Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (l) hat mit Vizepräsident Frans Timmermans (r) einen mächtigen "Bürokratie-Abbauer" in seinem Team installiert, und zugleich auf einen eigenen Umweltkommissar verzichtet. Das weckt bei Umweltschützern Misstrauen. Foto: EU-Kommission.
Umweltverbände und Umweltpolitiker sind aktuell in Unruhe: Wie grün und nachhaltig wird die Politik der neuen EU-Kommission? Blockiert die "Nummer 2" hinter Kommissionschef Jean-Claude Juncker neue Umweltschutz-Initiativen im Namen des Bürokratieabbaus? Claus Mayr vom Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU) stellt seine Einschätzung zur Diskussion.
Ein Beitrag von Claus Mayr
Hinweis: Dieser Text erschien zunächst im Magazin "umwelt aktuell" des Deutschen Naturschutzrings (DNR), Ausgabe 12/2014. Einmal im Monat schreibt Mayr eine Brüssel-Kolumne für das Magazin Naturschutz und Landschaftsplanung (auch online verfügbar).
Die Vorgeschichte: Deregulierungs-Tendenzen in der EU
Die Sagen und Mythen über die „Brüsseler Bürokratie“ sind legendär, und sie werden von Politikerinnen und Politikern ebenso wie von Journalistinnen und Journalisten immer wieder gerne zitiert, wenn man den Beamten der EU-Kommission mal kräftig vors Schienbein treten oder vom eigenen Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament oder im Ministerrat ablenken will.
Etwa die Geschichte der seit vielen Jahren – übrigens gegen die Widerstände des Handels und einiger Mitgliedstaaten – abgeschafften Gurkenkrümmungsverordnung. Die EU hat diese seinerzeit einer alten preußischen Verordnung nachempfunden, mit der die Spreewaldbauern im Interesse der Verbraucher zum Verkauf immer gleich gut gefüllte Gurkenkisten auf die Berliner Märkte bringen sollten – denn von den krummen Gurken passten weniger in die Kiste, der Preis wurde aber pro Kiste berechnet. Die Idee der alten Preußen wurde von der UN-Kommission zur Förderung der Wirtschaft in Europa (ECE) übernommen, und schließlich auch von der Europäischen Gemeinschaft.
Oder die Verordnung (EG) Nr. 509/2006 (aktualisiert 2008) mit Bestimmungen zur Herstellung „traditioneller Spezialitäten“, etwa der echten „Pizza Napolitana“, der „Kracher“ vom Europawahlkampf David McAllisters, bis hin zu Edmund Stoi-bers Vorstellung des Abschlussberichtes seiner Expertengruppe zum Bürokratieabbau im Oktober.
Verschwiegen wird dabei regelmäßig gerne, weshalb ein solcher Vorschlag, in diesem Fall unter anderem der napolitanischen Pizzabäcker, der seinerzeit bei Silvio Berlusconi Gehör fand, im Ministerrat angenommen wurde: weil eben jeder Minister auf Druck seiner Interessenverbände die typischen regionalen Produkte seines Landes schützen will. Die Einwegolivenölkännchen, der „Brüsselbashing-Schlager“ im Sommerloch 2013, hatten keine Chance: Der Verordnungsentwurf, der übrigens auf den früheren spanischen Landwirtschaftsminister Miguel Arias Cañete (2000–2004, und ab 2011) zurückgeht, wurde von der EU-Kommission nach massiven Protesten zurückgezogen.
Das Thema Deregulierung prägt also seit Jahren die politische Agenda. Ausflüsse waren bereits in der Barroso-Kommission die Arbeit der 2007 eingesetzten Stoiber- Gruppe und das im Dezember 2012 vorgestellte „Regulatory Fitness and Performance Programme“ (REFIT). Vor den Europawahlen im Mai hatten daher die großen Parteien und ihre Spitzenkandidaten, Jean-Claude Juncker für die Konservativen und Martin Schulz für die Sozialdemokraten, nicht nur mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Engagement für den Klimaschutz versprochen. Die EU sollte sich in Zukunft um die „großen Dinge“ kümmern, und nicht mehr die Details regeln.
Im Sommer haben die Staats- und Regierungschefs Jean-Claude Juncker ihren Segen zur Konstituierung der künftigen EU-Kommission gegeben. Ebenso eine Mehrheit von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im Europäischen Parlament, nachdem Juncker in den Fraktionen befragt worden war und im Plenum seine Ideen für einen „Neustart für Europa“ vorgestellt hatte. Sein Versprechen an das Parlament, wie Juncker es nannte, wurde selbst von den Grünen in höchsten Tönen gelobt. Und in der Tat, seine Agenda für „Arbeitsplätze, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel“ benannte unter anderem die Knappheit der natürlichen Ressourcen, Lebensmittelsicherheit und den Einfluss des Klimawandels als wichtige Themen für die EU.
Mehr Transparenz versprochen
Juncker forderte auch ambitionierte, bindende Ziele für die Klima- und Energiepolitik nach 2020, insbesondere müssten die Energieeffizienz und der Ausbau der erneuerbaren Energien signifikant gesteigert werden. Nicht zuletzt in Bezug auf das geplante Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) und der Diskussion über die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen kündigte Juncker mehr Demokratie und Transparenz an. Lediglich an einer Stelle hinsichtlich eines neuen Anschubes für Arbeitsplätze, Wachstum und Investitionen sprach er sich für den Abbau bürokratischer Hürden für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) aus, und dass er in der künftigen Kommission einen seiner Vizepräsidenten mit dieser Aufgabe betrauen will. Umso größer die Überraschung, auch bei langjährigen EU-Insidern, als Juncker nach den Gesprächen mit den von den Mitgliedstaaten benannten Anwärterinnen und Anwärtern für die Kommissarsposten im September offiziell sein Team und seine sehr detaillierten Arbeitsaufträge („Mission Letters“) an die designierten Kommissarinnen und Kommissare vorstellte.
Junckers Überraschungspaket
Eine wesentliche Änderung ist die völlig neue Struktur, die Juncker vorgeschlagen hat. Die 27 Kommissarinnen und Kommissare sind nicht mehr gleichberechtigt und entscheiden mit dem Kommissionspräsidenten gemeinsam als Kollegialorgan, etwa über einen neuen Richtlinienvorschlag. Um die Kommission „politischer“ zu machen, hat Juncker hier eine Zwischenebene von sechs Vizepräsidenten eingezogen, denen die „restlichen“ zwanzig Kommissare jeweils fachlich zugeordnet werden und die bereits über die weitere Behandlung eines Legislativvorschlages entscheiden können. Über diesen Vizepräsidenten steht der „Erste Vizepräsident“, der niederländische Juncker-Vertraute Frans Timmermans, der sogar ein Vetorecht gegenüber den von den Vizepräsidenten für gut befundenen Vorschlägen hat.
Für erhebliche Unruhe bei den Umweltverbänden, aber auch bei Umweltpolitikern, sorgte dabei vor allem die Tatsache, dass Timmermans Portfolio unter anderem den Bürokratieabbau als Schwerpunkt enthält. Allein schon aufgrund dieser Konstruktion könnte dies eine mögliche Blockade jeglicher neuer Initiativen für bessere Rechtsinstrumente zum Schutz der Umwelt bedeuten. Auch die von Juncker selbst im Europawahlkampf und in seinem Neustartpapier geforderte höhere Transparenz und Demokratisierung von EU-Entscheidungen sind in Gefahr: Vorschläge des Europäischen Parlamentes, also der Vertretung der Wählerinnen und Wähler unter den EU-Institutionen, etwa für neue Rechtsakte oder EU-Strategien wie das neue 7. Umweltaktionsprogramm (7. UAP), wurden bisher im Kollegialorgan der Kommissare weiter behandelt. In Zukunft könnten solche Initiativen schon auf Ebene der Vizepräsidenten, spätestens aber beim „Obervizepräsidenten“ Timmermans im Keim erstickt werden, bevor eine demokratische Diskussion überhaupt erst losgeht.
Bereits am 11. September protestierten daher die großen zehn europäischen Umweltverbände (Green 10), koordiniert von BirdLife Europa, dem Dachverband des NABU, in einem offenen Brief (Englisch) an Juncker gegen diese Pläne. Die Umweltverbände, die EU-weit immerhin über 20 Millionen Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer vertreten, kritisierten, dass die geplante Struktur der neuen Kommission, die Arbeitsaufträge an die einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Auswahl der Kommissarinnen und Kommissare eine massive Herabstufung des Klima- und Umweltschutzes sowie des Schutzes des europäischen Naturerbes darstellen.
EU-weit formiert sich Protest
Aufgrund des Drucks der Green 10, aber auch vieler Europaabgeordneter und des Parlamentspräsidenten Martin Schulz hat Juncker im November tatsächlich noch die Arbeitsaufträge von Timmermans, Karmenu Vella und Manuel Cañete nachgebessert. Bei Timmermans wurde die „horizontale Verantwortung für nachhaltige Entwicklung und die Kohärenz aller künftigen Vorschläge mit diesem in den EU-Verträgen und der Grundrechte- Charta verankerten Prinzip“ ergänzt, bei Vella und Cañete die entsprechende Zuarbeit zum Ersten Vizepräsidenten.
Zuvor waren weder das in den EU-Verträgen und in der Europa-2020-Strategie verankerte Grundprinzip der nachhaltigen Entwicklung noch das erst 2013 vom Europäischen Parlament und Ministerrat verabschiedete 7. Umweltaktionsprogramm (7. UAP) in den Ressortzuständigkeiten der geplanten Vizepräsidenten der Kommission oder im Arbeitsauftrag des designierten Umweltkommissars verankert gewesen. Durch die von Juncker geplante Zusammenlegung von Themen auf nur noch 20 Fachkommissare soll es nach über 25 Jahren erstmals keinen eigenständigen Umweltkommissar mehr geben.
Vella, der Nachfolger von Janez Potočnik, soll für Umwelt, Fischerei und marine Angelegenheiten zuständig sein. Auch das erst 2009 vom Parlament geforderte Amt einer Klimakommissarin, das nach dem peinlichen Auftritt der EU auf der internationalen Klimakonferenz in Kopenhagen durchgesetzt wurde, wird es nicht mehr geben. Stattdessen sollte auf Junckers Vorschlag Miguel Arias Cañete, den wir nicht nur als Verfechter der Olivenölkännchen kennen, Kommissar für Klima und Energie werden. Die Abgeordneten rangen Karmenu Vella ein klares Bekenntnis ab, sich vorrangig am 7. Umweltaktionsprogramm mit seinen Schwerpunkten wie bessere Umsetzung des vorhandenen Umweltrechtes, bessere Kontrolle der Umsetzung in den Mitgliedstaaten sowie Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Luftqualität und des Schutzes von Böden zu orientieren. Zudem verlangten die Abgeordneten, dass Kommissionspräsident Juncker das 7. UAP im Portfolio von Vella und das Nachhaltigkeitsprinzip im Arbeitsauftrag des designierten Vizepräsidenten Jyrki Katainen (Finnland) verankert, bevor das Parlament der neuen Kommission am 22. Oktober seine Zustimmung erteilen würde.
Kandidaten reagieren auf Kritik
Der besonders umstrittene Kandidat für das Amt des Klima- und Energiekommissars Cañete, gegen den in einer Onlinepetition über 550.000 Menschen protestiert hatten, stieß vor der Anhörung am 1. Oktober seine Anteile an Ölfirmen ab. Dies sowie seine Zusagen, sich engagiert für den Klimaschutz einzusetzen, genügte den Konservativen im Parlament, „ihren“ Kandidaten zu bestätigen, obwohl sich Cañete in der Anhörung unter anderem für Atomenergie und Fracking ausgesprochen hatte.
Mitte Oktober wurde bekannt, dass später zwar die neue slowenische Kandidatin Violeta Bulc im Verkehrsausschuss und der slowakische Kandidat Maroš Šefčovič wegen seiner neuen Zuständigkeit für die Energieunion im Industrie- und Umweltausschuss angehört werden sollen. Allerdings sei die Aufgabenteilung zwischen Šefčovič und dem inzwischen auch für das Thema Klima zuständigen designierten obersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, und Cañete ungeklärt. Auch zur vom EU-Parlament geforderten Verankerung der Nachhaltigkeit bei Timmermans und des 7. UAP bei Vella gab es keine schriftlichen Belege. Führende Sozialdemokraten versuchten die Verbände zu beruhigen, sie vertrauten darauf, dass Juncker und seine Kommissare die genannten Prinzipien und EU-Strategien auch ohne schriftliche Ergänzungen in den Portfolios beachten würden. Da Vertrauen gut ist, schriftliche Belege aber besser sind, appellierten die Green 10 noch einmal in einem offenen Brief an Juncker und Schulz sowie an die Vorsitzenden der beiden großen Fraktionen, die ungeklärten Punkte bis zur Bestätigung der künftigen Kommission am 22. Oktober nachzubessern.
Resultate und Ausblick
Bei seiner zweiten Anhörung wurde Maroš Šefčovič für sein neues Amt als Vizepräsident der EU-Kommission für die Energieunion bestätigt. Und das, obwohl er den Abgeordneten weder erklären konnte, was eigentlich die Ziele dieser Energieunion sein sollen, noch wie kommissionsintern die Zuständigkeiten zwischen Timmermans, ihm und Cañete aufgeteilt werden sollen, etwa bei den internationalen Klimaverhandlungen. Vellas Mandat wurde bis heute nicht von Juncker überarbeitet, es bleibt seine Zusage in der Anhörung, die Umsetzung des 7. UAP habe oberste Priorität für ihn. Der designierte oberste Vizepräsident der künftigen Kommission, Frans Timmermans, betonte in seiner Anhörung: „Better regulation is not deregulation and cannot be obtained at the expense of social nor environmental protection.“ (Bessere Rechtsetzung heißt nicht Deregulierung. Und sie kann weder auf Kosten sozialer Sicherheit noch des Umweltschutzes erreicht werden.)
Und Juncker? Er stellte in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 22. Oktober immerhin klar: „Ich habe ferner beschlossen, den Zuständigkeitsbereich von Frans Timmermans auszuweiten und ihm auch horizontal die Verantwortung für nachhaltige Entwicklung zu übertragen. Wie Sie wissen, ist die nachhaltige Entwicklung ein in den europäischen Verträgen verankerter Grundsatz (Artikel 3 EUV) und sollte damit von allen Organen bei all ihren Maßnahmen und Politiken berücksichtigt werden. Sie ist ebenfalls Teil der Charta der Grundrechte der EU, für die Frans die horizontale Zuständigkeit besitzt. Nachhaltigkeit und ökologische Belange sind unseren Bürgerinnen und Bürgern wichtig. Mit großen grünen Ressorts, die über hohe Budgets und knallharte Regulierungskompetenzen verfügen, besitzt die neue Kommission die Instrumente, um sich ihrer anzunehmen.“
In den kommenden fünf Jahren wird sich die neue EU-Kommission an diesen Versprechen messen lassen müssen. Ebenso das Europäische Parlament, das sich auf dieses Experiment mit Versprechen statt schriftlicher Zusagen eingelassen hat. Links und weitere Informationen.
Lese-Tipps:
- Kreiser, Konstantin (2014): Vom Green New Deal bis REFIT. Umwelt aktuell, Heft 10, S. 6–7
- Mayr, Claus (2014): Neue EU-Kommission vorgestellt – jetzt ist das Parlament gefragt! Naturschutz und Landschaftsplanung 46, Heft 10, S. 294.
- Mayr, Claus (2014): Tauziehen um die Juncker-Kommission: Parteienproporz vor Umweltschutz? Naturschutz und Landschaftsplanung 46, Heft 11, S. 326.