Ein Beitrag von Stefan Leibold Link: https://publixphere.net/i/publixphere-de/user/Stefan/about
Warum wollen die USA und die EU jetzt ein Freihandelsabkommen? Hintergrund sind veränderte Kräfteverhältnisse auf dem Weltmarkt: China und andere Schwellenländer gewinnen, EU und USA verlieren an Bedeutung. Die Länder Süd- und Ostasiens konnten ihren Weltmarktanteil von gut einem Drittel auf mehr als die Hälfte steigern. Diese verloren gegangenen Anteile und damit verbundenen Profite wollen EU und USA zurückerobern. Dafür versprechen sie einiges: Bis 2027 sollen 2 Millionen Jobs weltweit entstehen, 180.000 in Deutschland. Das ist angesichts der (erheblich geschönten) Arbeitslosenzahlen im Millionenbereich nicht gerade viel. Auch das von der EU-Kommission angenommene Wirtschaftswachstum von 0,5% beträgt über 10 Jahre gerade mal 0,05% im Jahr.
Aber werden sich diese Erwartungen überhaupt erfüllen? Hier ist ein Blick auf die Nordatlantische Freihandelszone (NAFTA) interessant. Am 1. Januar 1994 trat das Abkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Kraft. Wenn man sich die Entwicklung anschaut, hat sich zwar der Handel zwischen den Mitgliedern erhöht, aber die Folgen für die Menschen sind nicht positiv: So hat hochsubventionierter US-Mais zum Ruin vieler Kleinbauern in Mexiko geführt; statt neue Arbeitsplätze in den USA zu schaffen, vernichtete NAFTA nach Auskunft des Economic Policy Institute deren 700.00. Gewinner des NAFTA sind in erster Linie Investoren und Konzerne.
Dass es genau darum geht, sieht man am im TTIP vorgesehenen Investitionsschutz: Mit dem Ziel des Schutzes „legitimer Gewinnerwartungen“ genießen die Konzerne Schutz vor direkter und indirekter Enteignung einschließlich des Rechts auf Entschädigung. Sie können also Staaten verklagen, wenn diese ihre Gewinninteressen schmälern. Was heißt aber „indirekte Enteignung“? Diese geschieht z. B. durch strengere Umweltgesetze im anderen Wirtschaftsblock. Dazu würden die Anhebung der ägyptischen Mindestlöhne und ein Moratorium gegen Fracking in Kanada zählen. Konzerne können, wenn sie sich in dieser Weise enteignet fühlen, ein „Investor-Staat- Schiedsgerichtsverfahren“ anstrengen. Hoch bezahlte Wirtschaftsanwälte entscheiden dann anonym über Schadenersatz, den die Staaten zahlen müssen-aus Steuergeldern natürlich. Eine Kontroll- oder Revisionsinstanz gibt es nicht. Die Entscheidungen sind bindend für Bund, Land und Gemeinden.
Märkte sollen geöffnet und dereguliert werden: etwa im Bereich Landwirtschaft und Ernährung (hier geht es um die relativ hohen EU-Standards für Lebensmittel, „Chlorhähnchen“ und genetisch veränderte Lebensmittel sind z. B. bisher in der EU verboten), im Bereich Dienstleistungen (hier steht die staatliche Förderung von Bildung und Gesundheit, Wasser, Energie und Verkehr auf dem Spiel) oder im Bereich der öffentlichen Beschaffung (das, was Bund, Länder und Kommunen brauchen), in dem die Förderung regionaler Wirtschaft eine Diskriminierung darstellt. Der Druck auf die Löhne und die regulären Beschäftigungsverhältnisse ist ein Bereich, der die Gewerkschaften beim TTIP umtreibt. Die Brisanz der Regelungen sollte deutlich geworden sein, und man versteht auch, dass die Verhandlungen im Geheimen stattfinden und nur durch Indiskretion bekannt wurden.
Jetzt ist anzunehmen, dass die Verhandlungen so erfolgreich nicht sein werden und vieles scheitert. USA und EU könnten sich zunächst nur auf Standards einigen, die wenig Verhandlungsaufwand erfordern, z. B. Auf die Leuchtfarbe von Autoblinkern. Trotzdem warnen NGOs vor den Verfahrensweisen, auf die sich Amerikaner und Europäer verständigen könnten, um sich langfristig weiter anzunähern. Das TTIP soll nämlich als "living agreement" gestaltet werden. Das heißt bei jeder neuen Gesetzesinitiative müsste frühzeitig geprüft werden, ob sie einen "wesentlichen" Einfluss auf den transatlantischen Handel hätte. Derartige Klauseln würden es den europäischen und amerikanischen Konzernen erlauben, ihr Lobbying extrem auszuweiten, weil sie auf beiden Kontinenten ständig einbezogen werden müssten. Solche formalen Regeln sind gefährlich, wie man an den bereits bestehenden Investorenschutzklauseln sieht, von denen es mehr als 3.200 gibt und die es bspw. Vattenfall ermöglichten, die Bundesrepublik auf 3,7 Mrs. Euro Schadenersatz zu verklagen, weil die Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel vorzeitig abgeschaltet wurden. Auch wenn die Verhandlungen vordergründig scheitern, sind und bleiben die Staaten im Zangengriff großer Konzerne. Und genau dies treiben sie selbst seit Jahren aktiv u. a. mit den wirtschaftspolitischen Vereinbarungen in der EU voran. Die fortschreitende Auflösung der Mitbestimmung der Bürger über ihr Schicksal wird von den meisten Menschen offenbar einfach hingenommen.
Stefan Leibold, attac Münster