Das ganze Album vom Community-Abend in Berlin findet ihr hier. Foto: Mirko Lux
Stell dir vor, nur du kannst den Untergang der EU und der Eurozone noch aufhalten. Was würdest du tun? Das war die Ausgangsfrage unseres Community-Abends. Was dann geschah, liest du hier......
Ein Beitrag von Redaktion
In den kommenden Jahren zerfallen die Europäische Europäischen Union und die Eurozone. Zunächst setzen die Briten per Volksabstimmung ihren EU-Austritt durch. Zugleich entwickelt sich Ungarn zu einer anti-europäischen Autokratie – und fliegt raus. Griechenland muss doch noch den Euroraum verlassen, was Chaos auslöst – auf den Straßen Athens genauso wie an den Finanzmärkten.
Nationalisten machen europaweit Stimmung gegen Flüchltlinge, gegen die “Zwangsjacke” Euro und gegen das “bürokratische Monstrum” Brüssel. Südeuropäische Linke rebellieren gegen die Troika-Politik und die deutsche “Finanzdiktatur”. Nicht nur in Osteuropa, auch in Österreich und Frankreich erobern nationalistische Kräfte die Parlamente.
Die Reisefreiheit innerhalb der EU wird abgeschafft. Zwischen den EU-Staaten werden Zäune und Stacheldraht hochgezogen. Mit der Forderung, aus der EU und dem Euro auszutreten, gewinnt Marine Le Pen vom Front National die Präsidenschaftswahlen in Frankreich. Jean-Claude Juncker tritt als Kommissionschef zurück. Die EU und der Euro sind am Ende. In Brüssel gehen die Lichter aus.
Dieses fiktive Zukunftszenario stand am Anfang unseres unsere Community-Abends zum #EUremix in Berlin. Verbildlicht hatten wir den 'Untergang' Europas als Video-Collage aus Youtube-Schnipseln, unterlegt mit apokalyptischer Musik. Die TeilnehmerInnen standen nun vor der Aufgabe, diese experimentell entworfene Zukunft noch abzuwenden. Verteilt auf vier AktivistInnen-Teams hatten sie rund 40 Minuten Zeit, Gegenstrategien zu diskutieren – und noch wichtiger: eine konkrete Aktion zu erarbeiten. Was kam bei diesem Experiment heraus?...
Wie verhindern wir den Siegeszug der Nationalisten und Populisten?
Das war die Frage für Team Rot. Zunächst diskutierten die TeilnehmerInnen kontrovers: ist gegen anti-europäischen Populismus zu kämpfen oder für Europa? Wo liegen die systemischen Ursachen der EU- und Euro-Krise? Was würde die/der Einzelne tatsächlich tun, um Europa vor der Re-Nationalisierung “zu retten”? Wie populistisch sollten wir selbst als AktivistInnen vorgehen? Wo bleibt Raum für Differenzierungen? Ist es nicht eine viel zu grobe Vereinfachung, in den Kategorien Pro-Europa und Anti-Europa zu denken? Und hätte eine pro-europäische Pädagogik tatsächlich pädagogische Auflärung zur Folge, dass die Menschen die EU und die Eurozone wieder befürworten und das in unserem Sinne "Richtige" tun? Oder ist das eine anmaßende Illusion? Trotz aller Kontroverse – auf eine Aktion einigte sich das Team trotzdem.
Aktion: Ein Tag ohne EU
Die Aktions-Idee: Aktions-Idee des Teams: An einem Tag fallen alle europäischen Selbstverständlichkeiten weg. Keine Freiheit der Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und des Kapitals innerhalb der EU. Kein Erasmus. Kein Euro. Keine EU-Mittelvergabe. EU-Bürger müssen in ihre Heimatländer zurückkehren (Abschiebung). Sie dürfen nicht mehr andernorts in der EU leben und arbeiten. Die Idee dahinter: den Menschen rechtzeitig vor Augen führen, was das eigentlich bedeutet. bedeutet würde.
Ein weiterer Aktions-Vorschlag: die AktivistInnen geben öffentlichkeitswirksam ihre nationalen Pässe ab, um zu demonstrieren, wir weit sie für Europa zu gehen bereit sind.
Wie verhindern wir das Europa der Mauern und Zäune?
Dieser Aufgabe widmete sich Team Gelb. Als Grundproblem machte die Gruppe die aktuelle Verunsicherung in der Gesellschaft aus: die Sorge um die eigene (wirtschaftliche) Zukunft, um die eigene Sicherheit, die Angst vor dem Unbekannten und vor der Veränderung. Auch fehle es an Identifikation mit dem heutigen Europa. Schnell einig wurde man sich darin, es mit (kollektiven) Emotionen zu tun zu haben, die in einem Europa der Mauern und Zäune zu münden drohen.
Aktion: Re-De-Fence
Über Nacht bauen Aktivistinnen überall über all in Europa Grenzen, Mauern und Zäune auf. Zwischen Ländern, auf Straßen, um Gebäude. Die Idee: der Schockeffekt der extremen Abgrenzung ruft die Vorteile des offenen Europas zurück ins Bewusstsein.
Weitere Vorschläge: ein europäischer “Feel-Good-Manager”, der für ein gutes Miteinander der EuropäerInnen sorgt, und sich mit dem Abbau von Europa-Ängsten und -Aggressionen befasst; ein neues europäisches Austausch-Programm für alle Altersgruppen und Bildungsschichten, das zum Beispiel einen zeitweisen Job-Tausch innerhalb der EU ermöglicht.
Wie verhindern wir das wirtschaftliche Auseinanderdriften und den Kollaps der Eurozone?
Das war die Frage für Team Blau. Schnell bestand Einigkeit darin, dass wir ein breiteres und tieferes Verständnis der Eurozone brauchen, um die Probleme gemeinsam zu lösen. So sei es früh verpasst worden, der Gesellschaft die ökonomischen und politischen Mechanismen (und möglichen Konflikte) der Währungsgemeinschaft klar zu machen.
Folgendes Erklärungsmuster zeichnete sich in der - teils teil kontrovers geführten - Diskussion ab. Wir erleben die Eurokrise sehr unterschiedlich. In Deutschland wird der wirtschaftliche, politische und soziale Anpassungsdruck der gemeinsamen Währung kaum wahrgenommen. In Südeuropa ist dieser dagegen sehr deutlich zu spüren. Das spaltet uns. National orientierte Debatten und Schuldzuweisungen halten uns davon ab, unsere gemeinsamen Interessen als Euro-BürgerInnen zu diskutieren und zu artikulieren.
Aktion: Euro-Community
Die Idee des Teams: ein Eurozonen-weites, zivilgesellschaftliches Netzwerk – von Madrid bis Helsinki, von Hamburg bis Athen. Das Netzwerk eröffnet Räume, um ein gemeinsames ‘Eurozonen-Bewusstsein’ auszubilden, und unsere transnationalen Interessen zu formulieren. Das Netzwerk bereitet einer europäischen europäische Bürgerbewegung den Boden, das für Reformen der Eurozone eintritt. Auf der Agenda: ein vom EU-Parlament kontrolliertes Eurozonen-Budget, mit dem wirtschaftliche Schieflagen im Euro-Raum ausgeglichen werden.
Wie beschleunigen wir den Untergang der EU?
Das war die Aufgabe Frage für Team Schwarz. Es wäre auch ein etwas langweiliges Experiment gewesen, wenn sich gleich vier Teams an die Rettung Europas machen. Das Anti-EU-Team überlegte zunächst, wie hart und plakativ es vorgehen soll. Sollte man ein Klima der Angst schaffen, in dem sich die Menschen nach einem Europa der geschlossenen Grenzen sehnen? Schnell entschied sich das Team für eine subversive Strategie und gegen die offene Konfrontation mit EU-Verfechtern.
Aktion: Das Volk vs. Europa
Mit Slogans wie “Democracy starts at Home” oder “Europa des Volkes, nicht der Eliten” zielt das Team auf eine Re-Nationalisierung. Das beste Mittel wäre die Direkt-Demokratie. Die Annahme: werden zu EU-Mitgliedschaften und europäischen Fragen erst einmal zahlreiche Volksabstimmungen abgehalten, so sind diese für finanz- und kampagnenstarke Nationalisten leicht zu gewinnen. Der Boden sei hierfür bereits bereitet. Die BürgerInnen identifizierten sich jetzt schon kaum mit der EU. Eine Abschaffung des Schengen-Abkommens (Offene Grenzen) möchte das Team den Menschen euphemistisch als "Schengen Plus" oder "Schengen mit Biss" verkaufen. Jede gute Nachbarschaft brauche eben einen Gartenzaun.
Warum das alles?
Unter #EUremix diskutieren wir rund um Publixphere den Zustand und Zukunft der EU. Was ist zu kritisieren? Was ist zu verändern? Welche Visionen gibt es? Nun haben es EU-Diskussionen nicht immer ganz leicht. Zu kompliziert, zu elitär, zu langweilig und immergleich – um einmal ein paar gängige (Vor-)Urteile über die Europa-Debatte zu nennen.
Dem wollten wir ein Experiment entgegensetzen. Mobilisiert uns ein Rollenspiel neu für die Europa-Debatte? Muss die EU erst experimentell verschwinden, damit Menschen wieder für sie “brennen”? Wie (un-)angenehm ist es, in einer aktivistischen Kleingruppe unter Zeitdruck “Europa” zu retten? Stiften Schreckensszenarien Zusammenhalt oder eher nicht? Ist das Aus für diese EU und diese Währungsgemeinschaft überhaupt ein Schreckensszenario? Das alles war völlig offen. Nach der Simulation haben wir in großer Runde das Experiment hinterfragt – und im Ansatz den Bogen zur Realität geschlagen. Hier die Diskussionen der offenen Runde im Überblick...
Wie wahrscheinlich ist der Untergang der EU?
Die Einschätzungen reichten hier von gar nicht wahrscheinlich bis durchaus wahrscheinlich. Gegen ein echtes Auseinanderfallen der EU sprechen laut einer Teilnehmerin, dass ein Rückbau zu teuer und kompliziert wäre und nicht im nationalen Interesse der beteiligten Staaten liegt. Andere halten zumindest für denkbar, dass europäische Grundwerte wie die Reisefreiheit antastbar sind. Unvorstellbar ist sie demnach nicht, die Rückkehr zu Passkontrollen und Zäunen – vor allem dann, wenn die Innere Sicherheit hierfür ins Feld geführt werden kann – als traditionell schlagendes Argument. Ein Teilnehmer argumentierte eher emotional. Die Angst vor dem Scheitern Europas steckt demnach schon in uns.
Außerdem kam die Frage auf, ob die etablierten Parteien und Akteure – und auch wir selbst – PolitikerInnen nicht ernst genug nehmen, die sich durchaus überzeugend gegen die heutige EU wenden. In der Problemanalyse – was läuft falsch in der EU und in Euroland? – sind sich demnach “Pro-Europäer” und Nationalisten oft einig, nur fallen eben die Antworten unterschiedlich aus. Je nachdem lauten sie 'Rückkehr zum Nationalstaat' oder 'mehr europäische Zusammenarbeit' – mal ganz verkürzt formuliert.
Einige TeilnehmerInnen forderten, diese “Ganz-oder-gar-nicht-Diskussion” aufzubrechen. Demnach sollten wir uns nicht die Frage stellen “EU - ja oder nein”, sondern welche EU wir eigentlich haben wollen – Stichwort “Better EU”. Europa sei kein Selbstzweck, so eine Teilnehmerin. Stets sei zu fragen, welchen Zweck Europa erfüllen kann und soll. Für diese Debatte seien Horror-Szenarien ungeeignet.
Hier eingefügt sei noch unsere eigene Einschätzung als #pxp_team. Wir haben das EU-Untergangs-Szenario entworfen und als Film umgesetzt. Natürlich haben wir mit voller Absicht eine extreme, fiktionale Ausgangslage geschaffen, einfach um einmal mit der Europa-Debatte zu experimentieren. Zahlreiche Zitate und Bilder haben wir im Szenario-Film aus dem Zusammenhang gerissen, verkürzt und manipuliert. Unser EU-Untergang ist ein großer Fake. Auf der anderen Seite waren wir überrascht, wie leicht sich dieser Fake aus realen Äußerungen und Berichten zusammenschustern lässt. Wir mussten uns etwa zwischen zahlreichen Anti-EU und Anti-Euro-Äußerungen einer Marine Le Pen (Front National) entscheiden. Manche Sätze konnten wir einfach ohne jede Manipulation für unsere Zwecke nutzen, wie zum Beispiel diesen O-Ton aus einer ARD-Reportage von 2013: “Die EU als Verantwortliche für alles Elend – eine Stimmung die auch in der Slowakei, Polen und Rumänien Populisten zur Macht verholfen hat.” Oder anders gesagt: das Ende der EU ist zumindest schon als Option da draußen im Umlauf.
Wie fühle ich mich als AktivistIn?
Auch hier gab es unterschiedliche Wahrnehmungen. Einigen TeilnehmerInnen war nicht ganz wohl beim simulierten Aktivismus. Selbst wenn ich der Meinung bin, ein Siegeszug anti-europäischer Populisten und Nationalisten sollte aufgehalten werden, so kann ich doch Bauchschmerzen dabei haben, mich diesem Ziel einfach so zu verschreiben, nur weil mir das jemand vorgibt. Muss nicht erstmal ausdiskutiert werden, was wir unter Populismus verstehen? Und was unter “anti-europäisch”? Wie trennscharf bzw. schwammig sind unsere Begriffe und Feindbilder? Müssten wir nicht eher reden mit den AnhängerInnen einer Marine Le Pen (Front National) oder eines Heinz-Christian Strache (FPÖ)?
Eine Teilnehmerin gab zu Bedenken, dass Aktivismus stets selbst eine Form des Populismus ist. Weil Aktivismus radikal vereinfacht, kaum Raum für Komplexität lässt. Statt Aktivismus wäre demnach echte politische Debatte gefragt, wo doch die Probleme des heutigen Europas bekannt seien, und niemand wachgerüttelt werden müsse. Hier gab es wiederum Einwände. Wie breit ist das Problembewusstsein in der Gesellschaft, wenn es um die strukturellen Schwächen Europas geht? Ist es nicht doch an der Zeit, aufzurütteln?
Eine Teilnehmerin meinte, dass es sich gut anfühle, einmal “keine Zeit für Komplexität” zu haben, und selbst etwas zu tun, statt etwa einem Podium zu europäischen Fragen einfach nur zuzuhören. Andere waren überrascht, dass wir trotz der ganzen Kompliziertheit europäischer Fragen (Eurokrise, Flüchtlingskrise…) mehr oder minder gemeinsam Ergebnisse erzielen konnten.
Ebenfalls kurz zur Debatte stand unsere Zusammensetzung als Gruppe an diesem Abend. Eingeladen waren natürlich alle Interessierten. Doch waren sich diejenigen, die ihren Weg zu Publixphere nach Berlin-Kreuzberg fanden, nicht von vorneherein schon ziemlich einig in ihren Ansichten? Ein europäisch vorgebildetes, politisch engagiertes Publikum? In der Tendenz eher “pro-europäisch” und progressiv? Oder kurz gesagt: Waren wir an diesem Abend selbst eine elitäre Berliner Euro-Bubble? Das ist nicht leicht zu beantworten. Viele, die da waren, beschäftigen sich nicht professionell mit EU-Politik. Engagiert mitgeredet und mitgestaltet haben sie den Abend trotzdem, so unser Eindruck als #pxp_team. Die Frage, wie elitär die Europa-Debatte ist, wird uns auf jeden Fall erhalten bleiben – ein eigenes Online-Forum hierzu findet ihr hier.
Gibt es realen Handlungsbedarf?
Schnell kam aus der offenen Runde der Wunsch, die Simulation einmal beiseite zu lassen und sich mit der Wirklichkeit zu befassen. Was ist jeder/m Einzelnen Europa tatsächlich an Engagement, Aktivismus und Einmischung wert? Wo besteht tatsächlich Handlungsbedarf? Welche Einflussmöglichkeiten haben wir?
Für Aktivismus sahen mehrere TeilnehmerInnen keinen Anlass – entweder weil es so schlecht um die EU dann doch nicht stehe, oder weil Aktivismus der falsche Weg wäre, sich einzubringen. Ein Teilnehmer sieht die Wirkung des Einzelnen zunächst im privaten Umfeld, etwa im Gespräch mit EU-Skeptikern in der eigenen Familie. In einem der vielen Nachgespräche kam noch etwas zugespitzter die Frage auf, ob es in der Europa-Debatte nicht längst einen Generationenkonflikt gibt. Driften die Europa-Zukunfts-Vorstellungen der Älteren und Jüngeren zusehends auseinander? Das kann online auch hier diskutiert werden.
Sowohl in den Kleingruppen als auch in der offenen Runde stand zur Diskussion, ob es eigentlich reicht, sich mit den Problemen der EU und der Eurozone zu befassen. Wäre nicht ein Hinterfragen der globalen Verhältnisse angebracht? Müssten nicht beispielsweise der “Neoliberalismus” (die richtige Verwendung dieses Begriffs war umstritten) und die (Post-)Wachstumsgesellschaft zur Debatte stehen, um zu echten Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu gelangen? Und sind europäische Grundwerte wie Pluralismus und Meinungsfreiheit gedanklich auf Europa zu begrenzen – oder ist die “Europäisierung” nicht ein Projekt, das über Europas Grenzen hinaus weist?
Offen blieb auch, ob wir eine Art aufklärerische Rolle in unseren privaten und beruflichen Kreisen einnehmen sollten. Müssen wir anderen proaktiv die EU erklären, auch um denjenigen das Leben schwer zu machen, die mit anti-europäischen Halbwahrheiten an Unterstützung gewinnen? Hier kam der Einwand, das “Pädagogik” immer auch eine Form der Interessen-Durchsetzung ist. Die EU selbst sei ein Machtmittel, wie ein Teilnehmer zu Bedenken gab. Das müsse reflektiert werden. Leider konnten wir das was in der Kürze der Zeit nicht mehr vertiefen.
Bleibt zu sagen, dass wir als #pxp_team die Nachrichten seit dem Community-Abend mit etwas anderen Augen verfolgen. betrachten. Wenn von Anti-EU-Protesten in Osteuropa berichtet wird, sind die Bilder unseres fiktiven Untergangs-Szenarios schnell wieder da. Aber nicht nur sie, sondern auch die Erinnerung an eine Runde von Menschen, die leidenschaftlich und bis spät in die Nacht um die Zukunft Europas gerungen hat.