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DAS NARRENSCHIFF


picture alliance / dpa Illustration des Buchs "Das Narrenschiff" aus dem Jahr 1497. Foto: picture-alliance / dpa.


Ein Beitrag von nemo

Über den 01. August 1914 und was wir daraus nicht gelernt haben.

2014 ist ein Jahr voller denkwürdiger und tragischer Jubiläen. Fast auf den Tag genau 100 Jahre sind vergangen, seit Deutschland Russland 1914 den Krieg erklärte und damit einen scheinbar beherrschbaren regionalen Konflikt auf dem Balkan zum Ersten Weltkrieg eskalieren ließ.

Exkurs : Die radikale Negation der Vernunft

Aber gehen wir noch etwas weiter in der europäischen (Kultur)Geschichte zurück. Sebastian Brant schrieb 1494 in seinem in Basel erschienenen Buch „Das Narrenschyff“, das auch ein Stück großer gesamteuropäischer Literatur ist: Ja würt all gschrifft vnd ler veracht/Die gantz welt lebt in finstrer nacht/Vnd dût in sünden blint verharren/All strassen/gassen/sindt voll narren. 1) Der große französische Philosoph und Theoretiker der Postmoderne Michel Foucault interpretierte dieses Buch 1963 als Beginn der „wahnsinnigen“ und damit potentiell mörderischen irrationalen Neuzeit und notierte in Wahnsinn und Gesellschaft: "La fin [das Ende der Fahrt des Narrenschiffs 2)] n’a pas valeur de passage et de promesse; c’est lavènement d’une nuit où s’emglutit la veille raison du monde." 3) Die Herrschaft des Wahnsinns beginnt, die radikale Negation der Weisheit [des Wissens] bzw. der Vernunft, des Rationalen.

Nun die „Narren“ sprich die europäischen Macht- und Medieneliten haben dieses Schiff erneut bestiegen, fröhlich und wieder siegestrunken, in scheinbar neugewonnener Einigkeit, voller Selbstgewissheit und ohne Zweifel an sich und ihrem Tun oder besser an dem was sie unterlassen haben zu tun.

Die Parallelen zu 1914 sind zu offensichtlich, um hier unerwähnt bleiben zu können. Im Juli jenes Jahres zwang Serbien durch seine Politik in Bosnien, die letztlich im Attentat von Sarajevo gipfelte seine Schutzmacht Russland in einen Krieg, den es nicht wollte, der aber binnen Tagen und wenigen Wochen die gesamte Welt in Brand setzte. Für Russland ging es damals wie heute in der Ukraine weniger um reale geopolitische und territoriale Interessen als um seinen Rolle als Beschützer aller slawischen Völker. Also um die Macht des Mythos, die Deutungshoheit in Sachen Slawentum.

Schlafwandlerisch wie es Jakob Augstein in dieser Woche formulierte - auch dieser Begriff beschreibt eigentlich ein pathologisches Verhalten aus der Welt derer, die keiner rationalen Reflektion mehr fähig, also im Foucault‘schen Sinn dem „Wahnsinn“ nahe sind - haben Europa und die USA als quasi Schutzmacht der Nach-Maidan-Ukraine, eine Kette von Sanktionen in Gang gesetzt und einen Handelskrieg begonnen, von dem niemand weiß wo er enden wird. Ohne Plan, Konzept oder Idee, was am Ende dieses Prozesses stehen soll, wie Augstein richtig bemerkt. Als neue Schutzmacht finanzieren sie indirekt auch einen realen blutigen Krieg in der Ost-Ukraine. Der 10 Milliarden IWF/EU Kredit wird gerade ausreichen diesen Konflikt und danach die Beseitigung der schlimmsten wirtschaftlichen Schäden zu finanzieren. Dabei war er an Bedingungen gebunden oder? Wirtschaftliche Reformen und Investitionen in eine bessere Infrastruktur statt deren Zerstörung? Was ist eigentlich daraus geworden? Gibt es inzwischen überhaupt entsprechende Verträge? Wie soll sich so die Vision der Menschen vom Maidan verwirklichen?

Mehr Parallelen. Auch 2014 beginnt es wie 1914 mit einem Krieg der Worte. Manche wollen verbal bei diesem eskalierenden Handels- und Finanzkrieg gleich zum „Atomwaffenarsenal“ greifen wie Financial-Times-Kolumnist Wolfgang Münchau. Ausgerechnet während die USA ihr beachtliches reales Atomwaffenarsenal in der Eifel modernisieren. Jetzt folgt euphemistisch als Sanktionen verschleiert der wirkliche Handelskrieg, der wie jeder Krieg nur Verlierer haben kann. Und wer weiß was noch folgt. Volker Rühe (CDU) und Gernot Ehrler (SPD) haben ebenfalls in der letzten Woche auf die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland hingewiesen und sei es durch irgendjemanden, der im falschen Moment auf den falschen Knopf drückt ( so sinngemäß Volker Rühe). Siehe Flug MH 17.

Machen wir uns keine Illusionen. Die Zeche werden heute wie 1914 hier wie da diejenigen Menschen zahlen, die ohnehin wenig oder gar nichts haben. Die Zahlen, die uns suggerieren der wirtschaftliche Schaden der Sanktionen sei für Russland so unendlich viel größer als für die EU oder die USA sind bewusst manipuliert. Als ließe sich für den Westen der Schaden bis auf die zweite Kommastelle genau berechnen, versprechen die westlichen Machteliten dieser Handelskrieg sei kalkulierbar. Das mag für die andere Seite des Atlantiks gelten, für Europa sind diese Zahlen schön gerechnet! Wieder einmal spielen die Mainstream-Medien von ARD und ZDF bis zu SPIEGEL und FOCUS da eine fragwürdige Rolle. Auch das weckt Erinnerungen an 1914.

Die „Grande Nation“ z.B. ist so klamm, dass sie ihre Rüstungsdeals (Flugzeugträger für die Schwarzmeerflotte, ausgerechnet!) mit Russland extra aus den Sanktionen herausnehmen ließ. Die EU und insbesondere der Euroraum steckt nach wie vor in einer Rezession und ihr droht nach japanischem Vorbild eine lange Phase der Deflation. Selbst das vordergründig so kraftstrotzende Deutschland wird das alles nicht so einfach wegstecken. Zumal niemand die vielen Milliarden mit eingerechnet hat, die als Solidaritätsbeitrag für noch härter betroffene Mitglieder im Osten der EU fällig werden. Was die Energieversorgung anbetrifft mag ja sein das wir nur zu 30% von russischen Gaslieferungen abhängig sind, aber in den Führungsetagen der Fracking Befürworter und Braunkohleriesen dürften bald die Champagnerkorken knallen. Für andere EU-Mitglieder wird schon der nächste Winter weniger komfortabel. Aber was ist mit der viel wichtigeren sicheren Ölversorgung. Lybien und der Irak stehen in Flammen, mit dem Iran machen wir keine Geschäfte, Nigeria versinkt im Chaos. Bleiben die Autokraten am Golf. Der Stoff wird knapp. Mal sehen wo der Preis für das Barrel in vier Wochen liegt, mit allen Folgen für die ohnehin bescheidenen Wachstumsprognosen in der Gesamt-EU. Und was hilft auf der anderen Seite eine durch harte Sanktionen tief verletztes und verunsichertes Russland als Partner in der internationalen Politik?

Das Narrenschiff ist unterwegs und lässt uns ratlos staunend und fragend am Ufer zurück:

  • Wie konnte ein Haufen autistischer und geschichtsvergessener Dilettanten in Berlin und Brüssel glauben eine Krim mittelfristig als Teil der EU und langfristig als Teil der Nato würde man in Moskau akzeptieren, nachdem man alle Zusagen die NATO-Grenzen nicht bis direkt an die russischen Grenze auszuweiten nicht eingehalten hat? Und dies gilt nicht nur für die politische russische Elite sondern für fast das gesamte russische Volk. Nato-Panzer quasi in Schussweite der russischen Marinebasis in Sewastopol? Die umwerfendste und wenn man so will auch schockierendste Aussage in diesem Zusammengang stammt übrigens vom unserem Außenminister Herrn Dr. Steinmeier, der sinngemäß sagte: „Ja wenn wir das alles vorher gewusst hätten, dann …“. Wie gesagt geschichtsvergessen und autistisch, noch so ein Begriff aus dem Topos Wahnsinn im Foucault‘schen Sinne, der übrigens gelernter klinischer Psychologe war .
  • Wie konnte diese alte bipolare Welt wiedererstehen, in der ein Land wie die Ukraine zerrissen wird und einen blutigen Stellvertreterkrieg zweier politischer Machtblöcke aus- und ertragen muss?

  • Was machen demnächst niederländische NATO-Truppen in der Ost-Ukraine, wie jetzt mit der ukrainischen Regierung verhandelt . Ich weiß, sie sollen die Untersuchungskommission zum Absturz von MH 17 schützen. Aber was passiert, wenn sie zwischen die Fronten geraten, jemand versehentlich auf dem Abzug drückt und NATO-Soldaten sterben (siehe oben). Tritt dann der vielzitierte Bündnisfall ein? Stehen deutsche Soldaten dann wieder am Don?

Hat jemand Antworten für mich? Wenigstens einige? Wie 1914 wird auch 2014 ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Und dabei habe ich ein ganz b***s Gefühl.

Anmerkungen zu Exkurs:

1) „Ein vorred in das narren schyff“, V. 8–11. Digital hier. Zitat auf Neuhochdeutsch: „Ja wird alle Schrift und Lehre verachtet; [dann] lebt die ganze Welt in finsterer Nacht; Und tut in Sünden blind verharren; Alle Straßen, Gassen sind voller Narren.“ 2) Ergänzung von mir. 3) Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft- Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Kapitel 1: Stultifera Navis, Suhrkamp, Ffm, 1973. Da ich keine deutsche Ausgabe dieses Buches besitze, werde ich die deutsche Originalübersetzung des Zitats schnellstmöglich nachliefern. Eine eigene traue ich mir bei Foucault leider nicht zu.


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