Gefahrengebiet


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In der Auseinandersetzung mit Hamburgs linksautonomer Szene erklärte Hamburgs Polizei Teile der Stadt zum Gefahrengebiet – was ihr besondere Kontrollrechte verschafft. Zwar ist das bislang größte Gefahrengebiet wieder aufgehoben, allerdings bleibt das Instrument grundsätzlich umstritten. Von Alexander Wragge

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Was bisher geschah

Kurz vor Weihnachten 2013 demonstrieren in Hamburg tausende Menschen für den Erhalt des linksalternativen Kulturzentrums "Rote Flora“ im Schanzenviertel. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen werden nach Angaben der Beteiligten 120 Polizisten und 500 Demonstranten verletzt...

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Eine Woche später bewerfen Unbekannte nach Polizeiangaben die Dienststelle Davidwache mit Steinen. Umstritten bleibt allerdings, ob der Angriff am 28.Dezember so abläuft, wie von der Polizei dargestellt – etwa ob hierbei ein Beamter schwer verletzt wird. Polizeipräsident Wolfgang Kopitzsch zeigt sich entsetzt: "Derart zielgerichtete und massive Übergriffe auf Polizeibeamte sind unerträglich.“ Eine „Militarisierung der linksextremistischen Szene“ beobachtet der CDU-Innenexperte Kai Voet van Vormizeele.

Als Reaktion auf die Vorfälle stuft die Polizei am 4. Januar ein Areal in den Bezirken St. Pauli, Altona und Sternschanze als Gefahrengebiet ein. Die Initiative hierzu ergreift die Polizei "ohne politischen Auftrag", wie Innensenator Michael Neumann (SPD) später erklärt. Er habe die Maßnahme allerdings für richtig befunden. Bürgermeister Olaf Scholz habe bei der Entscheidung keine Rolle gespielt.

In der Zone mit rund 50.000 Einwohnern darf die Polizei fortan Passanten ohne Verdacht überprüfen. Nach Polizeiangaben finden Beamte bei den fast 1.000 durchgeführten Kontrollen verbotene Gegenstände wie Feuerwerkskörper und Schlagwerkzeuge. Sie sprechen 195 Aufenthaltsverbote und 14 Platzverweise aus. Außerdem gab es 66 Ingewahrsamnahmen und 5 Festnahmen.

Die ARD zeigt einen Einsatz, bei dem Polizisten einem Mann eine Klobürste abnehmen. Die Klobürste wird daraufhin zum Symbol des Protests. Gegen das Gefahrengebiet gibt es zahlreiche Aktionen, darunter eine Kissenschlacht auf der Reeperbahn.

Nach einer zwischenzeitlichen Verkleinerung hebt die Hamburger Polizei das Gefahrengebiet am 13. Januar wieder auf. Trotzdem rufen rund 50 Initiativen, Verbände und Parteiorganisationen dazu auf, am 18. Januar gegen die Einrichtung von Gefahrengebieten zu demonstrieren. Das Motto: "Ausnahmezustand stoppen! Politische Konflikte politisch lösen!". Die Demonstration mit laut Polizei rund 3.200 Teilnehmern verläuft friedlich.

Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar will prüfen, ob die Festlegung des Gefahrengebiets datenschutzrechtlich zulässig war. Im Fokus stehen die Lageerkenntnisse der Polizei, mit denen sie die Sonderzone begründet hat. "Es handelt sich bei derartigen Maßnahmen um schwerwiegende polizeiliche Eingriffe, da die Polizei in den Gefahrengebieten ermächtigt ist, die sich darin aufhaltenden Personen weitgehend verdachtsunabhängig zu kontrollieren", so Caspar.

Die Sonderkommission "Davidwache" des Landeskriminalamts soll die umstrittenen Angriffe auf Polizisten am 28.Dezember untersuchen, die ausschlaggebend für die Einrichtung des Gefahrengebiets waren. Einige Zeugen behaupten, es habe keine Stein- und Flaschenwürfe auf die Davidwache gegeben. [weniger anzeigen]


Was ist ein Gefahrengebiet?

In einem Gefahrengebiet darf die Hamburger Polizei ohne konkreten Verdacht Identitätskontrollen durchführen. Einzigartig ist die Größe der jüngsten Hamburger Sonderzone.

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2005 führte der damalige Hamburger CDU-Senat das Instrument der Gefahrengebiete vor allem mit der Zielsetzung ein, die offene Drogenszene zu bekämpfen. Die Regelung im Hamburger Polizeirecht (PolDVG, § 4 Absatz 2 Satz 1) lautet: „Die Polizei darf im öffentlichen Raum in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.“

Eine richterliche Erlaubnis braucht die Polizei nicht, um ein Gefahrengebiet zu bestimmen. Die Einstufung ist eine Art innerbehördliche Weisung an die Beamten, über die man die Öffentlichkeit – ohne hierzu verpflichtet zu sein - informiert. Im aktuellen Fall ging die Maßnahme initial von der Polizeiführung aus, nicht vom Senat. Nicht geregelt ist, wie groß oder dauerhaft ein Gefahrengebiet sein darf. Allerdings muss die Einstufung dem Grundprinzip des Polizeirechts folgen und „verhätnismäßig“ sein. Platzverweise und Aufenthaltsverbote haben juristisch nicht direkt mit dem Gefahrengebiet zu tun, sondern sind durch andere Vorschriften im Polizeirecht legitimiert. Allerdings kann die Polizei dank der erweiterten Kontrollerechte und -maßnahmen im Gefahrengebiet mögliche Gründe für einen Platzverweis oder und ein Aufenthaltsverbot besser ausmachen.

Mehr als 40 Mal stellte die Hamburger Polizei bislang ein Gefahrengebiet fest, und zwar größtenteils nur für wenige Stunden, etwa im Kontext eines Fussballspiels, aber auch dauerhaft, etwa in der Nähe des Hauptbahnhofs und der Reeperbahn. Die Hamburger Linksfraktion hat vorübergehende und dauerhafte Gefahrengebiete visualisiert. Das jüngste Gefahrengebiet war von der Fläche her das bislang größte.

Gefahrengebiet-Einsätze stehen immer wieder in der Kritik. 2011 klagte dagegen eine Hamburgerin. Sie konnte ihre Wohnung nicht erreichen, wurde von der Polizei kontrolliert und vorübergehend in Gewahrsam genommen, als am 1. Mai 2011 das Schanzenviertel zum Gefahrengebiet erklärt wurde. Ihr Anwalt Carsten Gericke argumentiert, der Hamburger Paragraph zu den Gefahrengebieten missachte Grundrechte. Das Hamburger Verwaltunsggericht wies die Klage 2012 allerdings ab. Werde die Regelung strikt eingehalten und nicht "unverhältnismäßig" angewandt, sei sie verfassungskonform. Der Fall liegt nun beim Oberverwaltungsgericht.

Ähnliche Vorschriften wie Hamburg haben Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. In Berlin gibt es mehr als 20 „kriminalitätsbelastete Orte“ wie Parks und U-Bahnhöfe, an denen die Polizei verdachtsunabhängig kontrollieren darf. Allerings bleibt die Liste der Orte unter Verschluss, weshalb die Piratenpartei mehr Transparenz fordert. Hamburgs Vorgehen ist insofern einzigartig in Deutschland, als dass hier ganze Stadtteile zum Gefahrengebiet erklärt wurden. [weniger anzeigen]


Was sagen die Parteien in Punkto Gefahrengebiet?

Bewährtes Instrument oder Grundrechtsverstoß? Hamburgs Parteien streiten um die Zukunft der Gefahrengebiete.

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Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) verteidigt die Einrichtung von Gefahrengebieten. „Das Instrument hat sich bewährt und wird sich weiter bewähren“, so Scholz mit Blick auf den aktuellen Einsatz im Januar. Die Kontrollen, bei denen man verbotene Gegenstände fand, hätten die Maßnahme bestätigt. Viele Bewohner hätten sich aufgrund der Maßnahme sicherer gefühlt. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Polizeigesetzes habe er nicht.

Hamburgs CDU unterstützt prinzipiell die Einrichtung von Gefahrengebieten. Der CDU-Innenpolitiker Kai Voet van Vormizeele wirft allerdings Innensenator Michael Neumann (SPD) vor, im aktuellen Fall keine Linie in seinen Entscheidungen gehabt zu haben. Der Senator habe sich für die Einrichtung des Gefahrengebiets starkgemacht und weiche jetzt der öffentlichen Kritik. Die Hamburger CDU ruft zudem zu einer Solidaritäts-Aktion mit der Polizei auf.

Hamburgs Grüne wollen die Gefahrengebiete aus dem Hamburger Polizeirecht streichen. „Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Gefahrengebiete eine unverhältnismäßige und untauglich Maßnahme sind“, so Fraktionschef Jens Kerstan.

Auch die Linkspartei und die Piratenpartei Hamburg fordern, alle bestehenden Gefahrengebiete abzuschaffen. Diese seien ein „nicht hinzunehmender Eingriff in die Grundrechte der Bürger“, so der Landesvorsitzende der Piraten, Sebastian Seeger. Die Hamburger Linksfraktion hat ein Gutachten zur Regelung der Gefahrengebiete in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: "Die Norm ist wohl verfassungswidrig und müsste sonach für nichtig erklärt werden."

Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit Vertretern der Links- und der Piratenpartei nannte die FDP-Landesvorsitzende Sylvia Canel die Gefahrengebiete ein "unangemessenes Muskelspiel". Das wurde parteintern als falsches Signal kritisert. FDP-Fraktionschefin Katja Suding sagte "Wir begrüßen es, dass das Gefahrengebiet abgeschafft worden ist. Gleichzeitig solidarisieren wir uns stark mit den verletzten Polizeibeamten." Der FDP-Innenpolitiker Carl Edgar Jarchow forderte Aufklärung darüber, wer die Gefahrenzone angeordnet hat, und inwieweit Innensenator Naumann in die Entscheidung eingebunden war. Künftig müssten laut Jarchow bei dieser "rechtsstaatlich höchst sensiblen" Maßnahme drei Dinge eindeutig geklärt sein: "Die direkte Einbindung des Senats, die möglichst regionale Begrenzung auf Straßenzüge und die parlamentarische Kontrolle". [weniger anzeigen]


Was denken die Hamburger?

58 Prozent der Hamburger haben das jüngste Gefahrengebiet befürwortet. 40 Prozent fanden es "übertrieben". Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des NDR.

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Die Meinungen unterscheiden sich nach politischer Ausrichtung. 76 Prozent der CDU-Anhänger waren mit dem Gefahrengebiet einverstanden. Auch 63 Prozent der SPD- und 56 Prozent der FDP-Wähler und knapp ein Drittel der Grünen-Anhänger fanden es richtig. 82 Prozent der Linken-Anhänger lehnten es ab. [weniger anzeigen]

Was sagt die Polizeigewerkschaft?

Die Hamburger Polizeigewerkschaft stellt zur Diskussion, Gefahrengebiete häufiger einzurichten. Ein Aktionsplan soll die Beamten besser vor linksextremer Gewalt schützen. Eine Option: Elektroschockpistolen.

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Die Hamburger Polizeigewerkschaft hat sich bei SPD-Bürgermeister Olaf Scholz unmittelbar vor der Einrichtung der aktuellen Gefahrenzone für eben dieses Instrument stark gemacht. „Um die polizeiliche Lage beherrschbarer zu machen, gilt es aus unserer Sicht darüber nachzudenken, häufiger davon Gebrauch zu machen, Gefahrengebiete einzurichten“, heißt es in einem Forderungskatalog vom 2. Januar 2014.

Auch regt die Gewerkschaft darin Ausstiegsprogramme für "linksextremistische Gewalttäter" an, sowie eine Diskussion über eine "flächendeckende Einführung" von Elektroschockpistolen. Mit der Rechtssprechung zeigt sich die Gewerkschaft offenbar unzufrieden. „Es muss daraufhin gewirkt werden, ohne die Unabhängigkeit der Richter in Frage zu stellen, dass Gerichte derart brutale und gewaltorientierte Straftäter im oberen Bereich der Strafandrohung aburteilen.“

Joachim Lenders, Landeschef der Hamburger Polizeigewerkschaft, hielt die jüngste Gefahrenzone für angebracht. Es sei nicht um ein „Muskelspiel“ gegangen, so Lenders in einem Streitgespräch in der Hamburger Morgenpost. „Der Polizei wurde durch die Ausweisung des Gefahrengebiets vernünftiges Handwerkszeug an die Hand gegeben. Wir haben so viel mehr Kontrollmöglichkeiten.“ Man habe Pyrotechnik und Skimasken gefunden, Platzverweise und Aufenthaltsverbote erteilt. „Das alles wäre in dieser Konzentration ohne Einrichtung eines Gefahrengebietes nicht möglich gewesen.“ Lenders meint, die Maßnahme habe auch im Interesse der Bewohner gelegen. „Auch diese Leute wollen in Frieden leben, ohne Angst, ohne Sachbeschädigung und Gewalt. Die wollen keine Schneise der Verwüstung durch ihr Wohnviertel.“ [weniger anzeigen]


Was will das Netzwerk „Recht auf Stadt“?

Zahlreiche gentrifizierungskritische Initiativen und Projekte haben sich im Netzwerk „Recht auf Stadt“ (RaS) organisiert. Sie kritisieren, die Hamburger Regelung der Gefahrengebiete sei Grundlage für „drastische Eingriffe in elementare Grundrechte“.

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Dazu zählt das Netzwerk das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und das Grundrecht der Bewegungsfreiheit. In einem Protestaufruf (12.Januar 2014) kritisiert RaS die „drastischen Folgen“ des jüngsten Gefahrengebiets für die Anwohner. „Sie sehen sich ständig der Gefahr einer polizeilichen Kontrolle ausgesetzt, überlegen, was sie wohl anziehen könnten um nicht aufzufallen oder unterlassen 'unnötige' Aufenthalte im öffentlichen Raum - ein unhaltbarer Zustand“. Außerdem habe die Polizei die Ereignisse an der Davidwache am 28. Dezember falsch dargestellt, und damit zur „Verschärfung des politischen Klimas in der Stadt“ beigetragen.

Grundsätzlich wehrt sich RaS dagegen, politische Konflikte in Hamburg „mit Mitteln des Repressionsapparates in ein Kriminalitätsproblem umzudeuten, das sich mit polizeilichen Mitteln lösen ließe“. Hierzu zählt das Netzwerk die Flüchtlingspolitik und die Wohnungspolitik, sowie die Fragen der autonomen Freiräume, der Grund- und der Freiheitsrechte.

Nach eigenen Angaben besteht das RaS aus 56 Initiativen, die sich für bezahlbaren Wohnraum, nichtkommerzielle Freiräume, die Vergesellschaftung von Immobilien, eine neue demokratische Stadtplanung und die Erhaltung von öffentlichen Grünflächen einsetzen. Außerdem wende man sich gegen Gentrifizierung, Repression und neoliberale Stadtentwicklung. Zum Netzwerk zählen beispielsweise die Initiativen „Kein Ikea in Altona“ und das autonom besetzte Kulturzentrum „Rote Flora“, dessen ungewisse Zukunft immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen ist.

Unter dem Motto „Recht auf Stadt“ haben sich weltweit Protestbewegungen zusammengetan, etwa in Istanbul, New Orleans und Madrid. Es geht auf den französischen Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre zurück, der 1968 die kollektive Wiederaneignung des städtischen Raums durch an den Rand gedrängte Gruppen forderte. [weniger anzeigen]


Zuletzt aktualisiert im Januar 2014