Dokumentation: Nachbericht zum fünften Europäischen Salon

Joanna Scheffel PhotographyDer fünfte Europäische Salon im Auditorium Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

„Solidarität in der Europäischen Union ... Von der Euro- und Flüchtlingskrise zur Krise der EU?"

Seit dem Jahr 2008 sieht sich die Europäische Union fortwährend mit schweren Krisen konfrontiert. Der nach wie vor nicht bewältigten Eurokrise folgte zunächst die Flüchtlingskrise und spätestens seit den Terroranschlägen von Paris im November 2015 sprechen viele auch von einer Sicherheitskrise. Die Europäische Union scheint auch im ausgehenden Jahr 2015 nicht aus der Dauerkrisenstimmung herauszufinden. In diesem Kontext ist „Europäische Solidarität“ wieder zu einem der Schlüsselbegriffe des politischen und rechtlichen Diskurses geworden ist.

Am Freitag, den 4. Dezember 2015, waren Studierende sowie Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zur Diskussion des aktuellen Europäischen Salons mit dem Thema „Solidarität in der Europäischen Union ... Von der Euro- und Flüchtlingskrise zur Krise der EU?“ eingeladen. Auch im Rahmen der mittlerweile fünften Podiumsdiskussion der Veranstaltungsreihe war das Podium im Auditorium Friedrichstraße mit hochkarätigen Teilnehmern besetzt, die in der zweistündigen Diskussion und dem anschließenden Empfang mit den rund 280 Zuschauern Möglichkeiten und Grenzen der europäischen Solidarität diskutierten. Als Vertreter der Politik waren eingeladen: Elmar Brok, Mitglied des Europäischen Parlaments seit 1980, dort Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses (AFET) und Außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion sowie Manuel Sarrazin, Bundestagsabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und deren Europapolitischer Sprecher, ferner Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Außerdem folgte Victoria Kupsch der Einladung des Europäischen Salons. Sie ist Mitgründerin und Programmleiterin des European Democracy Lab, einem jungen Think Tank in Berlin.

Unter der Moderation von Prof. Dr. Christian Calliess, Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin waren Podium und Zuschauer dazu eingeladen unter anderem folgende Fragen zu diskutieren: Inwieweit besteht möglicherweise ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den europäischen Krisen der vergangenen Jahre? Ist das rechtliche und ebenso moralische Prinzip der Solidarität dazu geeignet, die nach Auffassung vieler Wissenschaftler bestehenden Konstruktionsfehler der EU-Verträge und ihre Auswirkungen abzuschwächen? „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, heißt es im Zusammenhang mit Euro- und Flüchtlingskrise von Politikern und sonstigen Experten immer wieder. Aber wie kann auch dem aufkommenden Akzeptanzverlust der EU unter den europäischen Bürgern und dem Gefühl einer aufgezwungenen Solidarität begegnet werden? Und welche Rolle spielt der wiedererstarkte Rechtspopulismus in diesem Kontext in Europa? Auf diese und weitere Fragen versuchte der fünfte Europäische Salon Antworten zu finden.

Entsprechend der Idee des Projekts „Europäischer Salon“ Online- mit Offline-Diskussionen miteinander zu verknüpfen, waren die Fragen der Debatte zuvor bereits online auf www.eu-salon.de zur Diskussion gestellt worden und Panelisten und Gäste waren dazu eingeladen sich mit eigenen Beiträgen an der vorbereitenden Onlinedebatte zu beteiligen und Fragen für die Podiumsdiskussion zu spezifizieren.

Joanna Scheffel PhotographyProf. Dr. Christian Calliess eröffnet die Diskussionsrunde. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Nach den Begrüßungsworten wurde die Podiumsdiskussion von Gastgeber und Moderator Calliess mit einem Einführungsstatement eröffnet. Der Europarechtsexperte zeigte anhand der jüngsten Entwicklungen in Europa u.a. in Großbritannien und Ungarn auf, welch hohe Aktualität das Diskussionsthema aufweist. Zugleich spannte er den Bogen in die Vergangenheit der europäischen Integration. „Haben die Krisen vielleicht 1992 schon mit dem Vertrag von Maastricht begonnen?“, so eine seiner einleitenden Fragen, die auf den möglicherweise seitdem bestehenden Konstruktionsfehler abzielte, eine Währungsunion etabliert zu haben, ohne dieser eine entsprechende Wirtschaftsunion oder politische Union beiseite zu stellen.

In Europa seien Desintegrationstendenzen festzustellen, beispielsweise die Forderungen David Camerons in seinen four EU reform demands und die damit zusammenhängende Brexit-Drohung, welche die Krisen verstärkten, so Calliess. Daneben bestünden rechtliche Vollzugsdefizite, etwa die nicht umgesetzte Richtlinien im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts sowie nicht eingehaltene Stabilitätskriterien im Euroraum. All diese Probleme führten dazu, dass möglicherweise die europäische „Brücke des Rechts“ als Bindeglied erodiere, welche die kulturelle und wirtschaftliche „Heterogenität der Mitgliedstaaten“ überbrücke, so die These Calliess‘.

Allgemein einig sei man sich darüber, dass die Währungsunion, auch in Einklang mit dem Fünf-Präsidenten-Bericht der EU, der in seiner Stufe 2 auch Vertragsänderungen zur Komplettierung der Währungsunion vorsehe, vervollständigt werden müsse, so die Auffassung Calliess‘. Zugleich stoße die Europäische Union aber auch in allen drei Krisenbereichen an Kompetenzgrenzen; dergestalt, dass einerseits Kompetenzgrundlagen nicht ausreichten, andererseits aber das Problem bestehe, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer bestehenden Kompetenzen mitunter mangels politischen Willens blockierten.

„Warum ist die europäische Solidarität, also das gemeinsame europäische Interesse, so herausgefordert?“ und „Brauchen wir mehr oder weniger Europa?“, lauteten sodann die abschließenden Fragen zum Ende seines Einführungsstatements.

Elmar Brok stellte zu Beginn seiner Impulsrede zunächst grundsätzlich klar, dass Diskurse oder auch der „Streit“, der derzeit über die europäische Politik geführt werde, zur Politik im Allgemeinen gehöre. Man würde auch nicht von dem Zusammenbrechen der Bundesrepublik sprechen, wenn Politiker der verschiedenen Bundesländer unterschiedlicher Meinung sind, so Brok.

Joanna Scheffel PhotographyElmar Brok, Mitglied des Europäischen Parlaments. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Bezugnehmend auf die von Calliess angesprochenen Vollzugsdefizite verdeutlichte Brok, dass in der Politik und Entscheidungsfindung eines jeden föderalen Systems das Problem bestünde, wie einzelne Glieder dazu gezwungen werden könnten, die gemeinsamen Regeln umzusetzen. Der Unterschied zwischen Deutschland und der Europäischen Union sei in diesem Fall nur, dass Deutschland, im Falle finanzieller Nöte einzelner Bundesländer als „Schicksalsgemeinschaft“ empfunden werde; eine Wahrnehmung, die es in Bezug auf die Europäische Union noch nicht gebe.

Eine Denkweise, die außerdem in diese Betrachtung mit einzubeziehen ist, sei: „Wenn die anderen die Regeln brechen, ist das unmoralisch, und wenn wir es selbst tun, vergisst man es.“ Diesen Zusammenhang aber zu erwähnen, entspreche dann nicht nationalem Interesse, so die Feststellung Broks. Deswegen müsse in der Diskussion um Solidarität zunächst eine Definition dafür gefunden werden, was nationales Interesse ist, um zu konstruktiven Lösungen zu gelangen.

Brok kritisierte, dass frühzeitiger Debatten geführt werden müssten, nämlich sobald politische Probleme auftauchten und merkte an, dass Bevölkerungen trotz dessen in dieser Ausnahmensituation, der „Häufung von Krisen“ und einem „Druckpotenzial“, auf Akte der Solidarität mitunter nicht vorbereitet seien. Es müssten Fähigkeiten entwickelt werden, die nationale und europäische Politik zukünftig Probleme besser analysieren und aufbereiten ließen, um so vorher Entscheidungen treffen zu können.

Die großen Herausforderungen von Flüchtlingen und Migration, Klimawandel und Terrorismus, globalen wirtschaftlichen Veränderungen und Machtstrukturen seien alles solche, die man alleine national nicht mehr beantworten könne. „100 Prozent nationales Interesse“ lasse sich in diesen Fragen nicht mehr durchsetzen, eine weitaus höhere Chance Interessen global durchzusetzen habe man auf europäischer Ebene, so Brok zum Abschluss seines Impulses.

Im Anschluss daran kommentierte Victoria Kupsch, Mitgründerin und Programmleiterin des European Democracy Labs, die einführenden Worte Broks. Ihrer Auffassung nach war die Bevölkerung im Gegensatz zur europäischen Politik sehr wohl auf die Krisen vorbereitet. Allein letztere habe es versäumt auf die Krisen zu reagieren und realisiere deswegen erst allmählich, dass die bestehenden „zu unscharfen Instrumente“ der europäischen Politik nicht ausreichten, Lösungen zu finden.

Joanna Scheffel PhotographyVictoria Kupsch, European Democracy Lab. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Kupsch erläuterte daran anknüpfend Arbeit und Zielrichtung ihres Think Tanks, aus einer generellen Kritik am Aufbau demokratischer Strukturen und Institutionen in Europa heraus, dem politischen Diskurs konstruktive Ideen beizusteuern zu wollen. Ein Beispiel dafür sei das Konzept der Europäischen Republik. Befeuert durch die inneren und von außen kommenden Krisen trete ein elementares Defizit der Europäischen Union zutage, nämlich eine fehlende Einbindung der europäischen Bevölkerung bei der Gestaltung der EU. Insbesondere deswegen finde in Zeiten der Krise eine Politisierung der Bevölkerung statt, in der Politik konstruktiv vordenken müsse, worin sie mit Brok übereinstimmte.

„Wir befinden uns gerade in einem Prozess, wo Dinge in Frage gestellt werden können, von denen wir alle immer angenommen haben, dass sie gesetzt sind“, konstatierte Kupsch resümierend und spielte damit auf das Potenzial an, sich jetzt in Europa wieder mit grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen zu können. „Wie können wir eine europäische Demokratie funktional gestalten? Denn momentan ist sie dysfunktional.“, stellte Kupsch abschließend als Frage in den Raum.

Joanna Scheffel PhotographyManuel Sarrazin, Mitglied des Deutschen Bundestages und europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Bezugnehmend auf Calliess‘ einführende Metapher der „Brücke des Rechts“ verortete Manuel Sarrazin, Bundestagsabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und deren Europapolitischer Sprecher, das Problem der Solidarität zunächst auch bei dem Begriffspaar von Homogenität und Heterogenität. Sarrazin sieht auf der einen Seite, auch bei sich selbst, „einen starken Drang […] nach einer Rechtsgemeinschaft, nach starken gemeinsam getragenen europäischen Werten, nach starken gemeinsamen Institutionen, nach Kohäsion und Konvergenz“. Auf der anderen Seite beobachte er eine zunehmende Ablehnung von Heterogenität, die genauso zu Europa dazugehöre und in der Vergangenheit die Stärke ausgemacht habe.

Heterogenitätstendenzen seien kein orginär europäisches Phänomen, sondern globaler Natur. Sie spiegelten sich ebenfalls in der Gesellschaft wider, die immer mehr von Individualismus und Diversifizierung geprägt sei und Politik stehe ganz grundsätzlich vor dem Problem Menschen und Interessengruppen individuell zu adressieren. Mitverantwortlich für die bestehende Krise der Solidarität sind laut Sarrazin auch Defizite in der Kommunikation der betroffenen politischen Akteure. Diese würden verstärkt durch eine Europäisierung der Medien, wodurch Äußerungen nationaler Politiker viel schneller europaweit Aufmerksamkeit bekämen und mitunter Staatskrisen auslösen könnten.

Nach Auffassung Sarrazins sind insofern zwei grundlegende Probleme auszumachen. Zum einen brauche Europa „so etwas wie konservativen Durchhaltegeist“. Ungeachtet diverser Unstimmigkeiten müsse die Union zusammengehalten werden, um sich miteinander weiter zu verändern. Zum anderen müssten sich Parteien jeder Couleur davon verabschieden einerseits zu sagen „man sei grundsätzlich für Europa“ anderseits dann aber nachzuschieben „so aber nicht...“.

Joanna Scheffel PhotographyPublikum des fünften Europäischen Salons. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Nach den einleitenden Worten der Panelisten begann die offene Diskussionsrunde mit dem Publikum. Der erste Redebeitrag aus dem Publikum kam von Michael Wohlgemuth, Direktor der Organisation Open Europe Berlin. Er brachte das drohende Szenario eines Brexit in die Debatte ein und fragte vor diesem Hintergrund und aufgrund der jüngsten Vorschläge David Camerons nach der Idee der Subsidiaritätsrüge und inwiefern sie möglicherweise die Demokratie über nationale Parlamente zu stärken imstande sei.

Weiter interessierte einen Teilnehmer aus dem Publikum, inwiefern Deutschland und Frankreich mit Blick auf die Flüchtlings- und Asylpolitik noch als Motor der europäischen Integration angesehen werden könnten.

Eine andere Frage zielte darauf ab, ob der graduelle Wechsel von Konsens- auf Mehrheitsentscheidungen bei den Gesetzgebungsverfahren und Entscheidungen möglicherweise eine Ursache für die Krisen der EU sein könnte.

Joanna Scheffel PhotographyDiskussion im Anschluss an die Podiumsdiskussion. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Sowohl auf dem Podium als auch im Plenum bestand Einigkeit, dass Euro- und Flüchtlingskrise das Solidaritätsprinzip der Europäischen Union weiter herausfordern werden. Die Gäste des Europäischen Salons diskutierten und stritten dabei tiefergehend über die europäische Solidarität, v.a. im Wechselspiel mit nationaler Souveränität und nationalen Interessen. Zentrale Inhalte waren das Thema „Brexit“, der Aufbau der Institutionen der EU, die „Krise der Eliten“ und die demokratische Legitimationskrise der EU.

Joanna Scheffel PhotographyAnschließender Empfang im Foyer des Auditorium Friedrichstraße. Foto: ©Joanna Scheffel Photography

Außerdem stellte sich immer wieder die Frage, inwieweit EU-Vertragsänderungen derzeit notwendig und möglich seien. Bevor man von einer tiefgreifenden Krise der EU genereller Natur sprechen könne, so der Konsens, müsse man auf den Prüfstand stellen, inwieweit die geltenden Verträge überhaupt schon ausgeschöpft wurden, um den aktuellen Krisen zu begegnen.

Die Häufung und Parallelität der Krisen stelle die eigentliche Herausforderung dar, so Calliess zusammenfassend. Sarrazin formulierte, dass man die Europäische Union eventuell „kreativer denken“ müsse. Die „Krise als Chance“ hieß es in ähnlicher Zielrichtung aus dem Publikum. Diese Wortmeldung aufgreifend, leitete Prof. Calliess über in den anschließenden Empfang, bei dem ausgiebig weiterdiskutiert wurde.

Der Europäische Salon

Der Europäische Salon ist eine von der Robert Bosch Stiftung geförderte Veranstaltungsreihe, durchgeführt von Prof. Dr. Christian Calliess, LL.M. (Eur), Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Europarecht, Jean Monnet Chair, an der Freien Universität Berlin.

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