Wohin steuert Frankreich? Ein Manifest für eine andere Debatte
Bombadierungen in Syrien und mehr Überwachung werden das Ziel verfehlen, uns nach den Anschlägen von Paris ein Gefühl der Sicherheit zurückzugeben. Das meinen französische, französisch sprechende und frankophile Mitglieder der Harvard Community. Sie fordern einen grundlegenden Politikwechsel. Zu Recht?
Ein offener Brief von French, Francophone and Francophile members of the Harvard community – zuerst veröffentlicht in der Kennedy School Review. Der englische Originaltext steht auf Publixphere hier zur Diskussion.
Der Staub der Explosionen von Paris hat sich kaum gelegt und es fällt immer noch schwer, unsere unterschiedlichen Gefühle in Worte zu fassen. Da ist die Traurigkeit: dieses Ausmaß an Gewalt entfesselt zu sehen, verübt von Barbaren, die nur teilweise identifiziert sind. Da ist eindeutig unsere Empathie für jene, deren Familien, Freunde und geliebte Menschen betroffen sind. Da ist unsere Bestimmung, zurückzufinden in eine Situation, in der alle Franzosen ihr Leben leben können ohne sich wegen einer dauerhaften Bedrohung ängstigen zu müssen.
Die Welt blickt nun auf ein verzweifeltes Land, um zu sehen, wie es reagiert. Diese Reaktion wird den Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Gefahr des Terrorismus prägen.
Wir können den IS in seiner Hochburg Raqqa bombadieren und Terrororganisationen an anderen Orten überall auf der Welt ins Visier nehmen. Aber mit jedem Terroristen, den wir töten - wieviele folgen ihm nach, radikalisiert durch die Bilder des Todes?
Wir können unsere Bürger stärker überwachen und so versuchen, neue Attentate zu verhindern. Aber wie sollen wir noch mehr Menschen überwachen, und nach welchen Kriterien, ohne auf einen Teil der bürgerlichen Freiheiten zu verzichten, für deren Schutz wir uns einsetzen?
Diese Maßnahmen werden das Ziel verfehlen, unser Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen. Wir sind schon in einen “Krieg gegen den Terror” gezogen, der nicht gewonnen werden kann mit mehr Waffen und mehr Blutvergießen. Wir glauben weder an das Bombardement Syriens noch an eine verstärkte Überwachung unserer Bürger, obwohl wir anerkennen, dass es legitim ist, diese Optionen zu diskutieren. Wir sind allerdings der Auffassung, dass diese Debatte eine andere, wichtigere Debatte überdeckt: wie können wir die Radikalisierung von Außenseitern innerhalb unseres Staates verhindern?
Es gibt eine andere Waffe, die wir verwenden sollten, um das Gesellschaftsmodell zu verteidigen, für das wir stehen: Worte. Diese Worte sollten nicht nur gerichtet werden an Menschen außerhalb unserer Grenzen, sondern auch an unsere eigenen Landsleute, die sich entschieden haben, sich diesen anzuschließen. Unsere permanente Aufmerksamkeit sollte sich darauf richten, die harten Lebensbedingungen innerhalb unseres Staates zu verbessern, die das Risiko einer Radikalisierung erhöhen, die wiederum auf einem Weltbild des “Wir gegen die” gründet. Kritiker werden sagen, wir sind naiv, unbelehrbare Pazifisten und Idealisten (Bezeichnungen, die wir selbst gerne verwenden).
Also was glauben wir kann der Staat tun?
Erstens kann es uns explizit um eine gemeinsame Angelegenheit gehen. Parteilichkeit blockiert unseren Weg in die Zukunft. Der politische Stillstand hat uns dazu gebracht, uns auf die Probleme von Politikern zu fokussieren, statt auf die Probleme der Menschen. Die gemeinsame Angelegenheit steht uns nun in aller Klarheit vor Augen: wollen wir uns nach innen wenden, um eine sinkende Zahl von Menschen zu ‘schützen’, oder wollen wir so weit wie möglich ein Gesellschaftsmodell vorantreiben, dass auf der Freiheit eines jeden Einzelnen beruht, ein glückliches Leben zu führen, auf der Gleichheit eines jeden vor dem Staat und auf der Verwandschaft (Original: fraternity) von Wünschen, von Gefühlen und unserer Freigiebigkeit?
Zweitens muss der Staat eine Politik entwickeln, die seine schwächsten Bürger unterstützt, weil sie besonders anfällig für Radikalismus sind. Das Bild elitärer Entscheidungsträger, die in ihren eigenen Sphären operieren, und ein Staat, der in der Illussion seiner mangelnden Handlungsfähigkeit gefangen ist, verwandeln marginalisierte Bevölkerungsgruppen in ein gewaltiges Rekrutierungspotential für die extremen und gewalttätigen Aktionen, die wir verabscheuen. Anstatt zu versuchen, Migranten in “gute” und “schlechte” zu unterteilen, in Arbeitslose, Muslime und Araber (all diese Begriffe erzeugen mittlerweile fälschlicherweise negative Konnotationen) – was eine groteske Übung in blinder Engführung wäre – müssen wir jede Anstrengung unternehmen, ihnen allen einen Anreiz zu geben, “gut” zu sein. Das gehört zum Versprechen eines Landes, das Zuflucht bietet, das zuhört und hilft. Das gehört zum Versprechen eines Landes, das Bedingungen schafft, in dem alle ihre Träume verfolgen können. Unser kollektives Versagen dabei, diese Voraussetzungen für den Erfolg zu schaffen, hat uns in die Situation geführt, in der wir uns heute befinden.
Offenheit, Solidarität und Teilhabe. Das müssen unsere Leitprinzipien sein. Hören wir auf , sinnlose und abstruse Grenzen zwischen "gut" und "böse" zu ziehen. Die Realität ist nicht so, dass die Zahl der "schlechten" Menschen gewachsen wäre. Die Realität ist, dass die französische Politik seit Jahrzehnten Außenseiter produziert hat. Diese Außenseiter leben in verarmten Gegenden, wo ein scheiterndes Bildungssystem Studenten auf die Straße entlässt, in ländliche oder deindustrialisierte Gebiete, in denen die wirtschaftlichen Chancen geschwunden sind, oder auf einen Arbeitsmarkt, auf dem latente Diskriminierung herrscht. In einem Land wie Frankreich, in dem die Rolle des Bürgers für die Republik so zentral ist, ist es ein unerträglicher Zustand der Ausgrenzung, ein Außenseiter zu sein.
Das ist nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa zu beobachten, während die Randgruppen und der Extremismus miteinander wachsen. Ohne wirtschaftliche, intellektuelle und soziale Chancen – wie soll man sich da nicht alternativen Ideologien zuwenden, die eine bessere Zukunft versprechen, verbreitet über eine zunehmend verknüpfte digitale Welt?
Wir fordern eine "Gouvernement d'Union Nationale", eine Regierung der nationalen Einheit, in der Vertreter aller Seiten gemeinsam regieren, in den kommenden 18 Monaten bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Ihr Mandat würde es sein, einige Reformen umzusetzen, die jene Aufgaben lösen, die wir gerade skizziert haben. Von ihr würde der Schnellstart einer neuen Politik erwartet, die einen Dialog mit jenen Bevölkerungsgruppen eröffnet, die ausgeschlossen worden sind, als auch die Bürger befähigt, selbst substanziellere Debatten über Fragen der Identität, Religion, Rasse, Diskriminierung und Toleranz zu führen.
Frankreich muss die Vision einer modernen demokratischen Gesellschaft anstreben, in der alle zusammenleben und zur Gemeinschaft beitragen können, anstelle eines Modells, das auf Angst und Diskriminierung basiert. Demokratie ist nie von selbst gegeben – sie ist eine ständige Anstrengung, Entscheidungen zu treffen, die all jenen Bürgern am ehesten gerecht werden, die ihr Vertrauen in die Autorität des Staates setzen. Das Leben und Atmen und Entwickeln der Demokratie ist das, was wir verteidigen sollten, nicht ein altes und staubiges Modell, von dem wir seit Jahren gelernt haben sollten, dass es aufzugeben ist.
Wir alle wollen glauben, dass es irgendwo eine Patentlösung gibt, die uns die Annehmlichkeit der Sicherheit sofort beschert. Diese Lösung existiert nicht; jede Bequemlichkeit, die wir daraus ableiten, wäre falsch und flüchtig. Unsere Anführer müssen sich – über die aktuelle Notwendigkeit "etwas zu tun" hinaus – neuen Lösungen für die alten und dringlichsten Probleme unserer Bürger zuwenden. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass sie sich nie wieder gegen eine Republik wenden, von der sie profitieren. Das erfordert ein Minimum an Vertrauen in die menschliche Spezies: ein glücklicher Mensch ist kein Mensch, der tötet.
Übersetzung aus dem Englischen: Alexander Wragge (Redaktion Publixphere)
UnterzeichnerInnen
Hugo Zylberberg; Arnaud Favry; Nour Sharara; Juliette Keeley; Claire Boine; Clio Dintilhac; Juliette Cremel; Ezekiel Benshirim; Axelle Bagot; Joelle Thomas; Uzra Khan; Andrea Blinkhorn; Ben Chabanon; Josko Mise; Nicolas Miailhe; Jennifer Hurford; Armand Babacar Dieng; Anna Lea Albright; Cécile Guédon; Karim Pirbay; Muriel Rouyer; Jean-Louis Rochet; Aleksandar Rankovic; Yasmin Radjy; Jonathan Auger; Amandine Lobelle; Daniel Tostado; Helena Legarda Herranz; Ashley Heacock; Natharoun Ngo
Links
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Kennedy School Review: Where Does France Go From Here? A Manifesto For Another Debate, 16. November 2015
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Salim Nasereddeen: Anschläge von Paris: Werfen wir uns nicht unsere Betroffenheit vor
GeertV
Liebe InitiatorInnen, ich bin bei eurem Brief hin- und hergerissen. Eure Ideale sind sicherlich richtig. Die vielen Milliarden Euro fuer den Anti-Terrorkrieg (oder ist es schon eine Billion?) waeren sicherlich besser investiert gewesen in eine emanzipative Bildung und Ausbildung, in Sozialarbeit und Arbeitsplaetze (selbst wenn es erstmal nur staatliche sind). Im besten Fall finden alle in der Geselschaft ihren Platz, ob als Wachmann, Baecker oder Atomphysiker, jeder nach seinen Moeglichkeiten. Nun ist das Geld in den Taschen von Waffenproduzenten und ihren Aktionaeren verschwunden, hat nur noch mehr Tod ueber die Welt gebracht. Ueber die Kriegsgewinnler muessen wir auch mal reden. Die freuen sich ueber jeden Terroristen auf der Welt. Eure typisch linke Art, strukturell zu denken, ist richtig.
Andererseits ist mir der Text auch zu einseitig. Nicht alle armen und perspektivlosen Menschen auf der Welt begehen ein Blutbad. Sie wuerden nie auf die Idee kommen, aus ihrer Lage heraus jede Menschlichkeit zu verlieren. Sie behalten sie. Deshalb habe ich etwas Probleme damit, die Attentaeter, ihre Familien und ihr Umfeld so leicht aus der Verantwortung zu entlassen. Ich waere meines Lebens nicht mehr froh, wenn mein Sohn so etwas tut. Genauso wenig, wie wenn mein Sohn 'Der Dreck muss weg' in Heidenau groehlt und Fluechtlinge verpruegelt. Wir muessen auch an der individuellen Verantwortung und Zurechenbarkeit festhalten, und duerfen nicht in einem Akt linker Selbstgeisselung alle Schuld der Welt auf uns nehmen, auf den Westen, auf den Kapitalismus, auf die ungerechten Strukturen. Jeder dieser jungen Attentaeter haette einen anderen Weg gehen koennen. Meinetwegen einen extremen Islam leben, aber dabei friedlich gegenueber Menschen bleiben. Sie haetten Proteste organisieren koennen gegen ihre Verhaeltnisse, vielleicht auch Sachbeschaedigungen verueben, so etwas kann in der Geschichte noetig sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber die Schuld, Unschuldige ueber den Haufen geschossen zu haben, Jugendliche, Muslime, einfach blind alle, die kann ihnen niemand nehmen.