Hinweis der Redaktion: In der Publixphere-Diskussion zum Thema "Braucht Europa eine Einheitssprache?" brachte Userin "Ingeborg" folgenden Aspekt ins Spiel:
Was für mich auch zum Thema "Europas Sprache" gehört, ist das viele Fachchinesisch, das es den Bürgern so schwer macht, mitzudenken. ESF, EFSF, ESM, OMT, und so weiter und sofort. Da kommt der Verdacht auf, dass die Bürger vielleicht bewusst vom Diskurs der "EU-Profis" ausgeschlossen werden sollen. Das ist ja in jeder "Expertensekte" so, von den Juristen bis zu den Medizinern und Soziologen.
Die Redaktion hat den Bundestagsabgeordneten Diether Dehm (Linkspartei) auf unsere Sprachdiskussion aufmerksam gemacht, da sich auch Dehm (Foto) mit der Sprache in der EU-Politik befasst. Dehms ausführliche Antwort weist über das Sprachproblem hinaus und kann nun hier diskutiert werden:
"Ich werde meine Anmerkungen zum Thema nicht nur auf die Verständlichkeit - oder Unverständlichkeit - von Sprache beschränken, sondern sehe dieses zu beobachtende Phänomen als Bestandteil eines weiter gefassten Problems.
In bemerkenswerter Offenheit fasste der damalige Premierminister Luxemburgs, Jean Claude Juncker, das Grundprinzip, in der EU Politik zu machen, wie folgt zusammen: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." (Quelle: Der SPIEGEL 52/1999 vom 27. Dezember 1999, S. 136)
So dreist, so alltäglich, so wahr. Und beileibe kein reines Brüsseler Phänomen. Diese Aussage eines führenden Politikers in der EU, Juncker war immerhin jahrelang Chef der Eurogruppe und ist jetzt wieder Spitzenkandidat der EVP für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai, ist an Respektlosigkeit und Arroganz eigentlich nur schwer zu überbieten.
Das elitäre Mittel der Ausgrenzung durch den Gebrauch von Fachtermini, die selbst europapolitisch Gebildete kaum mehr verstehen, wird hier implizit als gängiges Mittel der EU-Politik von einem ihrer führenden Akteure freimütig eingeräumt. Junckers Einlassung „weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde“ spielt darüber hinaus auch auf die Unübersichtlichkeit von Zuständigkeiten und auf vorhandene Verflechtungen im Mehrebenensystem EU an.
Nun ist man ja geneigt zu fragen: Wieso trauen die sich das? Leisten kann sich „Brüssel“, eigentlich die Kommission so etwas auch deshalb, weil sie sich bisher nie direkt vor den Bürgerinnen und Bürgern der EU durch eine Wahl verantworten musste. Bei den dieses Jahr anstehenden Europawahlen, so die gängige Lesart, wird es zum ersten Mal so sein, dass die Fraktion, welche das stärkste Ergebnis einfährt, auch den Kommissionspräsidenten (den Regierungschef der EU sozusagen) stellen soll – damit also so etwas wie eine Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger erfolgt. (Allerdings besagt Artikel 17, Absatz 7 des EU-Vertrags wortwörtlich: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“ – eindeutig ist auch das nicht!)
Was vielen Bürgerinnen und Bürgern zudem nicht immer gegenwärtig ist: Der „Apparat Brüssel“ und „die Kommission“ agieren keinesfalls ohne Rückendeckung des Europäischen Rates, also der Staats- und Regierungschefs in der EU. Maßnahmen, die diese auf nationaler Ebene nicht durchsetzen können, da die Mehrheit der Bevölkerung sie ablehnen würde, werden dann gerne mal quasi „über Bande gespielt“ und ihre Durchsetzung erfolgt über den „Umweg Brüssel“.
Und wenn selbst Fachchinesisch nicht weiterhülfe, weil eine entsprechend große kritische Öffentlichkeit aufmerksam die Wortungetüme unter die Lupe nähme, wird – wie aktuell im Fall der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen (TTIP) der EU mit den USA – geheim verhandelt. Geheim allerdings nur für die Bürgerinnen und Bürger – nicht für die Lobbyisten aus Wirtschaft und Finanzwelt.
Die Zusammenhänge, die ich hier kurz skizziert habe (kein gemeinsamer öffentlicher Diskurs aufgrund von Sprachbarrieren und/oder verkomplizierter Sprache und ein signifikantes Demokratiedefizit), hat der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch in den neunziger Jahren als „Postdemokratie“ beschrieben. Er sah allerdings als massivstes Problem für die Demokratie die „Rückkehr der politischen Privilegien für bestimmte Unternehmer – unter dem Deckmantel der Rhetorik der Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs“ an. Womit wir wieder bei den Geheimverhandlungen zum TTIP – welches meine Fraktion und ich vehement ablehnen – wären.
Sie sehen also – mit einfacher/verständlicher Sprache ist noch längst nicht alles gut – es wäre aber ein Anfang. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass das Wahlprogramm meiner Partei ein „Glossar“ enthält, in dem einige Begriffe, auf die auch im Programm Bezug genommen wird, Erläuterung finden."
Zur Person: Diether Dehm ist Bundestagsabgeordneten der Linken aus Niedersachsen. Er ist europapolitischer Sprecher seiner Fraktion und Mitglied des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU. Seit Ende 2010 ist Dehm außerdem Schatzmeister der Europäischen Linken.