#Brexit - Was machen wir jetzt? - Historie

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  • #Brexit - Was machen wir jetzt?

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxDas Netzwerk Unsere Zeit und Publixphere riefen spontan dazu auf, den Brexit auf dem Kreuzberg in Berlin zu diskutieren. Wir waren zu elft und es ging bis in die Nacht. am Ende war's schon dunkel. Foto: Mirko Lux


    Was für ein Erwachen am Freitag, was für ein Schock. Es wird dauern, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu verarbeiten. Bei einem Treffen von Politik-Interessierten auf dem Kreuzberg in Berlin diskutierten wir, was jetzt zu tun ist. Hier ein paar Beobachtungen...


    Von Alexander Wragge

    Eine neue Zeit des Gestaltens

    Es war schon in den vergangenen Monaten zu spüren. Bei vielen Menschen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis wird das Gefühl stärker, dass etwas “nicht stimmt” mit unserer europäischen Gesellschaft. Viele wollen die politischen Entwicklungen nicht länger nur beobachten und einfach so hinnehmen. Wir merken es selbst bei unseren Treffen und online. Das Interesse wächst, sich zu vernetzen und gemeinsam politisch einzubringen: mit Empathie, Kritik, Ideen, Protest, Aktionen. Der Brexit zeigt uns jetzt: die über Jahre so erstarrt und alternativlos wirkende EU ist über Nacht änderbar. Gestalten wir sie nicht selbst in unserem Sinne, vollenden Marine Le Pen, Geert Wilders und Co. ihr Zerstörungswerk auf Kosten unserer Generation.

    Der Generationenkonflikt

    Es lässt sich lange analysieren, wer warum den Brexit gewählt hat. Wir diskutierten zahlreiche Beweggründe, vom Hass vieler Briten auf Polit- und Bildungseliten bis zu den Demokratie-Defiziten der EU.

    Klar ist: den Brexit haben die über 65-Jährigen zu verantworten. Die Jüngeren wünschten sich eine Zukunft in der EU. Von den unter 24-Jährigen wollten laut einer Umfrage vor der Wahl nur 24 Prozent für Leave stimmen. Wir dürfen die jüngeren Bremain-WählerInnen jetzt nicht allein lassen. Auch das gehört dazu, eine europäische Generation zu sein.

    Unsere Forderung: gebt allen Briten, die dies wünschen, einen EU-Pass, im Schnellverfahren (das wäre rechtlich möglich). Sie sollten nicht dafür büßen müssen, was die Älteren angerichtet haben. Gemeinsame europäische Programme wie Erasmus sind auch nach dem Brexit fortzuführen. Und auch wenn es lange dauern kann: Eine europäische ‘Wiedervereinigung’ muss möglich bleiben. Ein Teilnehmer unserer Runde spitzte es so zu: “Ihr könnt zurückkommen, wenn Oma tot ist”. Bis dahin rufen wir EU-BürgerInnen auf: Marry a brit.

    Foto

    Die Kommunikation kann so nicht weitergehen

    Seit Jahrzehnten haben britische Boulevardmedien und Akteure wie Nigel Farage das europäische Projekt in den Dreck gezogen. Es gibt viele Hinweise darauf, das weite Teile der Bevölkerung nie wirklich verstanden haben, wie Entscheidungen in der EU bislang gefällt wurden, nämlich unter maßgeblicher Mitwirkung der britischen Regierung, britischer Beamter in der EU-Kommission und der britischen Abgeordneten im EU-Parlament. Es gelang in all den Jahrzehnten ganz offensichtlich nicht, in Großbritannien eine breite Identifikation mit dem EU-System zu stiften. Die EU wurde als das fremde, nicht als das eigene erlebt.

    Nun können wir sagen, die Brexit-Populisten haben im Wahlkampf gnadenlos vereinfacht, verdummt und unverschämt gelogen. Wir können sagen, die Briten wussten gar nicht was sie tun. Sie dachten, sie befreien sich von einer “Brüsseler Diktatur”, von einem grotesken Zerrbild europäischer Zusammenarbeit, das ihnen Demagogen über Jahrzehnte eingeredet hatten. Erst nach der Entscheidung fingen viele an zu googeln, was diese Eueropäische Union überhaupt ist und wie sie funktioniert.

    Doch wenn wir die Brexit-Mehrheit für mehr oder minder unzurechnungsfähig erklären, nicht ernst nehmen, dann drücken wir uns vor vielen wichtigen Debatten, die nun zu führen sind. Eine grundsätzliche Frage lautet: Warum fällt es so vielen Menschen so schwer, die eigenen Interessen und das (europäische) Gemeinwohl durch die EU-Insitutionen, durch Rat, Kommission und Parlament vertreten zu sehen?

    Wir können es uns hier leicht machen und sagen: die EU funktioniert eigentlich gut, sie hat nur ein Vermittlungsproblem. Aber selbst dann muss sich nun etwas grundlegend ändern, nämlich die Kommunikation von EU-Politik. Wann antworten nationale PolitikerInnen zum Beispiel endlich auf den ewigen Vorwurf der Brüsseler Regulierungswut? Wann sagen sie endlich, dass es natürlich Sinn macht, in einem gemeinsamen Markt einheitliche Standards für Kopfkissen, Glühbirnen und Duschköpfe zu definieren, statt 27 verschiedene? Wann machen sie das nationale Mitwirken an diesen EU-Standards endlich transparent, genauso wie den Einfluss zahlreicher Interessengruppen? Der Grundsatz-Konflikt “Regulierung vs. Deregulierung” gehört am Ende eigentlich ins europäische Parlament und ist politisch zu entscheiden. Wer ein Problem mit Vorschriften hat, zum Beispiel mit Stromspar-Vorgaben für Staubsauger, kann seine europäischen VolksvertrerInnen entsprechend wählen und bearbeiten. Er muss dafür nicht gleich die ganze EU infrage stellen und den Austritt anstreben. Es wird nun spannend zu sehen, ob Großbritannien nun auf Produktvorschriften ganz verzichtet, wo man die “EU-Diktatur” losgeworden ist.

    Die Kommunikation von Politik muss künftig endlich die entscheidenden Fragen klären. Wer trägt für was die politische Verwantwortung? Wie verläuft der politische Wettbewerb um die EU-Gesetzgebung. Anstatt einfach nur Politikergebnisse und europäische Errungenschaften wie die Reisefreiheit mehr oder minder überzeugend zu “verkaufen” könnten auch die souveränen EU-BürgerInnen selbst endlich ins Zentrum der gesamten Kommunikation rücken. Wissen sollte ich als EU-BürgerIn, wie ich meine Interessen rechtzeitig vertrete und vertreten lasse, nicht nur im EU-Parlament oder durch meine nationale Regierung, sondern zum Beispiel auch durch meine regionalen VertreterInnen, die immerhin die EU-Fördermittel für meine Region beantragen. Im besten Fall realisieren wir auch unseren Einfluss als europäische Zivilgesellschaft, die jederzeit frei ist, sich europäisch zu vernetzen, sich mit Forderungen und Protesten einzumischen.

    In welcher EU wollen wir leben?

    Nun kam in unserer Runde auch Skepsis auf, ob eine neue Vermittlung wirklich die Probleme löst. Reicht es aus, einfach unser EU-Bürgertum zu entdecken und stark zu reden? Wecken wir damit nicht bei uns und anderen Teilhabe-Erwartungen, die von dieser EU gar nicht einzulösen sind? Die Demokratiedefizite der EU sind schließlich keine Erfindung von Populisten. Sie füllen seit Jahrzehnten Regale in den Bibliotheken. Demokratie funktioniert in dieser EU immer noch maßgeblich über die nationale Wahl von nationalen Regierungsmitgliedern in den Rat. Viele Ideen, Interessen und Gegenargumente bleiben so bei der europäischen Entscheidungsfindung auf der Strecke. Gemeinsame grenzüberschreitende Anliegen (zum Beispiel die der jungen Generation Europas) werden kaum sichtbar. Sie sind nur schwer zu mobilisieren und zu vertreten. Doch was folgt aus der Erkenntnis, dass diese EU noch nicht perfekt und noch lange nicht fertig ist?

    Aus Angst vor reaktionärem Rechts-Populismus, Nationalismus und Chauvismus in der EU werden nun sicher einige PolitikerInnen einen Rückbau oder die reine Verteidigung des Status Quo fordern. Beides sind für uns keine verlockenden Optionen. Rückbau wohin? In den nationalen Mief, den uns AfD, FPÖ und Front National als Zukunft verkaufen? Im Umlauf sind zahlreiche Reformideen für Europa (beispielsweise die “Europäische Republik” von Ulrike Guerot). Als Europas junge Generation können wir uns diese Reformideen zumindest anschauen, sie kritisch diskutieren, eigene Vorstellungen entwickeln, und probieren, diese Zeitenwende (mit Aktionen) selbst zu gestalten. Und vielleicht gibt es ja gemeinsam noch ein paar EU-Referenden zu gewinnen, in den Niederlanden, in Frankreich...

    P.S. Wer Lust hat, sich zu vernetzen und zu diskutieren melde sich bei: redaktion@publixphere.net.


    Links

  • #Brexit - Was machen wir jetzt?

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxDas Netzwerk Unsere Zeit Link: http://unserezeit.eu/ Foto: Mirko LuxUnsere Zeit und Publixphere riefen spontan dazu auf, den Brexit auf dem Kreuzberg in Berlin zu diskutieren. Wir waren zu elft und am Ende war's schon dunkel. Foto: Mirko Lux


    Was für ein Erwachen am Freitag, was für ein Schock. Es wird dauern, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu verarbeiten. Bei einem Treffen von Politik-Interessierten auf dem Kreuzberg in Berlin diskutierten wir, was jetzt zu tun ist. Hier ein paar Beobachtungen...


    Von Alexander Wragge

    Eine neue Zeit des Gestaltens

    Es war schon in den vergangenen Monaten zu spüren. Bei vielen Menschen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis wird das Gefühl stärker, dass etwas “nicht stimmt” mit unserer europäischen Gesellschaft. Viele wollen die politischen Entwicklungen nicht länger nur beobachten und einfach so hinnehmen. Wir merken es selbst bei unseren Treffen und online. Das Interesse wächst, sich zu vernetzen und gemeinsam politisch einzubringen: mit Empathie, Kritik, Ideen, Protest, Aktionen. Der Brexit zeigt uns jetzt: die über Jahre so erstarrt und alternativlos wirkende EU ist über Nacht änderbar. Gestalten wir sie nicht selbst in unserem Sinne, vollenden Marine Le Pen, Geert Wilders und Co. ihr Zerstörungswerk auf Kosten unserer Generation.

    Der Generationenkonflikt

    Es lässt sich lange analysieren, wer warum den Brexit gewählt hat. Wir diskutierten zahlreiche Beweggründe, vom Hass vieler Briten auf Polit- und Bildungseliten bis zu den Demokratie-Defiziten der EU.

    Klar ist: den Brexit haben die über 65-Jährigen zu verantworten. Die Jüngeren wünschten sich eine Zukunft in der EU. Von den unter 24-Jährigen wollten laut einer Umfrage vor der Wahl nur 24 Prozent für Leave stimmen. Wir dürfen die jüngeren Bremain-WählerInnen jetzt nicht allein lassen. Auch das gehört dazu, eine europäische Generation zu sein.

    Unsere Forderung: gebt allen Briten, die dies wünschen, einen EU-Pass, im Schnellverfahren (das wäre rechtlich möglich). Sie sollten nicht dafür büßen müssen, was die Älteren angerichtet haben. Gemeinsame europäische Programme wie Erasmus sind auch nach dem Brexit fortzuführen. Und auch wenn es lange dauern kann: Eine europäische ‘Wiedervereinigung’ muss möglich bleiben. Ein Teilnehmer unserer Runde spitzte es so zu: “Ihr könnt zurückkommen, wenn Oma tot ist”. Bis dahin rufen wir EU-BürgerInnen auf: Marry a brit.

    Foto

    Foto Link: https://publixphere-cms.liqd.net/de/bilder/remain.jpg/@@images/image.jpeg

    Die Kommunikation kann so nicht weitergehen

    Seit Jahrzehnten haben britische Boulevardmedien und Akteure wie Nigel Farage das europäische Projekt in den Dreck gezogen. Es gibt viele Hinweise darauf, das weite Teile der Bevölkerung nie wirklich verstanden haben, wie Entscheidungen in der EU bislang gefällt wurden, nämlich unter maßgeblicher Mitwirkung der britischen Regierung, britischer Beamter in der EU-Kommission und der britischen Abgeordneten im EU-Parlament. Es gelang in all den Jahrzehnten ganz offensichtlich nicht, in Großbritannien eine breite Identifikation mit dem EU-System zu stiften. Die EU wurde als das fremde, nicht als das eigene erlebt.

    Nun können wir sagen, die Brexit-Populisten haben im Wahlkampf gnadenlos vereinfacht, verdummt und unverschämt gelogen. Wir können sagen, die Briten wussten gar nicht was sie tun. Sie dachten, sie befreien sich von einer “Brüsseler Diktatur”, von einem grotesken Zerrbild europäischer Zusammenarbeit, das ihnen Demagogen über Jahrzehnte eingeredet hatten. Erst nach der Entscheidung fingen viele an zu googeln, was diese Eueropäische Union überhaupt ist und wie sie funktioniert.

    Doch wenn wir die Brexit-Mehrheit für mehr oder minder unzurechnungsfähig erklären, nicht ernst nehmen, dann drücken wir uns vor vielen wichtigen Debatten, die nun zu führen sind. Eine grundsätzliche Frage lautet: Warum fällt es so vielen Menschen so schwer, die eigenen Interessen und das (europäische) Gemeinwohl durch die EU-Insitutionen, durch Rat, Kommission und Parlament vertreten zu sehen?

    Wir können es uns hier leicht machen und sagen: die EU funktioniert eigentlich gut, sie hat nur ein Vermittlungsproblem. Aber selbst dann muss sich nun etwas grundlegend ändern, nämlich die Kommunikation von EU-Politik. Wann antworten nationale PolitikerInnen zum Beispiel endlich auf den ewigen Vorwurf der Brüsseler Regulierungswut? Wann sagen sie endlich, dass es natürlich Sinn macht, in einem gemeinsamen Markt einheitliche Standards für Kopfkissen, Glühbirnen und Duschköpfe zu definieren, statt 27 verschiedene? Wann machen sie das nationale Mitwirken an diesen EU-Standards endlich transparent, genauso wie den Einfluss zahlreicher Interessengruppen? Der Grundsatz-Konflikt “Regulierung vs. Deregulierung” gehört am Ende eigentlich ins europäische Parlament und ist politisch zu entscheiden. Wer ein Problem mit Vorschriften hat, zum Beispiel mit Stromspar-Vorgaben für Staubsauger, kann seine europäischen VolksvertrerInnen entsprechend wählen und bearbeiten. Er muss dafür nicht gleich die ganze EU infrage stellen und den Austritt anstreben. Es wird nun spannend zu sehen, ob Großbritannien nun auf Produktvorschriften ganz verzichtet, wo man die “EU-Diktatur” losgeworden ist.

    Die Kommunikation von Politik muss künftig endlich die entscheidenden Fragen klären. Wer trägt für was die politische Verwantwortung? Wie verläuft der politische Wettbewerb um die EU-Gesetzgebung. Anstatt einfach nur Politikergebnisse und europäische Errungenschaften wie die Reisefreiheit mehr oder minder überzeugend zu “verkaufen” könnten auch die souveränen EU-BürgerInnen selbst endlich ins Zentrum der gesamten Kommunikation rücken. Wissen sollte ich als EU-BürgerIn, wie ich meine Interessen rechtzeitig vertrete und vertreten lasse, nicht nur im EU-Parlament oder durch meine nationale Regierung, sondern zum Beispiel auch durch meine regionalen VertreterInnen, die immerhin die EU-Fördermittel für meine Region beantragen. Im besten Fall realisieren wir auch unseren Einfluss als europäische Zivilgesellschaft, die jederzeit frei ist, sich europäisch zu vernetzen, sich mit Forderungen und Protesten einzumischen.

    In welcher EU wollen wir leben?

    Nun kam in unserer Runde auch Skepsis auf, ob eine neue Vermittlung wirklich die Probleme löst. Reicht es aus, einfach unser EU-Bürgertum zu entdecken und stark zu reden? Wecken wir damit nicht bei uns und anderen Teilhabe-Erwartungen, die von dieser EU gar nicht einzulösen sind? Die Demokratiedefizite der EU sind schließlich keine Erfindung von Populisten. Sie füllen seit Jahrzehnten Regale in den Bibliotheken. Demokratie funktioniert in dieser EU immer noch maßgeblich über die nationale Wahl von nationalen Regierungsmitgliedern in den Rat. Viele Ideen, Interessen und Gegenargumente bleiben so bei der europäischen Entscheidungsfindung auf der Strecke. Gemeinsame grenzüberschreitende Anliegen (zum Beispiel die der jungen Generation Europas) werden kaum sichtbar. Sie sind nur schwer zu mobilisieren und zu vertreten. Doch was folgt aus der Erkenntnis, dass diese EU noch nicht perfekt und noch lange nicht fertig ist?

    Aus Angst vor reaktionärem Rechts-Populismus, Nationalismus und Chauvismus in der EU werden nun sicher einige PolitikerInnen einen Rückbau oder die reine Verteidigung des Status Quo fordern. Beides sind für uns keine verlockenden Optionen. Rückbau wohin? In den nationalen Mief, den uns AfD, FPÖ und Front National als Zukunft verkaufen? Im Umlauf sind zahlreiche Reformideen für Europa (beispielsweise die “Europäische Republik” von Ulrike Guerot). Als Europas junge Generation können wir uns diese Reformideen zumindest anschauen, sie kritisch diskutieren, eigene Vorstellungen entwickeln, und probieren, diese Zeitenwende (mit Aktionen) selbst zu gestalten. Und vielleicht gibt es ja gemeinsam noch ein paar EU-Referenden zu gewinnen, in den Niederlanden, in Frankreich...

    P.S. Wer Lust hat, sich zu vernetzen und zu diskutieren melde sich bei: redaktion@publixphere.net.


    Links

  • #Brexit - Was machen wir jetzt?

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxUnsere Zeit und Publixphere riefen spontan dazu auf, den Brexit auf dem Kreuzberg in Berlin zu diskutieren. Wir waren zu elft und am Ende war's schon dunkel. Foto: Mirko Lux


    Was für ein Erwachen am Freitag, was für ein Schock. Es wird dauern, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu verarbeiten. Bei einem Treffen von Politik-Interessierten auf dem Kreuzberg in Berlin diskutierten wir, was jetzt zu tun ist. Hier ein paar Beobachtungen...

    Von Alexander Wragge

    Eine neue Zeit des Gestaltens

    Es war schon in den vergangenen Monaten zu spüren. Bei vielen Menschen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis wird das Gefühl stärker, dass etwas “nicht stimmt” mit unserer europäischen Gesellschaft. Viele wollen die politischen Entwicklungen nicht länger nur beobachten und einfach so hinnehmen. Wir merken es selbst bei unseren Treffen und online. Das Interesse wächst, sich zu vernetzen und gemeinsam politisch einzubringen: mit Empathie, Kritik, Ideen, Protest, Aktionen. Der Brexit zeigt uns jetzt: die über Jahre so erstarrt und alternativlos wirkende EU ist über Nacht änderbar. Gestalten wir sie nicht selbst in unserem Sinne, vollenden Marine Le Pen, Geert Wilders und Co. ihr Zerstörungswerk auf Kosten unserer Generation.

    Der Generationenkonflikt

    Es lässt sich lange analysieren, wer warum den Brexit gewählt hat. Wir diskutierten zahlreiche Beweggründe, vom Hass vieler Briten auf Polit- und Bildungseliten bis zu den Demokratie-Defiziten der EU.

    Klar ist: den Brexit haben die über 65-Jährigen zu verantworten. Die Jüngeren wünschten sich eine Zukunft in der EU. Von den unter 24-Jährigen wollten laut einer Umfrage vor der Wahl nur 24 Prozent für Leave stimmen. Wir dürfen die jüngeren Bremain-WählerInnen jetzt nicht allein lassen. Auch das gehört dazu, eine europäische Generation zu sein.

    Unsere Forderung: gebt allen Briten, die dies wünschen, einen EU-Pass, im Schnellverfahren (das wäre rechtlich möglich). Sie sollten nicht dafür büßen müssen, was die Älteren angerichtet haben. Gemeinsame europäische Programme wie Erasmus sind auch nach dem Brexit fortzuführen. Und auch wenn es lange dauern kann: Eine europäische ‘Wiedervereinigung’ muss möglich bleiben. Ein Teilnehmer unserer Runde spitzte es so zu: “Ihr könnt zurückkommen, wenn Oma tot ist”. Bis dahin rufen wir EU-BürgerInnen auf: Marry a brit.

    Foto

    Die Kommunikation kann so nicht weitergehen

    Seit Jahrzehnten haben britische Boulevardmedien und Akteure wie Nigel Farage das europäische Projekt in den Dreck gezogen. Es gibt viele Hinweise darauf, das weite Teile der Bevölkerung nie wirklich verstanden haben, wie Entscheidungen in der EU bislang gefällt wurden, nämlich unter maßgeblicher Mitwirkung der britischen Regierung, britischer Beamter in der EU-Kommission und der britischen Abgeordneten im EU-Parlament. Es gelang in all den Jahrzehnten ganz offensichtlich nicht, in Großbritannien eine breite Identifikation mit dem EU-System zu stiften. Die EU wurde als das fremde, nicht als das eigene erlebt.

    Nun können wir sagen, die Brexit-Populisten haben im Wahlkampf gnadenlos vereinfacht, verdummt und unverschämt gelogen. Wir können sagen, die Briten wussten gar nicht was sie tun. Sie dachten, sie befreien sich von einer “Brüsseler Diktatur”, von einem grotesken Zerrbild europäischer Zusammenarbeit, das ihnen Demagogen über Jahrzehnte eingeredet hatten. Erst nach der Entscheidung fingen viele an zu googeln, was diese Eueropäische Union überhaupt ist und wie sie funktioniert.

    Doch wenn wir die Brexit-Mehrheit für mehr oder minder unzurechnungsfähig erklären, nicht ernst nehmen, dann drücken wir uns vor vielen wichtigen Debatten, die nun zu führen sind. Eine grundsätzliche Frage lautet: Warum fällt es so vielen Menschen so schwer, die eigenen Interessen und das (europäische) Gemeinwohl durch die EU-Insitutionen, durch Rat, Kommission und Parlament vertreten zu sehen?

    Wir können es uns hier leicht machen und sagen: die EU funktioniert eigentlich gut, sie hat nur ein Vermittlungsproblem. Aber selbst dann muss sich nun etwas grundlegend ändern, nämlich die Kommunikation von EU-Politik. Wann antworten nationale PolitikerInnen zum Beispiel endlich auf den ewigen Vorwurf der Brüsseler Regulierungswut? Wann sagen sie endlich, dass es natürlich Sinn macht, in einem gemeinsamen Markt einheitliche Standards für Kopfkissen, Glühbirnen und Duschköpfe zu definieren, statt 27 verschiedene? Wann machen sie das nationale Mitwirken an diesen EU-Standards endlich transparent, genauso wie den Einfluss zahlreicher Interessengruppen? Der Grundsatz-Konflikt “Regulierung vs. Deregulierung” gehört am Ende eigentlich ins europäische Parlament und ist politisch zu entscheiden. Wer ein Problem mit Vorschriften hat, zum Beispiel mit Stromspar-Vorgaben für Staubsauger, kann seine europäischen VolksvertrerInnen entsprechend wählen und bearbeiten. Er muss dafür nicht gleich die ganze EU infrage stellen und den Austritt anstreben. Es wird nun spannend zu sehen, ob Großbritannien nun auf Produktvorschriften ganz verzichtet, wo man die “EU-Diktatur” losgeworden ist.

    Die Kommunikation von Politik muss künftig endlich die entscheidenden Fragen klären. Wer trägt für was die politische Verwantwortung? Wie verläuft der politische Wettbewerb um die EU-Gesetzgebung. Anstatt einfach nur Politikergebnisse und europäische Errungenschaften wie die Reisefreiheit mehr oder minder überzeugend zu “verkaufen” könnten auch die souveränen EU-BürgerInnen selbst endlich ins Zentrum der gesamten Kommunikation rücken. Wissen sollte ich als EU-BürgerIn, wie ich meine Interessen rechtzeitig vertrete und vertreten lasse, nicht nur im EU-Parlament oder durch meine nationale Regierung, sondern zum Beispiel auch durch meine regionalen VertreterInnen, die immerhin die EU-Fördermittel für meine Region beantragen. Im besten Fall realisieren wir auch unseren Einfluss als europäische Zivilgesellschaft, die jederzeit frei ist, sich europäisch zu vernetzen, sich mit Forderungen und Protesten einzumischen.

    In welcher EU wollen wir leben?

    Nun kam in unserer Runde auch Skepsis auf, ob eine neue Vermittlung wirklich die Probleme löst. Reicht es aus, einfach unser EU-Bürgertum zu entdecken und stark zu reden? Wecken wir damit nicht bei uns und anderen Teilhabe-Erwartungen, die von dieser EU gar nicht einzulösen sind? Die Demokratiedefizite der EU sind schließlich keine Erfindung von Populisten. Sie füllen seit Jahrzehnten Regale in den Bibliotheken. Demokratie funktioniert in dieser EU immer noch maßgeblich über die nationale Wahl von nationalen Regierungsmitgliedern in den Rat. Viele Ideen, Interessen und Gegenargumente bleiben so bei der europäischen Entscheidungsfindung auf der Strecke. Gemeinsame grenzüberschreitende Anliegen (zum Beispiel die der jungen Generation Europas) werden kaum sichtbar. Sie sind nur schwer zu mobilisieren und zu vertreten. Doch was folgt aus der Erkenntnis, dass diese EU noch nicht perfekt und noch lange nicht fertig ist?

    Aus Angst vor reaktionärem Rechts-Populismus, Nationalismus und Chauvismus in der EU werden nun sicher einige PolitikerInnen einen Rückbau oder die reine Verteidigung des Status Quo fordern. Beides sind für uns keine verlockenden Optionen. Rückbau wohin? In den nationalen Mief, den uns AfD, FPÖ und Front National als Zukunft verkaufen? Im Umlauf sind zahlreiche Reformideen für Europa (beispielsweise die “Europäische Republik” von Ulrike Guerot). Als Europas junge Generation können wir uns diese Reformideen zumindest anschauen, sie kritisch diskutieren, eigene Vorstellungen entwickeln, und probieren, diese Zeitenwende (mit Aktionen) selbst zu gestalten. Und vielleicht gibt es ja gemeinsam noch ein paar EU-Referenden zu gewinnen, in den Niederlanden, in Frankreich...

    P.S. Wer Lust hat, sich zu vernetzen und zu diskutieren melde sich bei: redaktion@publixphere.net.


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