Position: Dokumentation: Bericht über die Auftaktveranstaltung

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Bericht AuftaktveranstaltungFoto & Teaser: ©Joanna Scheffel Photography

Am 26. November 2013 fand der Auftakt der Veranstaltungsreihe “Europäischer Salon” in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung statt. Prof. Dr. Christian Calliess, LL.M. diskutierte mit den Podiumsgästen über Europäische Werte, nationalen Populismus und die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit. Vorbereitet wurde die Veranstaltung auf der neu etablierten Internetplattform salon.publixphere.de. Hier wurden vorab die von den Podiumsgästen eingereichten Statements kritisch hinterfragt und auch weiterführende Aspekte kontrovers diskutiert. Im Mittelpunkt des Europäischen Salons steht die Debatte junger Europäer mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft und Medien - online und offline.

Über 150 Veranstaltungsteilnehmer aus der Fachöffentlichkeit sowie Studenten und Schüler fanden sich zum Auftakt im Atrium der Stiftungsrepräsentanz zur Diskussion mit dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Georg Link, dem Vorsitzenden des EU-Ausschusses, Gunther Krichbaum, dem Verfassungsrechtler und Mitglied des Wissenschaftskollegs Berlin, Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M. sowie Daniel Fazekas, Mitglied der ungarischen Bewegung “Milla - eine Million für die Pressefreiheit”, ein. Die ebenfalls eingeladene Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding, konnte zwar nicht kommen, sendete zur Eröffnung aber eine Videobotschaft, in der sie die Bedeutung der direkten Einbindung der Bürger in die Zukunftsdebatte in Europa betonte, bevor große Reformen und neue Strukturen angegangen werden können: “Gerade junge Menschen müssen [dabei] beginnen, diese Debatte als eine Diskussion über ihr Europa zu sehen.”

In der zweistündigen Diskussionsveranstaltung standen neben der Notwendigkeit einer starken europäischen Öffentlichkeit vor allem europaweit zunehmende populistische Tendenzen und ihre möglichen Grenzen im Fokus. Prof. Calliess stellte eingangs die europäischen Werte als eine solche Grenze zur Diskussion. Er fragte, ob die EU die in Art. 2 des EUV genannten Werte in Unionsaufsicht in den Mitgliedstaaten durchzusetzen habe und inwieweit das bestehende Instrumentarium hierfür ausreicht. In ihren jeweiligen Eingangsstatements setzten sich dann die Podiumsgäste mit der so aufgeworfenen Frage nach Existenz und Durchsetzung europäischer Werte eingehend auseinander.

(PodiumsgästeDas Podium des 1. Europäischen Salons. Foto&Teaser: ©Joanna Scheffel Photography

Staatsminister Link erläuterte zu Beginn den vom Auswärtigen Amt unterstützten Vorschlag, durch eine “Grundwerte-Initiative” - auch als “Rechtsstaatsinitiative” bekannt - einen politischen Monitoringmechanismus zu schaffen, der für die Einhaltung der europäischen Werte durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Sorge tragen kann. Es handelt sich dabei um eine gemeinsame Initiative der Außenminister Deutschlands, Dänemarks, Finnlands und der Niederlande, der sich mittlerweile viele Mitgliedstaaten angeschlossen haben und die auch von der Europäischen Kommission aufgegriffen wurde. Letztere werde diesbezüglich in der ersten Jahreshälfte 2014 ihren Umsetzungsvorschlag unterbreiten. Für Staatsminister Link vernachlässigt die EU bisher noch die Arbeit an der gemeinsamen Wertebasis. Um Grundwerteverstößen entgegenzuwirken, reiche einerseits der öffentlich durch die Medienberichterstattung ausgeübte Druck nicht aus, andererseits seien Sanktionen im Ministerrat nicht durchsetzbar, dies sei bereits mehrfach von mitgliedstaatlicher Seite signalisiert worden. Ein politischer Frühwarnmechanismus wie die Rechtsstaatsinitiative sei aber auch nicht “zahnlos”. Der Ministerrat müsse ein effektives Instrument bekommen, um Grundwerteverstöße identifizieren und frühzeitig eingreifen zu können. Vielleicht wäre es im Falle Ungarns dann auch gar nicht erst zu den problematischen Maßnahmen gekommen, konstatierte Staatsminister Link. In diesem Zusammenhang wies er aber auch darauf hin, dass die Grundwerte-Initiative unterschiedslos alle Mitgliedstaaten einschließen solle. Ziel sei es, die Lücke zwischen dem noch nie angewandten Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV und dem Vertragsverletzungsverfahren mit einem politisch leicht handhabbaren Instrument zu schließen. Prof. Calliess fragte daraufhin, ob nicht durch ein “systematisches Vertragsverletzungsverfahren” das Vertragsverletzungsverfahren für einen effektiven Grundwerteschutz fruchtbar gemacht werden könne. Dies solle ermöglichen, dass viele kleine Verletzungen sich zu einem Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit, einem der Werte aus Art. 2 EUV, addieren. Weiterhin könne über diese Sanktionen eine Drohkulisse aufgebaut werden. Staatsminister Link schloss Sanktionen nicht konsequent aus, sofern diese als Ergebnis eines politischen Prozesses unter Beteiligung aller Institutionen eingeführt würden. Die Grundwerte-Initiative sei ein Instrument, das zunächst politisch wachsen müsse.

Dem Gedanken des politischen Prozesses stimmte Prof. Möllers zu: Es müsse mit einer Politisierung begonnen werden. Die EU solle dabei in kleinen Schritten vorgehen. Ein innenpolitischer Prozess sei der Ausgangspunkt. Er kritisierte in diesem Zusammenhang die “Tendenz in der europäischen Integration, Politik zu verrechtlichen und Recht zu moralisieren”, und beleuchtete die Existenz einer europäischen Wertegemeinschaft kritisch - bei vielen Fragen herrsche in Europa eben gerade kein Konsens für ein gemeinsames Handeln, wie der Syrienkonflikt verdeutliche. Prof. Möllers hinterfragte, ob es tatsächlich eine Grenze zwischen Populismus und Demokratie, die ja auch einer der Grundwerte des Art. 2 EUV ist, geben könne. “Populismus ist klassischerweise Klientelwirtschaft, man bietet den Leuten was Nettes an, damit sie einen wählen. Frau Reding hat gerade gesagt, es gibt billigere Roaminggebühren, also das scheint mir eine klassische populistische Figur zu sein, mit der man sagt: ‘Wenn ihr für Europa seid, dürft ihr billiger telefonieren.’ Ist völlig in Ordnung aber das ist eigentlich nicht das, was wir unter einem normativen Demokratiekonzept verstehen.” Populismus könne für ihn ein Mobilisierungsfaktor, ein notwendiges Element von Demokratie sein.

Nach der Beitrittsvoraussetzung und Durchsetzbarkeit des Wertekanons des Art. 2 EUV gefragt, rief Gunther Krichbaum die Kopenhagener Kriterien in Erinnerung, die von jedem beitrittswilligen Staat gemäß Art. 49 EUV zu berücksichtigen sind. Aber was kommt nach dem Beitritt? Für Krichbaum zeigen die Beispiele Rumäniens, Kroatiens oder Bulgariens, dass dringend Handlungsbedarf bestehe. Leider sei man aber erst jetzt so richtig aufgewacht.

Es schloss sich notwendig die Frage danach an, ob die Einmischung in eigene nationale Angelegenheiten in den Mitgliedstaaten denn überhaupt begrüßt wird. Hinsichtlich Ungarn bezog Daniel Fazekas, Gründungsmitglied der ungarischen Bewegung “Milla - eine Million für die Pressefreiheit”, Stellung. Die Beantwortung der Frage hänge davon ab, wen man frage: In Regierungspropaganda und Massenmedien werde die EU dämonisiert. Zudem werde propagiert, dass es dem Westen äußerst schlecht gehe. Die andere Seite der Bevölkerung wolle jedoch, dass die EU ihre Rechte schützt. Insgesamt habe die EU aber schon sehr positiv auf die Entwicklungen in Ungarn eingewirkt, meint Fazekas, so zum Beispiel durch das “Zurückzupfen” des Mediengesetzes. Fazekas stellte die Bewegung “Milla” kurz vor, die sich zunächst lediglich als eine zivilgesellschaftliche Plattform betrachtete - “im Grunde auf der Verbraucherseite der Politik”. Ihr Ziel war es, über ihre Facebookseite, durch Protestorganisationen sowie Informationen das Bewusstsein einer neuen politischen Generation zu schaffen. In ihrem 12-Punkte-Plan “Minimum Plus” findet sich als ein Aspekt auch die Einhaltung der Grundrechte und der europäischen Werte. Mittlerweile ist ein Strang von Milla sogar politisch aktiv. Zusammen mit dem ehemaligen ungarischen Premierminister Gordon Bajnai und der Gewerkschaftsgruppe “Solidarität” haben sie die Koalition “Zusammen 2014” gegründet.

CalliessProf. Calliess, Moderator der Podiumsdiskussion. Foto & Teaser: ©Joanna Scheffel Photography

Prof. Calliess warf daraufhin die Frage auf, ob die EU nicht in einem Dilemma sei, weil sie entweder zu viel oder zu wenig eingreife. Krichbaum erwiderte, dass ein Handeln der EU zwar oft als Einmischung in innere Angelegenheiten artikuliert werde, es jedoch keine sei, da spätestens seit dem Vertrag von Lissabon alle Bürger der Mitgliedstaaten auch Unionsbürger seien und die Kommission deren europäische, in der Grundrechte-Charta garantierten Bürgerrechte zu schützen und zu verteidigen habe.

Als nächstes wurde darüber diskutiert, dass die USA in Bezug auf die Einhaltung der europäischen Werte in Ungarn im Vergleich zur EU größere Präsenz zeigten. Prof. Möllers äußerte dabei seinen Eindruck, dass bestimmte Formen von politischer Handlungsfähigkeit, die man aus dem Bereich des Völkerrechts kenne, scheinbar vom Tisch seien. Als Gründe dafür sah er den derzeitigen Punkt des europäischen Integrationsprozesses sowie den hohen Grad an Verrechtlichung und Verflechtung der EU an. Die Möglichkeiten der USA, z.B. Zahlungen einzustellen, habe man innereuropäisch scheinbar nicht mehr, was zwar kein Argument gegen die EU sei, aber eine der vielen Ironien des Prozesses aufzeige. Krichbaum erwiderte, dass die Bundesrepublik die Möglichkeiten der USA nicht habe. Es müsse eine Balance gefunden werden zwischen der Existenz von roten Linien und der Möglichkeit zur Erzeugung eines ausreichenden politischen Drucks, da alle Mitgliedstaaten in der EU auf Dauer miteinander verbundene Partner seien. Staatsminister Link plädierte im Zuge dessen für eine gemeinsame Verteidigung der Werte.

Im Rahmen der offenen Diskussionsrunde mit dem Publikum kamen gerade von den vielen jungen Gästen sehr “europäische” Fragen nach der europäischen Identität und damit der Vermittlung Europas, der Ungleichbehandlung von Mitgliedstaaten bei der Thematisierung von Werteverstößen und der Grenze zwischen Populismus und knallharter Interessensvertretung auf.

PublikumsfrageFrage aus dem Publikum. Foto &Teaser: ©Joanna Scheffel Photography

Einigkeit herrschte beim Thema europäische Identität darüber, dass diese erst im Werden sei. Identitätsbildung müsse von jedem Einzelnen selbst ausgehen, sie könne nicht von der EU vorgeschrieben werden, so Prof. Möllers. Die fehlende Identität lasse sich auch in den Fehlkonstruktionen der EU suchen, beispielsweise durch den indirekten Vollzug, der dazu führe, dass die EU nicht sichtbar sei.

Krichbaum und Staatsminister Link waren sich einig, dass im Falle des Werteschutzes nicht mit zweierlei Maß gemessen werden sollte. Staatsminister Link brachte zur Vermeidung doppelter Standards erneut die Grundwerteinitiative ins Gespräch, da gerade ein politisches Vorgehen der richtige Weg sei. Prof. Möllers hingegen sah einen Unterschied in der Behandlung von Ungarn und einem “Alt”-Mitgliedstaat wie z.B. Frankreich. Mit Ungarn könne man anders umgehen als mit Frankreich, aber gerade deswegen sei der Vorstoß des Auswärtigen Amtes, zunächst nur politisch zu agieren, so “klug”.

Für Prof. Möllers ging es primär nicht um eine Vermittlung Europas, sondern vielmehr um reale, objektive Probleme. Er plädierte dafür, Probleme nicht zu medialisieren und stellte dabei auch das Internet als Raum für eine politische Debatte in Frage: “Worüber redet man im Internet am liebsten? - über das Internet! [...] Medien sind selbstreferenziell.” Dem wurde aus dem Publikum entgegengesetzt, dass dies eine Unterschätzung des Potenzials des Internets sei, politische Debatte zu verändern und auch den Wertediskurs in Europa voranzubringen.

Zur Grenze zwischen Interessenvertretung und Populismus äußerte Staatsminister Link, dass Populismus in Nationalismus übergehe und Feindbilder brauche und benutze, Interessenvertretung hingegen Regeln brauche und benutze. Prof. Möllers sah Populismus als ein vielleicht auch notwendiges Element der Demokratie, das als Mobilisierungsfaktor fungieren könnte.

Mayte PetersDr. Mayte Peters, Publixphere e.V., bringt Beiträge der Online-Community ein. Foto & Teaser: ©Joanna Scheffel Photography

Aus der Online-Debatte, die vorab auf salon.publixphere.de geführt wurde, brachte Mayte Peters (Publixphere e.V.) drei Kernaussagen in die Diskussion ein: Zum ersten dürfe Populismus nicht einfach abgetan werden, sondern es müsse eine kritische Debatte - auch um populistische Themen - geführt werden dürfen. Zum zweiten entstehe eine europäische Öffentlichkeit gerade um die Debatten über Werte und Populismus. Zum dritten reiche der pauschale Rekurs auf europäische Werte nicht aus. Werte müssten jedoch auch vermittelt werden können. Aber was bedeuten die Werte tatsächlich im Alltag der Menschen? Das Internet sei nicht nur Facebook und Twitter, so Peters - und die Bereiche, in denen wir es bislang geschafft hätten, den europäischen Raum zu politisieren, beispielsweise in der ACTA-Debatte, waren Debatten, die über eine Verlinkung verschiedener Plattformen funktionierten. Dadurch wurde eine länderübergreifende Aufmerksamkeit geschaffen. Wie das Beispiel der ungarischen Bewegung “Milla” zeige, reiche der nationale Raum scheinbar nicht immer aus, um etwas zu bewegen, sondern es bedürfe eines internationalen Drucks. An Staatsminister Link gerichtet fragte Mayte Peters: “Sie haben gesagt, wir müssen Verantwortungsräume schaffen und zwar einen lokalen, einen regionalen und einen mitgliedstaatlichen. Wo bleibt der europäische?” Das Problem bestehe darin, dass der Raum der europäischen Demokratie nicht politisiert werde. Außerdem würde die Debatte auf einem hohen Niveau geführt, mit dem man den Großteil der Bürger sowie diejenigen nicht erreichen könnte, die sich für bestimmte Themen interessieren und nicht mehr nur für die Institutionen Europas. Gerade in diesen Bürgern liege aber die Chance Europas.

Abschließend ging Daniel Fazekas auf die Internetverlinkung ein. Er betonte, dass für Bewegungen wie “Milla” entscheidend sei, dass überhaupt Debatten geführt werden und wenn schon nicht in Budapest, dann egal wo. “Milla” versuche über verschiedensprachige Facebookseiten, Nachrichten über Ungarn ins Netz zu stellen. Das Problem dabei sei jedoch, dass es zwei Sphären von Öffentlichkeit gebe. Es habe oft keinen Sinn, nationale Probleme im Ausland zu erklären, wohingegen in Ungarn sie jeder versteht. Weiterhin warf er die Frage auf, wen es außerhalb von Ungarn überhaupt interessieren würde. Bürger anderer Mitgliedstaaten seien empfänglicher für die populistische Sichtweise, dass Ungarn nicht pluralistisch oder demokratisch sei.

In seinen Schlussworten kam Prof. Calliess auf das dem Europäischen Salon zugrundeliegende Konzept zurück: “Inwieweit kann das Internet hier tatsächlich dazu beitragen, dass wir eben den demokratischen Raum weiten, die Diskussionssphäre weiten, zu einer europäischen Öffentlichkeit kommen über das Internet? Das ist sicherlich eine Frage, die uns weiter beschäftigen wird, auch im Europäischen Salon.”

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1 ![Bericht
2 Auftaktveranstaltung](https://publixphere-cms.publixphere.de
3 /de/salon-bilder/c-joanna-scheffel-960-x-350.jpg/@@images/im
4 age.jpeg)
5 *Foto & Teaser: ©Joanna Scheffel Photography*
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8 Am 26. November 2013 fand der Auftakt der
9 Veranstaltungsreihe “Europäischer Salon” in der Berliner
10 Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung statt. *Prof. Dr.
11 Christian Calliess, LL.M.* diskutierte mit den Podiumsgästen
12 über Europäische Werte, nationalen Populismus und die
13 Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit. Vorbereitet
14 wurde die Veranstaltung auf der neu etablierten
15 Internetplattform
16 [salon.publixphere.de](https://publixphere.de/i/salon/instan
17 ce/salon). Hier wurden vorab die von den Podiumsgästen
18 eingereichten Statements kritisch hinterfragt und auch
19 weiterführende Aspekte kontrovers diskutiert. Im Mittelpunkt
20 des Europäischen Salons steht die Debatte junger Europäer
21 mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft und
22 Medien - online und offline.
23
24 Über 150 Veranstaltungsteilnehmer aus der Fachöffentlichkeit
25 sowie Studenten und Schüler fanden sich zum Auftakt im
26 Atrium der Stiftungsrepräsentanz zur Diskussion mit dem
27 Staatsminister im Auswärtigen Amt, *Michael Georg Link*, dem
28 Vorsitzenden des EU-Ausschusses, *Gunther Krichbaum*, dem
29 Verfassungsrechtler und Mitglied des Wissenschaftskollegs
30 Berlin, *Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M.* sowie *Daniel
31 Fazekas*, Mitglied der ungarischen Bewegung “Milla - eine
32 Million für die Pressefreiheit”, ein. Die ebenfalls
33 eingeladene Vizepräsidentin der Europäischen Kommission,
34 *Viviane Reding*, konnte zwar nicht kommen, sendete zur
35 Eröffnung aber eine Videobotschaft, in der sie die Bedeutung
36 der direkten Einbindung der Bürger in die Zukunftsdebatte in
37 Europa betonte, bevor große Reformen und neue Strukturen
38 angegangen werden können: “Gerade junge Menschen müssen
39 [dabei] beginnen, diese Debatte als eine Diskussion über ihr
40 Europa zu sehen.”
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42 In der zweistündigen Diskussionsveranstaltung standen neben
43 der Notwendigkeit einer starken europäischen Öffentlichkeit
44 vor allem europaweit zunehmende populistische Tendenzen und
45 ihre möglichen Grenzen im Fokus. *Prof. Calliess* stellte
46 eingangs die europäischen Werte als eine solche Grenze zur
47 Diskussion. Er fragte, ob die EU die in Art. 2 des EUV
48 genannten Werte in Unionsaufsicht in den Mitgliedstaaten
49 durchzusetzen habe und inwieweit das bestehende
50 Instrumentarium hierfür ausreicht. In ihren jeweiligen
51 Eingangsstatements setzten sich dann die Podiumsgäste mit
52 der so aufgeworfenen Frage nach Existenz und Durchsetzung
53 europäischer Werte eingehend auseinander.
54
55 ![(Podiumsgäste](https://publixphere-cms.publixphere.de/de/s
56 alon-bilder/podium-960x350.jpg/@@images/image.jpeg) *Das
57 Podium des 1. Europäischen Salons. Foto&Teaser: ©Joanna
58 Scheffel Photography*
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60 *Staatsminister Link* erläuterte zu Beginn den vom
61 Auswärtigen Amt unterstützten Vorschlag, durch eine
62 “Grundwerte-Initiative” - auch als “Rechtsstaatsinitiative”
63 bekannt - einen politischen Monitoringmechanismus zu
64 schaffen, der für die Einhaltung der europäischen Werte
65 durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Sorge
66 tragen kann. Es handelt sich dabei um eine gemeinsame
67 Initiative der Außenminister Deutschlands, Dänemarks,
68 Finnlands und der Niederlande, der sich mittlerweile viele
69 Mitgliedstaaten angeschlossen haben und die auch von der
70 Europäischen Kommission aufgegriffen wurde. Letztere werde
71 diesbezüglich in der ersten Jahreshälfte 2014 ihren
72 Umsetzungsvorschlag unterbreiten. Für *Staatsminister Link*
73 vernachlässigt die EU bisher noch die Arbeit an der
74 gemeinsamen Wertebasis. Um Grundwerteverstößen
75 entgegenzuwirken, reiche einerseits der öffentlich durch die
76 Medienberichterstattung ausgeübte Druck nicht aus,
77 andererseits seien Sanktionen im Ministerrat nicht
78 durchsetzbar, dies sei bereits mehrfach von
79 mitgliedstaatlicher Seite signalisiert worden. Ein
80 politischer Frühwarnmechanismus wie die
81 Rechtsstaatsinitiative sei aber auch nicht “zahnlos”. Der
82 Ministerrat müsse ein effektives Instrument bekommen, um
83 Grundwerteverstöße identifizieren und frühzeitig eingreifen
84 zu können. Vielleicht wäre es im Falle Ungarns dann auch gar
85 nicht erst zu den problematischen Maßnahmen gekommen,
86 konstatierte *Staatsminister Link*. In diesem Zusammenhang
87 wies er aber auch darauf hin, dass die Grundwerte-Initiative
88 unterschiedslos alle Mitgliedstaaten einschließen solle.
89 Ziel sei es, die Lücke zwischen dem noch nie angewandten
90 Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV und dem
91 Vertragsverletzungsverfahren mit einem politisch leicht
92 handhabbaren Instrument zu schließen.
93 *Prof. Calliess* fragte daraufhin, ob nicht durch ein
94 “systematisches Vertragsverletzungsverfahren” das
95 Vertragsverletzungsverfahren für einen effektiven
96 Grundwerteschutz fruchtbar gemacht werden könne. Dies solle
97 ermöglichen, dass viele kleine Verletzungen sich zu einem
98 Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit, einem der Werte aus
99 Art. 2 EUV, addieren. Weiterhin könne über diese Sanktionen
100 eine Drohkulisse aufgebaut werden. Staatsminister Link
101 schloss Sanktionen nicht konsequent aus, sofern diese als
102 Ergebnis eines politischen Prozesses unter Beteiligung aller
103 Institutionen eingeführt würden. Die Grundwerte-Initiative
104 sei ein Instrument, das zunächst politisch wachsen müsse.
105
106 Dem Gedanken des politischen Prozesses stimmte *Prof.
107 Möllers* zu: Es müsse mit einer Politisierung begonnen
108 werden. Die EU solle dabei in kleinen Schritten vorgehen.
109 Ein innenpolitischer Prozess sei der Ausgangspunkt. Er
110 kritisierte in diesem Zusammenhang die “Tendenz in der
111 europäischen Integration, Politik zu verrechtlichen und
112 Recht zu moralisieren”, und beleuchtete die Existenz einer
113 europäischen Wertegemeinschaft kritisch - bei vielen Fragen
114 herrsche in Europa eben gerade kein Konsens für ein
115 gemeinsames Handeln, wie der Syrienkonflikt verdeutliche.
116 *Prof. Möllers* hinterfragte, ob es tatsächlich eine Grenze
117 zwischen Populismus und Demokratie, die ja auch einer der
118 Grundwerte des Art. 2 EUV ist, geben könne. “Populismus ist
119 klassischerweise Klientelwirtschaft, man bietet den Leuten
120 was Nettes an, damit sie einen wählen. *Frau Reding* hat
121 gerade gesagt, es gibt billigere Roaminggebühren, also das
122 scheint mir eine klassische populistische Figur zu sein, mit
123 der man sagt: ‘Wenn ihr für Europa seid, dürft ihr billiger
124 telefonieren.’ Ist völlig in Ordnung aber das ist eigentlich
125 nicht das, was wir unter einem normativen Demokratiekonzept
126 verstehen.” Populismus könne für ihn ein
127 Mobilisierungsfaktor, ein notwendiges Element von Demokratie
128 sein.
129
130 Nach der Beitrittsvoraussetzung und Durchsetzbarkeit des
131 Wertekanons des Art. 2 EUV gefragt, rief *Gunther Krichbaum*
132 die Kopenhagener Kriterien in Erinnerung, die von jedem
133 beitrittswilligen Staat gemäß Art. 49 EUV zu berücksichtigen
134 sind. Aber was kommt nach dem Beitritt? Für *Krichbaum*
135 zeigen die Beispiele Rumäniens, Kroatiens oder Bulgariens,
136 dass dringend Handlungsbedarf bestehe. Leider sei man aber
137 erst jetzt so richtig aufgewacht.
138
139 Es schloss sich notwendig die Frage danach an, ob die
140 Einmischung in eigene nationale Angelegenheiten in den
141 Mitgliedstaaten denn überhaupt begrüßt wird. Hinsichtlich
142 Ungarn bezog *Daniel Fazekas*, Gründungsmitglied der
143 ungarischen Bewegung “Milla - eine Million für die
144 Pressefreiheit”, Stellung. Die Beantwortung der Frage hänge
145 davon ab, wen man frage: In Regierungspropaganda und
146 Massenmedien werde die EU dämonisiert. Zudem werde
147 propagiert, dass es dem Westen äußerst schlecht gehe. Die
148 andere Seite der Bevölkerung wolle jedoch, dass die EU ihre
149 Rechte schützt. Insgesamt habe die EU aber schon sehr
150 positiv auf die Entwicklungen in Ungarn eingewirkt, meint
151 *Fazekas*, so zum Beispiel durch das “Zurückzupfen” des
152 Mediengesetzes.
153 *Fazekas* stellte die Bewegung “Milla” kurz vor, die sich
154 zunächst lediglich als eine zivilgesellschaftliche Plattform
155 betrachtete - “im Grunde auf der Verbraucherseite der
156 Politik”. Ihr Ziel war es, über ihre Facebookseite, durch
157 Protestorganisationen sowie Informationen das Bewusstsein
158 einer neuen politischen Generation zu schaffen. In ihrem
159 12-Punkte-Plan “Minimum Plus” findet sich als ein Aspekt
160 auch die Einhaltung der Grundrechte und der europäischen
161 Werte. Mittlerweile ist ein Strang von Milla sogar politisch
162 aktiv. Zusammen mit dem ehemaligen ungarischen
163 Premierminister Gordon Bajnai und der Gewerkschaftsgruppe
164 “Solidarität” haben sie die Koalition “Zusammen 2014”
165 gegründet.
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168 ![Calliess](https://publixphere-cms.publixphere.de/de/salon-
169 bilder/calliess-780x350.jpg/@@images/image.jpeg) *Prof.
170 Calliess, Moderator der Podiumsdiskussion.
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174 *Prof. Calliess* warf daraufhin die Frage auf, ob die EU
175 nicht in einem Dilemma sei, weil sie entweder zu viel oder
176 zu wenig eingreife. *Krichbaum* erwiderte, dass ein Handeln
177 der EU zwar oft als Einmischung in innere Angelegenheiten
178 artikuliert werde, es jedoch keine sei, da spätestens seit
179 dem Vertrag von Lissabon alle Bürger der Mitgliedstaaten
180 auch Unionsbürger seien und die Kommission deren
181 europäische, in der Grundrechte-Charta garantierten
182 Bürgerrechte zu schützen und zu verteidigen habe.
183
184 Als nächstes wurde darüber diskutiert, dass die USA in Bezug
185 auf die Einhaltung der europäischen Werte in Ungarn im
186 Vergleich zur EU größere Präsenz zeigten. *Prof. Möllers*
187 äußerte dabei seinen Eindruck, dass bestimmte Formen von
188 politischer Handlungsfähigkeit, die man aus dem Bereich des
189 Völkerrechts kenne, scheinbar vom Tisch seien. Als Gründe
190 dafür sah er den derzeitigen Punkt des europäischen
191 Integrationsprozesses sowie den hohen Grad an
192 Verrechtlichung und Verflechtung der EU an. Die
193 Möglichkeiten der USA, z.B. Zahlungen einzustellen, habe man
194 innereuropäisch scheinbar nicht mehr, was zwar kein Argument
195 gegen die EU sei, aber eine der vielen Ironien des Prozesses
196 aufzeige.
197 *Krichbaum* erwiderte, dass die Bundesrepublik die
198 Möglichkeiten der USA nicht habe. Es müsse eine Balance
199 gefunden werden zwischen der Existenz von roten Linien und
200 der Möglichkeit zur Erzeugung eines ausreichenden
201 politischen Drucks, da alle Mitgliedstaaten in der EU auf
202 Dauer miteinander verbundene Partner seien. *Staatsminister
203 Link* plädierte im Zuge dessen für eine gemeinsame
204 Verteidigung der Werte.
205
206 Im Rahmen der offenen Diskussionsrunde mit dem Publikum
207 kamen gerade von den vielen jungen Gästen sehr “europäische”
208 Fragen nach der europäischen Identität und damit der
209 Vermittlung Europas, der Ungleichbehandlung von
210 Mitgliedstaaten bei der Thematisierung von Werteverstößen
211 und der Grenze zwischen Populismus und knallharter
212 Interessensvertretung auf.
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214 ![Publikumsfrage](https://publixphere-cms.publixphere.de/de/
215 salon-bilder/eu-salon1-publikum-960x350.jpg/@@images/image.j
216 peg)*Frage aus dem Publikum. Foto &Teaser: ©Joanna Scheffel
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219 Einigkeit herrschte beim Thema europäische Identität
220 darüber, dass diese erst im Werden sei. Identitätsbildung
221 müsse von jedem Einzelnen selbst ausgehen, sie könne nicht
222 von der EU vorgeschrieben werden, so *Prof. Möllers*. Die
223 fehlende Identität lasse sich auch in den Fehlkonstruktionen
224 der EU suchen, beispielsweise durch den indirekten Vollzug,
225 der dazu führe, dass die EU nicht sichtbar sei.
226
227 *Krichbaum* und *Staatsminister Link* waren sich einig, dass
228 im Falle des Werteschutzes nicht mit zweierlei Maß gemessen
229 werden sollte. *Staatsminister Link* brachte zur Vermeidung
230 doppelter Standards erneut die Grundwerteinitiative ins
231 Gespräch, da gerade ein politisches Vorgehen der richtige
232 Weg sei. *Prof. Möllers* hingegen sah einen Unterschied in
233 der Behandlung von Ungarn und einem “Alt”-Mitgliedstaat wie
234 z.B. Frankreich. Mit Ungarn könne man anders umgehen als mit
235 Frankreich, aber gerade deswegen sei der Vorstoß des
236 Auswärtigen Amtes, zunächst nur politisch zu agieren, so
237 “klug”.
238
239 Für *Prof. Möllers* ging es primär nicht um eine Vermittlung
240 Europas, sondern vielmehr um reale, objektive Probleme. Er
241 plädierte dafür, Probleme nicht zu medialisieren und stellte
242 dabei auch das Internet als Raum für eine politische Debatte
243 in Frage: “Worüber redet man im Internet am liebsten? - über
244 das Internet! [...] Medien sind selbstreferenziell.” Dem
245 wurde aus dem Publikum entgegengesetzt, dass dies eine
246 Unterschätzung des Potenzials des Internets sei, politische
247 Debatte zu verändern und auch den Wertediskurs in Europa
248 voranzubringen.
249
250 Zur Grenze zwischen Interessenvertretung und Populismus
251 äußerte *Staatsminister Link*, dass Populismus in
252 Nationalismus übergehe und Feindbilder brauche und benutze,
253 Interessenvertretung hingegen Regeln brauche und benutze.
254 *Prof. Möllers* sah Populismus als ein vielleicht auch
255 notwendiges Element der Demokratie, das als
256 Mobilisierungsfaktor fungieren könnte.
257
258 ![Mayte
259 Peters](https://publixphere-cms.publixphere.de/de/salon-bild
260 er/mayte-960x350.jpg/@@images/image.jpeg)*Dr. Mayte Peters,
261 Publixphere e.V., bringt Beiträge der Online-Community ein.
262 Foto & Teaser: ©Joanna Scheffel Photography*
263
264 Aus der Online-Debatte, die vorab auf salon.publixphere.de
265 geführt wurde, brachte *Mayte Peters* (Publixphere e.V.)
266 drei Kernaussagen in die Diskussion ein: Zum ersten dürfe
267 Populismus nicht einfach abgetan werden, sondern es müsse
268 eine kritische Debatte - auch um populistische Themen -
269 geführt werden dürfen. Zum zweiten entstehe eine europäische
270 Öffentlichkeit gerade um die Debatten über Werte und
271 Populismus. Zum dritten reiche der pauschale Rekurs auf
272 europäische Werte nicht aus.
273 Werte müssten jedoch auch vermittelt werden können. Aber was
274 bedeuten die Werte tatsächlich im Alltag der Menschen? Das
275 Internet sei nicht nur Facebook und Twitter, so *Peters* -
276 und die Bereiche, in denen wir es bislang geschafft hätten,
277 den europäischen Raum zu politisieren, beispielsweise in der
278 ACTA-Debatte, waren Debatten, die über eine Verlinkung
279 verschiedener Plattformen funktionierten. Dadurch wurde eine
280 länderübergreifende Aufmerksamkeit geschaffen. Wie das
281 Beispiel der ungarischen Bewegung “Milla” zeige, reiche der
282 nationale Raum scheinbar nicht immer aus, um etwas zu
283 bewegen, sondern es bedürfe eines internationalen Drucks.
284 An *Staatsminister Link* gerichtet fragte *Mayte Peters*:
285 “Sie haben gesagt, wir müssen Verantwortungsräume schaffen
286 und zwar einen lokalen, einen regionalen und einen
287 mitgliedstaatlichen. Wo bleibt der europäische?” Das Problem
288 bestehe darin, dass der Raum der europäischen Demokratie
289 nicht politisiert werde. Außerdem würde die Debatte auf
290 einem hohen Niveau geführt, mit dem man den Großteil der
291 Bürger sowie diejenigen nicht erreichen könnte, die sich für
292 bestimmte Themen interessieren und nicht mehr nur für die
293 Institutionen Europas. Gerade in diesen Bürgern liege aber
294 die Chance Europas.
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296 Abschließend ging *Daniel Fazekas* auf die
297 Internetverlinkung ein. Er betonte, dass für Bewegungen wie
298 “Milla” entscheidend sei, dass überhaupt Debatten geführt
299 werden und wenn schon nicht in Budapest, dann egal wo.
300 “Milla” versuche über verschiedensprachige Facebookseiten,
301 Nachrichten über Ungarn ins Netz zu stellen. Das Problem
302 dabei sei jedoch, dass es zwei Sphären von Öffentlichkeit
303 gebe. Es habe oft keinen Sinn, nationale Probleme im Ausland
304 zu erklären, wohingegen in Ungarn sie jeder versteht.
305 Weiterhin warf er die Frage auf, wen es außerhalb von Ungarn
306 überhaupt interessieren würde. Bürger anderer
307 Mitgliedstaaten seien empfänglicher für die populistische
308 Sichtweise, dass Ungarn nicht pluralistisch oder
309 demokratisch sei.
310
311 In seinen Schlussworten kam *Prof. Calliess* auf das dem
312 Europäischen Salon zugrundeliegende Konzept zurück:
313 “Inwieweit kann das Internet hier tatsächlich dazu
314 beitragen, dass wir eben den demokratischen Raum weiten, die
315 Diskussionssphäre weiten, zu einer europäischen
316 Öffentlichkeit kommen über das Internet? Das ist sicherlich
317 eine Frage, die uns weiter beschäftigen wird, auch im
318 Europäischen Salon.”
319
320 [[Zurück zur
321 Archivübersicht](https://publixphere.de/i/salon/page/Archiv_
322 Europ%C3%A4ischer_Salon__1)]

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