Foto: e'lemint (CC BY-NC-SA 2.0)
Isabel Niesmann reflektiert ihre Begegnungen während des Europäischen Freiwilligendienstes in einem norditalienischen Flüchtlingszentrum. Wie prägen persönliche Erfahrungen unseren Blick auf Grenzen, Migration und Flucht?
Ein Text von Isabel Niesmann
Der Zaun, der das Ex-Gorio umgibt, ist hoch. Hier, am Rand der idyllischen Touristenstadt Bozen, ganz im Norden Italiens, sind 80 Flüchtlinge untergebracht. Es ist eine Grenze im klassischen Sinn, eine klare Trennlinie zwischen Geflohenen und Einheimischen.
Hier habe ich während meines EFD's gearbeitet. Hier habe ich Grenzen erfahren, habe sie überwunden, vielleicht sogar Brücken gebaut, habe neue entstehen lassen.
Manchmal hat mir die Kraft gefehlt, sie einzureißen.
Ich überschreite Grenzen
Die Welt scheint geschrumpft zu sein, als ob sie ein Mal zu heiß gewaschen wurde. Wenn ich jetzt in den Nachrichten die Bomben auf den Gazastreifen fallen sehe, dann sehe ich nicht nur einfach die Explosionen, sondern sehe den Israeli Elem vor mir. Wir beide in unserem Lieblingscafe mit einem Cappuccino und einen grünen Tee. Sehe ihn, wie er mir mit leiser Stimme davon erzählt, dass er aus einem Land kommt, in dem immer Krieg gab. Frieden hat er noch nie erlebt. Und das macht ihn traurig.
Wenn ich in der Zeitung lese, dass jeder vierte junge Grieche ohne Arbeit ist, sehe ich Giorgos vor mir. In Thessaloniki hat er keine Arbeit. In Bozen hat er nach seinem Freiwilligendienst noch lange als Kellner gearbeitet.
Wenn ich die Bilder der Aufständischen in der Türkei sehe, dann denke ich an Veysi, wie wir gemeinsam kochen, wie er von seinem Traum einer freien Türkei und eines freien Kurdistans, seines „piccolo curdistan libero“ erzählt.
Oft sitzen wir lange nachts zusammen in unserer Küche, an dem breiten Tisch mit der altmodisch-verwaschenen Tischdecke, wo sich das Geschirr tagelang in dem Spülbecken stapelt. Dort, wo sich die Welt trifft. Acht Menschen aus acht verschiedenen Nationen leben hier.
Grenzen verschwinden - und ich spüre sie immer deutlicher. Immer dann, wenn ich zur Arbeit ins Flüchtlingslager gehe.
Wenn sie im Fernsehen die niedergebrannten Kirchen in Nigeria zeigen, dann sehe ich Micheal vor mir, wie er von seinem wunderschönen Land erzählt, dem Essen und den herzlichen Menschen. „How far?“, sagt man dort zur Begrüßung.
Als ich die Kleiderfabrik in Bangladesch einstürzte, sehe ich Akash mit dem breiten Grinsen und funkelnden Augen vor mir. „Tutto sarà bene“(Alles wird gut) wiederholt er immer wieder.
Ich sehe auch Ahmud, John und all die anderen, höre ihre Geschichten, von den Odyseen ihrer Flucht über das Mittelmeer. Hunger, Verzweiflung. Und ich weiß, dass Europa sehr wohl Grenzen hat.
„Italy is no good“, erzählen sie mir. Denn viele Einheimische mögen die Flüchtlinge nicht, sind rassistisch. Und ohne Arbeitserlaubnis warten die Flüchtlinge den ganzen Tag, warten auf ihre Dokumente, die viele von ihnen nie bekommen werden. Viel anderes können sie nicht tun.
Einige von ihnen drehen durch, verfallen Alkohol oder verbittern. Die meisten aber lachen und bleiben irgendwie optimistisch und hoffnungsvoll. Das tägliche Fußballspiel und der starke Glaube helfen dabei.
Ich verwische die Grenzen
Ich sehe auch mich, allein in einem fremden Land. Ich sehe die Einsamkeit. Eine Welt, die nicht meine ist, in der ich mich aufgehoben, aber nie zu Hause fühle und weiß, dass es seltsam sein wird, wenn ich wiederkomme.
Ich sehe Menschen, die fortgehen und nicht wiederkommen. Flüchtlinge verschwinden in der Illegalität, versuchen ihr Glück in einem anderen Land. Am liebsten möchten alle nach Deutschland. Hier soll es am meisten Arbeit gehen. „Germany is good?“, fragen sie mich immer und immer wieder. Ich zucke hilflos mit den Achseln. Natürlich, für mich ist Deutschland gut. Schließlich ist es meine Heimat. Kalt ist es dort, werfe ich lachend ein. Doch jemand auf dem Weg ins vermeintliche Paradies lässt sich wohl kaum von ein paar Regenschauern abhalten.
Überwundene Grenzen
Über dem Zentrum steht die Sonne hoch. Innen ist die Luft fast unerträglich. „We will miss you“, sagen Yaya und John und Lamin, die für viele Mitarbeiter keine Menschen sind, sondern Nummern.
Sie nennen mich „German Queen“, weil meine Name dem der Königin Elisabeth ähnelt. Abends stehen sie an dem Zaun. Nach elf Uhr dürfen sie das Zentrum nicht mehr verlassen. Wie in einem Gefängnis rede ich mit ihnen durch die Stäbe. „You bring happiness. You always laugh“, sagen sie. Dass das nicht selbstverständlich ist, war mir nie bewusster. Ich fühle den Stein in meiner Brust. Ich weiß, dass ich bald nach Hause gehe.
Dolce vita mit bitterem Beigeschmack
Ich esse Pizza und Pasta, Arancini und vieles mehr, das sich nach Sommer und Sonne anhört.Balkongespräche und Diskussionen in der Küche. Freunde und Vertrautheit. Heiße Tage, lange Sommernächte, vorbeiziehende Autos. Albern sein und unbeschwert. Der wunderschöne Strand, türkisfarbene Welle und enge Gassen. Kakao unter dem Sternenhimmel. Wind in den Haaren. Und das Rauschen des Meeres. Wir auf dem Balkon. Vor uns die Berge und diese Rast- und Ziellosigkeit die verbindet.
Hinweis: Isabell Niesmann hat uns diesen Erfahrungsbericht freundlicher Weise zur Verfügung gestellt. Der Text erschien zunächst 2013 auf youthreporter.eu, wo junge Menschen über ihren Auslandsaufenthalt in europäischen Ländern berichten.
Einladung zum Online-Austausch:
Wie prägen persönliche Kontakte und Erlebnisse unseren Blick auf Migration und Flucht?
Ausgehend von Isabel Niesmanns Beobachtungen und Gedanken wollen wir alle Interessierten einladen, an dieser Stelle ihre persönlichen 'Grenzerfahrungen' via Kommentar einzubringen.