Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft - Historie

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  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Community Management , angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC Zero Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC Zero Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Das fragt Martin Walter auf ARD.de. Sein Text steht nun hier auf Publixphere zur Diskussion. Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Community Management , angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC ZeroDas Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Das fragt Martin Walter auf ARD.de. Sein Text steht nun hier auf Publixphere zur Diskussion. Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von admin, angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC ZeroDas Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Das fragt Martin Walter auf ARD.de. Sein Text steht nun hier auf Publixphere zur Diskussion. Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Redaktion, angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC ZeroDas Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Das fragt Martin Walter auf ARD.de. Sein Text steht nun hier auf Publixphere zur zu Diskussion. Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Redaktion, angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC ZeroDas Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Das fragt Martin Walter auf ARD.de. Sein Text steht nun hier auf Publixphere zu Diskussion. Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Redaktion, angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC Zero Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC Zero Link: https://publixphere-cms.liqd.net/de/bilder/ard.bmp/@@images/image.bmp Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.

  • Kommentarkultur im Internet: Die Hassgesellschaft

    von Redaktion, angelegt

    Foto: Rayi Christian Wicaksono, CC Zero Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Foto: Rayi Christian Wicaksono (CC0).


    Ein Beitrag von Martin Walter, ARD.de

    Von Toleranz ist in vielen Foren und Netzwerken wenig zu spüren, der Umgangston ist oft rau. Wie "Triebtäter" trampeln sogenannte Trolle durchs Netz und vergiften mit ihrem Spam die Online-Diskussionen. Woher rührt der wüste Umgang? Und welche Wirkung geht von den Hass-Kommentaren aus? Eine Bestandsaufnahme.

    Wüste Beleidigungen, niveaulose Beschimpfungen, Drohungen im Internet: Stefan Kießling könnte ein trauriges Lied davon singen. Doch der Bundesliga-Stürmer aus Leverkusen hat keine Lust mehr. Er hat die Nase gestrichen voll, hat genug geredet, will abschließen. Verständlicherweise.

    Nach seinem Phantomtor im Oktober 2013 quillt Kießlings Facebook-Seite über vor Kommentaren. Der Stürmer hatte ein Tor erzielt, das keines war, aber dennoch zählte. Ein Kuriosum. Dem gebürtigen Franken schlägt daraufhin auf der eigenen Fanpage der blanke Hass entgegen. Ohne echte Mitschuld geraten er und seine Familie ins Zentrum eines Shitstorms, werden in aller Öffentlichkeit zur Zielscheibe übler Verbaltiefschläge. Der heute 30-Jährige zieht die Notbremse, zum Selbstschutz nimmt er die Seite vorübergehend offline.

    Provokation als Vollzeitjob

    Kießling kapituliert vor dem Pöbel-Terror und wird so zum prominenten Opfer einer wüsten Kommentarkultur, die in vielen Bereichen des Internets entstanden ist. Ob in Foren, Kommentarspalten oder Sozialen Netzwerken: Es wird provoziert und beleidigt, angeraunzt und angepampt, geschimpft und gezetert.

    "Provozieren, das ist wie ein Orgasmus", gestand unlängst ein Vielkommentierer gegenüber der FAZ. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche. Für Nutzer wie ihn hat sich der Begriff "Troll" etabliert. Kommentatoren, die keine Diskussion wollen, sondern auf Streit aus sind, destruktiv und zerstörend. Und damit oft genug eine Debatte an sich reißen und ersticken. "Sadismus, Psychopathie und Narzissmus" kennzeichnen laut einer Online-Studie aus Kanada den typischen Troll. Das Motiv? "Trolls just want to have fun", beschreibt es die Untersuchung - und das Internet ist der Spielplatz.

    Nicht allein Einzelpersonen, auch Unternehmen und die Medien geraten in ihr Visier. "Systempresse", "Kriegstreiber" oder "GEZ-Mafia" sind dutzendfach unter geteilten Links und Artikeln zu lesen. Beschimpfungen, die noch zur harmloseren Sorte gehören. Trolle legen gefälschte Nutzerkonten, sogenannte Fake-Accounts, an, rotten sich in Foren zusammen und überfluten gezielt komplette Social-Media-Auftritte mit ihrem Spam.

    Antisemitismus und Verschwörungstheorien

    Beliebte Reizthemen sind Antisemitismus, Homophobie oder Feminismus, auch krude Verschwörungstheorien genießen Hochkonjunktur im Netz. Nach dem Tod von Robin Williams spammte ein einzelner Troll in kürzester Zeit mehr als 50 unappetitliche, teils antisemitische Kommentare unter eine Meldung bei Zeit Online - ungeachtet der Tatsache, dass Williams selbst gar kein Jude war.

    Die Seitenbetreiber stehen dem Problem oft ratlos gegenüber. Während sich die einen tapfer durch die Kommentarflut wühlen und Ausreißer sperren, überlassen andere die Diskussionen ihrem Schicksal oder schränken die Kommentarfunktion ein.

    Einige gehen selbst in die Offensive. Unter dem Motto "Wider den rauen Ton im Netz" warb das Handelsblatt Anfang Oktober 2014 mit einer Aktionswoche für eine bessere Debattenkultur. "Nicht wie Triebtäter durchs Netz trampeln", appellierte Online-Chefredakteur Oliver Stock zum Auftakt an die Trolle. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch am anderen Ende der Internetleitung sitzt ein Mensch, der die unflätige Kommentarflut verarbeiten muss.

    Ein Erklärungsansatz für den verrohten Ton scheint auf der Hand zu liegen: Anonymität. "Computerbasierte Kommunikation bietet generell die Möglichkeit zu anonymerem Verhalten," sagt Christiane Eichenberg, Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Dies führe zu zweierlei Tendenzen: "Zum einen fühlen Nutzer sich freier und sind emotional ehrlicher, zum anderen verhalten sie sich rauer", so Eichenberg.

    Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten "Disinhibition Effect" nach Suler, zu deutsch so etwas wie ein "Online-Enthemmungseffekt". Ohne soziale Kontrollinstanz fällt es vielen Menschen im Internet schwer, ihre Impulse zu zügeln. Ein Phänomen, das sich nicht auf junge Menschen beschränkt - und keine neue Erscheinung ist. "Schon in den 1990er-Jahren gab es den Begriff des 'Flaming', der asoziales Verhalten im Netz charakterisiert", so Eichenberg.

    Thilo Sarrazin, der Offline-Troll

    "Ich glaube, dass im Netz etwas aufscheint, was offline schon zu einem großen Problem geworden ist: Es gibt keine richtige Diskussionskultur in diesem Land", meint Dirk von Gehlen, Leiter Social Media bei der Süddeutschen Zeitung. Das Verhalten der Online-Trolle auf den Webseiten großer Medien vergleicht er mit dem provokanten Auftreten von Thilo Sarrazin in der realen Welt. Folgt man dieser Betrachtungsweise spiegelt die Kommentarkultur im Netz eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

    Dabei könnte es so schön sein. Das Internet als Raum, wo sich Kommunikation und Diskurse demokratisieren und neu erblühen - ein ausgeträumter Traum? Die Realität sieht vielfach anders aus. Dennoch glaubt Prof. Dr. Eichenberg an die Selbstregulierung vieler Foren und Communitys, indem Spammer ausgeschlossen werden und adäquaten Beiträgen Gehör verschafft wird.

    "Don't feed the trolls" ("Trolle niemals füttern") gilt längst als goldene Regel für den Umgang mit den Störenfrieden. Allen anderen Nutzern rät Prof. Dr. Eichenberg zum Ignorieren: "Sich nicht verstricken lassen, aus der Diskussion aussteigen und selbst in dem Sinne ein Vorbild sein, dass es im Netz - wie im 'real life' - soziale Regeln und Normen gibt." Im Internet heißen sie "Netiquette". Zu finden sind diese Umgangsregeln auf den Social-Media-Seiten fast aller Medien, auch beim Facebook-Auftritt von ARD.de.

    "Wir schicken den Scheiß zurück"

    Längst treibt der Umgang mit dem Hass aber auch kreative Blüten. Für die YouTube-Reihe Disslike lesen Prominente wie Gregor Gysi oder Jan Böhmermann vor der Kamera abfällige Kommentare über sich selbst vor und erhalten die Möglichkeit, direkt darauf einzugehen. Ein unterhaltsamer Weg, den oft beleidigenden Aussagen die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

    Den gleichen Ansatz verfolgen die Macher der Satireshow "Hate Poetry". Seit 2012 geben Journalisten mit Migrationshintergrund auf der Bühne statt selbst geschriebener Poesie rassistische Leserpost zum Besten, die sie erhalten haben. "Wir sagen immer, wir schicken den Scheiß zurück in die Umlaufbahn. Sonst sind wir damit alleine, und dann tut das weh", erklärt Zeit-Journalist Yassin Musharbash den reinigenden Charakter.

    Auch Stefan Kießling hat genug von all den Beschimpfungen. Seine Fanpage bei Facebook hat er vor wenigen Wochen endgültig abgemeldet, die Kontaktseite auf seiner Homepage läuft ins Leere. Interviewanfragen zum Thema lehnt er ab. Während die "virtuellen" Pöbler weiterziehen, lassen ihre verletzenden Kommentare "reale" Menschen mit Narben zurück. Um Hatern und Trollen nicht das Feld zu überlassen, bedarf es - wie im echten Leben - der Zivilcourage und Einmischung der anderen Nutzer - auch im Sinne einer konstruktiven Kommentarkultur.


    Der Text dieses Beitrags steht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Quellen: Christiane Eichenberg, Yassin Musharbash, Dirk von Gehlen, Martin Walter. Der Text ist zunächst am 16. November 2014 auf ARD.de erschienen.