dem Maße möglich, wie zuvor die Aufgabe angegangen wurde, mit der Kraft der Imagination in die Bilder der eigenen Erinnerung herabzusteigen, um dort alles in Gedanken in Ordnung zu bringen, was dort jemals von einem falsch gemacht wurde. Imagination ohne gleichzeitige fortwährende Introspektion ist ohne wahre Liebe. Die Offenheit der Liebe entsteht durch einen aktiven hinterfragenden Umgang mit den eigenen Haltungen und damit, wie diese Haltungen uns die Dinge jeweils in einem bestimmten Licht zeigen.

Eine der wichtigsten Entdeckungen, die richtig durchgeführte Introspektion an den Tag bringt, ist unser Bedürfnis ein bestimmtes festes Bild zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, um uns mit einer künstlichen Persona zu identifizieren, oder von ihr abzugrenzen. Die Begrenzungen unserer Aufmerksamkeit erzeugen unsere Persona, indem sie uns bestimmte Tatsachen über uns nicht wahrnehmen lassen und wir darauf hin anfangen Dinge zu dramatisieren, zu verdrängen oder durch Intellektualisieren zu verzerren. Nur indem wir uns unseres Denkens, unserer Sprache und unseres Körpers in allen noch so kleinen Regungen ganz bewusst werden, lösen wir das Bedürfnis auf, uns eine künstliche Persona zu konstruieren. Das ist wahre Transformation, bei der es eben darum geht, einen gewissen gelassenen reflektierenden Abstand gegenüber dem Geschehen einzunehmen, um damit in die Lage zu geraten, die eigene Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Beziehung setzt voraus, dass auch Transformation stattfindet, was komplex ist. Kommunikation kann hingegen linear sein und Transformation ausschließen.

Es geht nun auf dem Weg aus der Postmoderne darum, objektive und subjektive Welten, und wie diese sich gegenseitig bedingen, ansichtig zu machen. Denn nichts ist je verloren, doch bleibt nichts jemals auch dasselbe. Es geht um die Einsicht in die Wirkungsweise des kulturellen Umfeldes an sich. Dadurch wird zum Beispiel auch in aller Tiefe erkennbar, wie der liberale Multikulturalismus und der religiöse Fundamentalismus sich gegenseitig hervorbringen.

Wir alle sind zur Hälfe Véronique und zur anderen Hälfte Weronika. Einerseits wollen wir von anderen Menschen die tiefe Wahrheit über uns offenbart bekommen, und andererseits fürchten wir uns vor genau dieser Wahrheit und fliehen vor ihr, denn sie konfrontiert uns mit unserem eigenen maßlosen Begehren. Dieses Begehren ist mehr als wir selbst und zerstört unsere Vorstellung von unserer Identität.

Durch Meditation ist es möglich, die Vorstellung von der eigenen Identität gezielt aufzulösen, so dass wir keine Furcht und Ambivalenz mehr empfinden gegenüber dem eigenen Begehren. Das Begehren ist dann in seiner ganzen Kraft immer anwesend in einem, doch seine Energie kann je nach Bedarf dann bewusst für ganz unterschiedliche kreative Dinge verwendet werden. Schönheit zu sehen bedeutet diese beiden Seiten in jedem Moment in sich selbst und in allen anderen Menschen zu erkennen und sich dadurch zutiefst mit allem verbunden zu fühlen auf einer Ebene, die sich immer weiter öffnet gegenüber dem Dasein. Auf dieser Ebene gibt es weder Vorwürfe noch Ängste, denn auf ihr findet das statt, was wir eine authentische Begegnung nennen können. Wenn wir nicht durch eine bewusste ethische Wahl beginnen auf dieser geistigen Ebene zu leben, bleiben uns nur zwei Möglichkeiten, entweder wir geben uns mehr oder weniger unserem Begehren hin und spielen so unvorsichtig mit der Selbstzerstörung. Oder wir leben ein äußerliches nicht authentisches mehr oder weniger ruhiges Leben, welches aber vom Unterbewusstsein durch die Verdrängung unserer tiefsten Phantasien des Begehrens reguliert wird.


Links zu ähnlichen Fragen


Kommentare

  • Aidin Halimi Asl ist dafür
    +2

    Großartiger Ansatz. Im letzten Drittel hätte ich allerdings mehr Klarheit, was die gängigen Begriffe wie Liebe betrifft, die hier nicht allgemeingültig verstanden werden (wenn ichs richtig verstanden habe :-) ). Ansonsten sehr gut. Danke