Nationaler Populismus - europäische Öffentlichkeit - europäische Werte?

Auftaktveranstaltung des Europäischen Salons

Datum: 26. November 2013
Uhrzeit: 18:00 Uhr
Ort: Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin, Französische Straße 32

Wir möchten uns bei allen Teilnehmern und Gästen für die erfolgreiche Auftaktveranstaltung des Europäischen Salons zum Thema „Nationaler Populismus - europäische Öffentlichkeit - europäische Werte?“ bedanken!

Das Atrium der Hauptstadtrepräsentanz der Robert Bosch Stiftung war gut gefüllt und wir freuen uns besonders, dass das Thema vorab online viel diskutiert wurde und dann auch auf der Veranstaltung zu einer regen Offline-Diskussion geführt hat.

Die Flagge Europas.CC BY-NC-ND 2.0/European Parliament/Pietro Naj-Oleari


Video von der Auftaktveranstaltung:



Am 26. November 2013 fand der Auftakt der Veranstaltungsreihe “Europäischer Salon” in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung statt. Prof. Dr. Christian Calliess, LL.M. diskutierte mit den Podiumsgästen über Europäische Werte, nationalen Populismus und die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit. Vorbereitet wurde die Veranstaltung auf der neu etablierten Internetplattform salon.publixphere.de. Hier wurden vorab die von den Podiumsgästen eingereichten Statements kritisch hinterfragt und auch weiterführende Aspekte kontrovers diskutiert. Im Mittelpunkt des Europäischen Salons steht die Debatte junger Europäer mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft und Medien - online und offline.

Über 150 Veranstaltungsteilnehmer aus der Fachöffentlichkeit sowie Studenten und Schüler fanden sich zum Auftakt im Atrium der Stiftungsrepräsentanz zur Diskussion mit dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Georg Link, dem Vorsitzenden des EU-Ausschusses, Gunther Krichbaum, dem Verfassungsrechtler und Mitglied des Wissenschaftskollegs Berlin, Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M. sowie Daniel Fazekas, Mitglied der ungarischen Bewegung “Milla - eine Million für die Pressefreiheit”, ein. Die ebenfalls eingeladene Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding, konnte zwar nicht kommen, sendete zur Eröffnung aber eine Videobotschaft, in der sie die Bedeutung der direkten Einbindung der Bürger in die Zukunftsdebatte in Europa betonte, bevor große Reformen und neue Strukturen angegangen werden können: “Gerade junge Menschen müssen [dabei] beginnen, diese Debatte als eine Diskussion über ihr Europa zu sehen.”

In der zweistündigen Diskussionsveranstaltung standen neben der Notwendigkeit einer starken europäischen Öffentlichkeit vor allem europaweit zunehmende populistische Tendenzen und ihre möglichen Grenzen im Fokus. Prof. Calliess stellte eingangs die europäischen Werte als eine solche Grenze zur Diskussioneiner. Er fragte, ob die EU die in Art. 2 des EUV genannten Werte in Aufsicht Unionsaufsicht in den Mitgliedstaaten durchzusetzen habe und inwieweit das bestehende Instrumentarium hierfür ausreicht. In ihren jeweiligen Eingangsstatements setzten sich dann die Podiumsgäste mit der so aufgeworfenen Frage nach Existenz und Durchsetzung europäischer Werte eingehend auseinander.

Staatsminister Link erläuterte zu Beginn den vom Auswärtigen Amt unterstützten Vorschlag, durch eine “Grundwerte-Initiative” - auch als “Rechtsstaatsinitiative” bekannt - einen politischen Monitoringmechanismus zu schaffen, der für die Einhaltung der europäischen Werte durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Sorge tragen kann. Es handelt sich dabei um eine gemeinsame Initiative der Außenminister Deutschlands, Dänemarks, Finnlands und der Niederlande, der sich mittlerweile viele Mitgliedstaaten angeschlossen haben und die auch von der Europäischen Kommission aufgegriffen wurde. Letztere werde diesbezüglich in der ersten Jahreshälfte 2014 ihren Umsetzungsvorschlag unterbreiten. Für Staatsminister Link vernachlässigt die EU bisher noch die Arbeit an der gemeinsamen Wertebasis. Um Grundwerteverstößen entgegenzuwirken, reiche einerseits der öffentlich durch die Medienberichterstattung ausgeübte Druck nicht aus, andererseits seien Sanktionen im Ministerrat nicht durchsetzbar, dies sei bereits mehrfach von mitgliedstaatlicher Seite signalisiert worden. Ein politischer Frühwarnmechanismus wie die Rechtsstaatsinitiative sei aber auch nicht “zahnlos”. Der Ministerrat müsse ein effektives Instrument bekommen, um Grundwerteverstöße identifizieren und frühzeitig eingreifen zu können. Vielleicht wäre es im Falle Ungarns dann auch gar nicht erst zu den problematischen Maßnahmen gekommen, konstatierte Staatsminister Link. In diesem Zusammenhang wies er aber auch darauf hin, dass die Grundwerte-Initiative unterschiedslos alle Mitgliedstaaten einschließen solle. Ziel sei es, die Lücke zwischen dem noch nie angewandten Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV und dem Vertragsverletzungsverfahren mit einem politisch leicht handhabbaren Instrument zu schließen. Prof. Calliess fragte daraufhin, ob nicht durch ein “systematisches Vertragsverletzungsverfahren” das Vertragsverletzungsverfahren für einen effektiven Grundwerteschutz fruchtbar gemacht werden könne. Dies solle ermöglichen, dass viele kleine Verletzungen sich zu einem Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit, einem der Werte aus Art. 2 EUV, addieren. Weiterhin könne über diese Sanktionen eine Drohkulisse aufgebaut werden. Staatsminister Link schloss Sanktionen nicht konsequent aus, sofern diese als Ergebnis eines politischen Prozesses unter Beteiligung aller Institutionen eingeführt würden. Die Grundwerte-Initiative sei ein Instrument, das zunächst politisch wachsen müsse.

Dem Gedanken des politischen Prozesses stimmte Prof. Möllers zu: Es müsse mit einer Politisierung begonnen werden. Die EU solle dabei in kleinen Schritten vorgehen. Ein innenpolitischer Prozess sei der Ausgangspunkt. Er kritisierte in diesem Zusammenhang die “Tendenz in der europäischen Integration, Politik zu verrechtlichen und Recht zu moralisieren”, und beleuchtete die Existenz einer europäischen Wertegemeinschaft kritisch - bei vielen Fragen herrsche in Europa eben gerade kein Konsens für ein gemeinsames Handeln, wie der Syrienkonflikt verdeutliche. Prof. Möllers hinterfragte, ob es tatsächlich eine Grenze zwischen Populismus und Demokratie, die ja auch einer der Grundwerte des Art. 2 EUV ist, geben könne. “Populismus ist klassischerweise Klientelwirtschaft, man bietet den Leuten was Nettes an, damit sie einen wählen. Frau Reding hat gerade gesagt, es gibt billigere Roaminggebühren, also das scheint mir eine klassische populistische Figur zu sein, mit der man sagt: ‘Wenn ihr für Europa seid, dürft ihr billiger telefonieren.’ Ist völlig in Ordnung aber das ist eigentlich nicht das, was wir unter einem normativen Demokratiekonzept verstehen.” Populismus könne für ihn ein Mobilisierungsfaktor, ein notwendiges Element von Demokratie sein.

Nach der Beitrittsvoraussetzung und Durchsetzbarkeit des Wertekanons des Art. 2 EUV gefragt, rief Gunther Krichbaum die Kopenhagener Kriterien in Erinnerung, die von jedem beitrittswilligen Staat gemäß Art. 49 EUV zu berücksichtigen sind. Aber was kommt nach dem Beitritt? Für Krichbaum zeigen die Beispiele Rumäniens, Kroatiens oder Bulgariens, dass dringend Handlungsbedarf bestehe. Leider sei man aber erst jetzt so richtig aufgewacht.

Es schloss sich notwendig die Frage danach an, ob die Einmischung in eigene nationale Angelegenheiten in den Mitgliedstaaten denn überhaupt begrüßt wird. Hinsichtlich Ungarn bezog Daniel Fazekas, Gründungsmitglied der ungarischen Bewegung “Milla - eine Million für die Pressefreiheit”, Stellung. Die Beantwortung der Frage hänge davon ab, wen man frage: In Regierungspropaganda und Massenmedien werde die EU dämonisiert. Zudem werde propagiert, dass es dem Westen äußerst schlecht gehe. Die andere Seite der Bevölkerung wolle jedoch, dass die EU ihre Rechte schützt. Insgesamt habe die EU aber schon sehr positiv auf die Entwicklungen in Ungarn eingewirkt, meint Fazekas, so zum Beispiel durch das “Zurückzupfen” des Mediengesetzes. Fazekas stellte die Bewegung “Milla” kurz vor, die sich zunächst lediglich als eine zivilgesellschaftliche Plattform betrachtete - “im Grunde auf der Verbraucherseite der Politik”. Ihr Ziel war es, über ihre Facebookseite, durch Protestorganisationen sowie Informationen das Bewusstsein einer neuen politischen Generation zu schaffen. In ihrem 12-Punkte-Plan “Minimum Plus” findet sich als ein Aspekt auch die Einhaltung der Grundrechte und der europäischen Werte. Mittlerweile ist ein Strang von Milla sogar politisch aktiv. Zusammen mit dem ehemaligen ungarischen Premierminister Gordon Bajnai und der Gewerkschaftsgruppe “Solidarität” haben sie die Koalition “Zusammen 2014” gegründet.

Prof. Calliess warf daraufhin die Frage auf, ob die EU nicht in einem Dilemma sei, weil sie entweder zu viel oder zu wenig eingreife. Krichbaum erwiderte, dass ein Handeln der EU zwar oft als Einmischung in innere Angelegenheiten artikuliert werde, es jedoch keine sei, da spätestens seit dem Vertrag von Lissabon alle Bürger der Mitgliedstaaten auch Unionsbürger seien und die Kommission deren europäische, in der Grundrechte-Charta garantierten Bürgerrechte zu schützen und zu verteidigen habe.

Als nächstes wurde darüber diskutiert, dass die USA in Bezug auf die Einhaltung der europäischen Werte in Ungarn im Vergleich zur EU größere Präsenz zeigten. Prof. Möllers äußerte dabei seinen Eindruck, dass bestimmte Formen von politischer Handlungsfähigkeit, die man aus dem Bereich des Völkerrechts kenne, scheinbar vom Tisch seien. Als Gründe dafür sah er den derzeitigen Punkt des europäischen Integrationsprozesses sowie den hohen Grad an Verrechtlichung und Verflechtung der EU an. Die Möglichkeiten der USA, z.B. Zahlungen einzustellen, habe man innereuropäisch scheinbar nicht mehr, was zwar kein Argument gegen die EU sei, aber eine der vielen Ironien des Prozesses aufzeige. Krichbaum erwiderte, dass die Bundesrepublik die Möglichkeiten der USA nicht habe. Es müsse eine Balance gefunden werden zwischen der Existenz von roten Linien und der Möglichkeit zur Erzeugung eines ausreichenden politischen Drucks, da alle Mitgliedstaaten in der EU auf Dauer miteinander verbundene Partner seien. Staatsminister Link plädierte im Zuge dessen für eine gemeinsame Verteidigung der Werte.

Im Rahmen der offenen Diskussionsrunde mit dem Publikum kamen gerade von den vielen jungen Gästen sehr “europäische” Fragen nach der europäischen Identität und damit der Vermittlung Europas, der Ungleichbehandlung von Mitgliedstaaten bei der Thematisierung von Werteverstößen und der Grenze zwischen Populismus und knallharter Interessensvertretung auf.

Einigkeit herrschte beim Thema europäische Identität darüber, dass diese erst im Werden sei. Identitätsbildung müsse von jedem Einzelnen selbst ausgehen, sie könne nicht von der EU vorgeschrieben werden, so Prof. Möllers. Die fehlende Identität lasse sich auch in den Fehlkonstruktionen der EU suchen, beispielsweise durch den indirekten Vollzug, der dazu führe, dass die EU nicht sichtbar sei.

Krichbaum und Staatsminister Link waren sich einig, dass im Falle des Werteschutzes nicht mit zweierlei Maß gemessen werden sollte. Staatsminister Link brachte zur Vermeidung doppelter Standards erneut die Grundwerteinitiative ins Gespräch, da gerade ein politisches Vorgehen der richtige Weg sei. Prof. Möllers hingegen sah einen Unterschied in der Behandlung von Ungarn und einem “Alt”-Mitgliedstaat wie z.B. Frankreich. Mit Ungarn könne man anders umgehen als mit Frankreich, aber gerade deswegen sei der Vorstoß des Auswärtigen Amtes, zunächst nur politisch zu agieren, so “klug”.

Für Prof. Möllers ging es primär nicht um eine Vermittlung Europas, sondern vielmehr um reale, objektive Probleme. Er plädierte dafür, Probleme nicht zu medialisieren und stellte dabei auch das Internet als Raum für eine politische Debatte in Frage: “Worüber redet man im Internet am liebsten? - über das Internet! [...] Medien sind selbstreferenziell.” Dem wurde aus dem Publikum entgegengesetzt, dass dies eine Unterschätzung des Potenzials des Internets sei, politische Debatte zu verändern und auch den Wertediskurs in Europa voranzubringen.

Zur Grenze zwischen Interessenvertretung und Populismus äußerte Staatsminister Link, dass Populismus in Nationalismus übergehe und Feindbilder brauche und benutze, Interessenvertretung hingegen Regeln brauche und benutze. Prof. Möllers sah Populismus als ein vielleicht auch notwendiges Element der Demokratie, das als Mobilisierungsfaktor fungieren könnte.

Aus der Online-Debatte, die vorab auf salon.publixphere.de geführt wurde, brachte laut Mayte Peters (Publixphere e.V.) drei Kernaussagen in die Diskussion ein: Zum ersten dürfe Populismus nicht einfach abgetan werden, sondern es müsse eine kritische Debatte - auch um populistische Themen - geführt werden dürfen. Zum zweiten entstehe eine europäische Öffentlichkeit gerade um die Debatten über Werte und Populismus. Zum dritten reiche der pauschale Rekurs auf europäische Werte nicht aus. Werte müssten jedoch auch vermittelt werden können. Aber was bedeuten die Werte tatsächlich im Alltag der Menschen? Das Internet sei nicht nur Facebook und Twitter, so Peters - und die Bereiche, in denen wir es bislang geschafft hätten, den europäischen Raum zu politisieren, beispielsweise in der ACTA-Debatte, waren Debatten, die über eine Verlinkung verschiedener Plattformen funktionierten. Dadurch wurde eine länderübergreifende Aufmerksamkeit geschaffen. Wie das Beispiel der ungarischen Bewegung “Milla” zeige, reiche der nationale Raum scheinbar nicht immer aus, um etwas zu bewegen, sondern es bedürfe eines internationalen Drucks. An Staatsminister Link gerichtet fragte Mayte Peters: “Sie haben gesagt, wir müssen Verantwortungsräume schaffen und zwar einen lokalen, einen regionalen und einen mitgliedstaatlichen. Wo bleibt der europäische?” Das Problem bestehe darin, dass der Raum der europäischen Demokratie nicht politisiert werde. Außerdem würde die Debatte auf einem hohen Niveau geführt, mit dem man den Großteil der Bürger sowie diejenigen nicht erreichen könnte, die sich für bestimmte Themen interessieren und nicht mehr nur für die Institutionen Europas. Gerade in diesen Bürgern liege aber die Chance Europas.

Abschließend ging Daniel Fazekas auf die Internetverlinkung ein. Er betonte, dass für Bewegungen wie “Milla” entscheidend sei, dass überhaupt Debatten geführt werden und wenn schon nicht in Budapest, dann egal wo. “Milla” versuche über verschiedensprachige Facebookseiten, Nachrichten über Ungarn ins Netz zu stellen. Das Problem dabei sei jedoch, dass es zwei Sphären von Öffentlichkeit gebe. Es habe oft keinen Sinn, nationale Probleme im Ausland zu erklären, wohingegen in Ungarn sie jeder versteht. Weiterhin warf er die Frage auf, wen es außerhalb von Ungarn überhaupt interessieren würde. Bürger anderer Mitgliedstaaten seien empfänglicher für die populistische Sichtweise, dass Ungarn nicht pluralistisch oder demokratisch sei.

In seinen Schlussworten kam Prof. Calliess auf das dem Europäischen Salon zugrundeliegende Konzept zurück: “Inwieweit kann das Internet hier tatsächlich dazu beitragen, dass wir eben den demokratischen Raum weiten, die Diskussionssphäre weiten, zu einer europäischen Öffentlichkeit kommen über das Internet? Das ist sicherlich eine Frage, die uns weiter beschäftigen wird, auch im Europäischen Salon.”


Einführung

Die europäischen Werte bilden das Fundament europäischer Integration. Auch wenn die wirtschaftliche Integration und die Schaffung des europäischen Binnenmarktes anfangs das primäre Ziel der europäischen Integration gewesen sind, kommt den europäischen Werten bis heute eine vereinende, die Integration fördernde Rolle zu. Auf ihrer Grundlage hat sich die Europäische Gemeinschaft (EG) hin zur Europäischen Union von heute entwickelt. (Beitrag zum Thema von Prof. Dr. Christian Calliess, Pdf-Download startet automatisch)

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Aktuell steht die Union - und damit auch die europäische Wertegemeinschaft - vor vielfältigen Herausforderungen: Staatsschuldenkrise, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, marode Renten- und Steuersysteme, steigende Mietpreise sowie die Haushaltspolitiken einzelner Mitgliedstaaten schüren eine Unzufriedenheit bei vielen Bürgern, die sich politisch thematisieren und instrumentalisieren lässt.

Die aktuellen Verfassungsänderungen in Ungarn und die ungarische Innenpolitik führen nicht nur zu Empörung und zu Protesten unter ungarischen Bürgern, sondern europaweit werden diese Entwicklungen insbesondere im Hinblick auf die europäischen Werte kritisch diskutiert - die Union wird aufgefordert, die Werte zu schützen.

Es ist zu einer allgemeinen Debatte über europäische Werte gekommen, im Rahmen derer die Ineffektivität der rechtlichen und politischen Unionsinstrumente zum Schutze der Werte beklagt wird. Alternativen zu bestehenden Schutzmechanismen werden momentan intensiv diskutiert: ein Ansatz ist die von mehreren Außenministern, unter ihnen der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, gestartete Rechtsstaatsinitiative. Guido Westerwelle plädiert dabei für „ein Element der Frühwarnung […], das rasch und möglichst frei von politischen Opportunitäten in Gang gesetzt werden kann.“ Er betont in diesem Zusammenhang, dass die Einführung - wenn möglich - ohne Vertragsänderungen umgesetzt werden soll. Die Forderung des Europäischen Parlaments nach einem Kopenhagen-Mechanismus, verbunden mit der Einführung einer Kopenhagen-Kommission, also einer Kontrollinstanz, die die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien und dabei insbesondere der Werte auch nach dem Beitritt überwacht, wird ebenfalls vielfach diskutiert. Dabei sehen Befürworter ihn als Lösung für bestehende Lücken im Rechtsschutzsystem. Kritiker wiederum stellen die Sinnhaftigkeit der Einführung einer neuen Institution zum Schutz der Werte in Frage und verweisen auf die bestehenden Handlungsmöglichkeiten der EU.

Die öffentliche Debatte in Europa erstreckt sich neben den „europäischen Werten" auch auf spezielle mitgliedstaatliche Themen. Dabei bestimmt die Innenpolitik anderer Mitgliedstaaten hierzulande die Schlagzeilen sowie die politische Tagesordnung. Ebenso rücken europapolitische Entscheidungen der Brüsseler Verantwortlichen immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit - sowohl in den einzelnen Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene. Diese europäischen Öffentlichkeiten leisten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration in der Europäischen Union. Ebenso bringen sie „Europa" den Bürgern näher und tragen somit auch zur Identitätsbildung bei.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich populistische Entwicklungen im Rahmen europäischer Öffentlichkeiten allein negativ auswirken - oder ob sie sogar positiv Einfluss nehmen können, indem durch die Vereinfachung in der politischen Kommunikation eine neue Ebene des Austauschs herausgebildet wird.

Führt die öffentliche Debatte über den Populismus, und damit ein stärkeres Eintreten für gemäßigte Positionen im politischen Meinungskampf, gar zu einer Rückbesinnung auf das europäische Wertefundament?

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Hintergrund: Die EU als Wertegemeinschaft

„[…] Europa [hat] eine identitätsstiftende Quelle – einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise verbindet, als Bekenntnis und als Programm.“
(Bundespräsident Joachim Gauck: „Rede zu Perspektiven der europäischen Idee“ am 22. Februar 2013)

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Platz der GrundrechteDer Platz der Grundrechte in Karlsruhe CC BY-NC-ND/tbee

Was sind die europäischen Werte?

Eine 2010 von der Europäischen Kommission durchgeführte Eurobarometer-Umfrage widmete sich der Europäischen Union (EU) als Wertegemeinschaft. Die befragten Bürger nannten Menschenrechte und Demokratie gleichzeitig als die Werte, die die EU am besten repräsentieren.

Die europäischen Werte sind auf Unionsebene ausdrücklich vertraglich verankert. So heißt es in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV):

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

Die EU verpflichtet sich in ihrem Handeln - sei es innen- oder außenpolitisch - diesem Wertefundament. Ziel ist es, die Werte zu fördern (Art. 3 EUV). Sie sollen dabei nicht nur auf Unionsebene, sondern auch auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten Beachtung finden. Werte sind fest verankerte Grundeinstellungen in einer Gesellschaft oder einzelner Personen, deren inhaltliche Bestimmung nicht abschließend vorgenommen werden kann. Sie sind in ihrer Bedeutung komplex und subjektiv. Auch unterfallen sie dem gesellschaftlichen Wandel und reflektieren politische, rechtliche sowie historische Entwicklungen. Die europäischen Werte haben ihren eigenen Gehalt und sind daher nicht deckungsgleich mit den nationalstaatlichen Wertegerüsten. Ihr Ursprung wurzelt aber in den mitgliedstaatlichen Wertetraditionen, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Ebenso stehen europäische und nationale Werte in einem wechselbezüglichen Verhältnis zueinander, so dass von einem Werteverbund in der EU gesprochen werden kann. (Beitrag zum Thema von Prof. Dr. Christian Calliess, Pdf-Download startet automatisch)

Die Bedeutung des europäischen Wertefundaments ist insgesamt betrachtet nicht zu unterschätzen. Auf seiner Grundlage hat sich die Union heutiger Gestalt herausgebildet. Den gemeinsamen Werten ist dabei stets eine vereinende, die europäische Integration fördernde Wirkung zugekommen. Auch dienen sie der Bildung einer europäischen Identität und nicht zuletzt der Funktionsfähigkeit der EU. Sowohl die seit dem Vertrag von Lissabon verbindliche Grundrechte-Charta, in deren Präambel auf die Wertebasis der Union hingewiesen wird, als auch der geplante Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verdeutlichen einmal mehr, dass sich die Europäische Union auf vereinende Werte stützt.

Herausforderungen der europäischen Wertegemeinschaft

Bundespräsident Joachim Gauck machte mit der europäischen Wertegemeinschaft ein derzeit viel diskutiertes Thema zum Gegenstand seiner „Rede zu Perspektiven der europäischen Idee“. Aktuell rücken die europäischen Werte unter anderem vor dem Hintergrund der Verfassungsänderungen und innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn in den Fokus der Öffentlichkeit. Populismus und eine verstärkte Renationalisierung scheinen die Politik der Regierung Orbán zu bestimmen. Das höchst umstrittene ungarische Mediengesetz hat Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den europäischen Werten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie mit der Pressefreiheit aufgeworfen. Die EU-Kommission hat die ungarische Regierung zu Änderungen bewegt, die aber als unzureichend kritisiert worden sind. Nicht zuletzt wurde das Mediengesetz in Teilen vom ungarischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Nicht nur in der ungarischen Öffentlichkeit kommt es zu starker Kritik an den Maßnahmen Orbáns, auch in anderen Mitgliedstaaten wird in den Medien, den sozialen Netzwerken oder der Politik mit Empörung reagiert. Angesichts dieser Entwicklungen sieht sich die EU-Kommission, die sich bislang eher zurückhaltend gezeigt hat, verstärkt zum Handeln - genauer gesagt zum Ergreifen von Sanktionen - aufgefordert.

Der EU-Kommission stehen hierbei verschiedene Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung: zum einen das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) oder zum anderen als „schärfere” Sanktion das Verfahren nach Art. 7 EUV. Letzteres setzt „eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat” voraus, und kann zur Aussetzung von mitgliedstaatlichen Rechten - wie Stimm- oder Teilnahmerechten - in der Europäischen Union führen.

Bis heute ist ein formelles Verfahren nach Art. 7 EUV nicht eröffnet worden. Im „Fall Österreich” wurden 2000 anlässlich der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter dem Vorsitz Jörg Haiders sowie aufgrund der anschließenden Regierungsmaßnahmen lediglich „bilaterale Sanktionen” von 14 Mitgliedstaaten gegen Österreich ergriffen. Auch die Regierung Berlusconi stand seit Anfang des neuen Jahrtausends verstärkt unter Kritik. Nicht nur wegen der Regierungsbildung mit der rechtspopulistischen Lega Nord, sondern vor allem aufgrund ihrer Medien- und Justizpolitik wurde die Einhaltung europäischer Werte, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, bezweifelt. Die Einflussnahme der staatlichen Führung auf die Medien bedingt durch die Position Berlusconis als italienischer Medienmogul und Ministerpräsident (Stichwort: Interessenkonflikt) erregte zwar europaweit Besorgnis, führte dennoch nicht zur Einleitung eines Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV.

Instrumente zum Schutz der Werte

Aktuell werden auf mitgliedstaatlicher und Unionsebene die verfügbaren Instrumente zum Schutz der europäischen Werte kritisch beleuchtet. Neben einer möglichen Anwendung des Art. 7 EUV wird vor allem die Einführung neuer und effektiverer Mechanismen diskutiert, die gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten gelten sollen. Auch für Außenminister Guido Westerwelle ist der „Grundwerteschutz [...] nicht nur eine Frage der Überzeugung, die EU braucht dafür auch wirksame Instrumente. Doch ist seit langem evident, dass hier eine Lücke klafft. Die sogenannten Vertragsverletzungsverfahren sind häufig zu technisch oder greifen zu kurz.”

Ein Vorstoß aufseiten der Mitgliedstaaten ist die sogenannte Rechtsstaatsinitiative der Außenminister Dänemarks, Finnlands, Deutschlands und der Niederlande. Nach ihr soll ein Frühwarnmechanismus eingeführt werden, der unmittelbar einen politischen Prozess – in Form eines politischen Diskurses mit dem betreffenden Mitgliedstaat – in Gang setzt, sobald es zu einer Gefährdung europäischer Werte kommt. Dieser ad hoc-Mechanismus stieß bei seiner Vorstellung im Rat der Europäischen Union auf große Befürwortung. Die Europäische Kommission in ihrer Funktion als „Hüterin der Verträge” soll mit der Umsetzung und Durchführung des Frühwarninstruments betraut werden. Um der Initiative Nachdruck zu verleihen, wurde auch im Bundestag von den Regierungsfraktionen ein Antrag mit dem Titel „Politischen Mechanismus zum Schutz europäischer Grundwerte etablieren – Rechtsstaatsinitiative konsequent vorantreiben” eingebracht.

Ein anderes Instrument könnte die Einführung eines sogenannten Kopenhagen-Mechanismus sein - ebenfalls als ein schnelles und effizientes Instrument der Frühwarnung. Bislang gelten die durch den Europäischen Rat festgelegten Kopenhagener Kriterien lediglich für Beitrittskandidaten. Angedacht ist ein einheitlich geltender Kontrollmechanismus ausgeübt durch eine institutionsübergreifende Kopenhagen-Kommission, durch den sichergestellt werden soll, dass die europäischen Werte fortwährend, d.h. auch nach dem Beitritt, eingehalten werden. Auch im Tavares-Bericht, der anlässlich der Entwicklungen in Ungarn die Einhaltung der europäischen Grundwerte fordert und Empfehlungen zu ihrem Schutz ausspricht - sowohl auf Ebene Ungarns als auch der Union - wird die Einführung eines „Kopenhagen-Mechanismus" empfohlen. Der Bericht ist vom Plenum des Europäischen Parlaments angenommen worden, wobei das Parlament der ungarischen Regierung bei einer anhaltenden Verletzung europäischer Werte ein Verfahren nach Art. 7 EUV androht. Die Stellungnahme zur vierten Verfassungsänderung in Ungarn der vom Europarat eingesetzten Venedig-Kommission zeichnet ebenfalls einen großen Handlungsbedarf zum Schutz der Werte in Ungarn auf.

Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten und birgt großes Diskussionspotential – über die Bedeutung und den effektiven Schutz europäischer Werte.

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Hintergrund: Europäische Öffentlichkeit

Eine europäische Öffentlichkeit wird als grundlegend für die demokratische Legitimation in der Europäischen Union (EU) angesehen. Im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Integration bildet sich eine Vielfalt von Kommunikationsräumen mit europäischem Bezug heraus.

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©CC BY 2.0 Sebastian DoorisDemonstration gegen das ACTA-Abkommen in Dublin 2012 CC BY 2.0/Sebastian Dooris

Bestimmte europapolitische Themen wie die Eurorettung beherrschen die öffentliche Debatte in vielen EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig und zieren die Titelseiten verschiedener nationaler Massenmedien. Ebenso bleibt die Innenpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten nicht rein national, vielmehr bestimmen innenpolitische Themen anderer EU-Mitgliedstaaten regelmäßig die politische Tagesordnung hierzulande. Beispielsweise werden Wirtschafts-, Sozial- und Haushaltspolitik bestimmter Mitgliedstaaten diskutiert und auch nationale Wahlen erregen transnationale Aufmerksamkeit. Andere Themen wiederum interessieren nur eine bestimmte Nischenöffentlichkeit, wie zum Beispiel in Bereichen der Land- oder Wasserwirtschaft. Sie sind somit zwar nicht auf die gleiche Weise in der öffentlichen Wahrnehmung präsent; gleichwohl stellen sie eine europäische Öffentlichkeit her. Auch die rein nationale Auseinandersetzung mit Europapolitik trägt zur Herausbildung von europäischer Öffentlichkeit bei. Aufgrund dieser verschiedenen Kommunikationsräume kann schließlich von europäischen Öffentlichkeiten gesprochen werden.

Die aktuelle Krise wirkt aber auch als Katalysator für eine Renationalisierung politischer Rhetorik und fördert das Aufleben nationaler Ressentiments wie das der „faulen Griechen“ oder der „herrischen Deutschen“. Die derzeitige europäische Krisenpolitik wird dabei in hohem Maße durch nationale Medienöffentlichkeiten wahrgenommen. Problematisch wird dies, wenn infolgedessen wichtige Sichtweisen auf das Geschehen nicht wahrgenommen werden und somit als Standpunkte in der Debatte ausfallen.

Neue Kultur der öffentlichen Debatte

Eine neue Kultur der öffentlichen Debatte darüber, wie die Zukunft der Europäischen Union gestaltet werden soll, ist für unsere Demokratie unabdingbar. Die europäische Medienöffentlichkeit ist jedoch vergleichsweise schwach ausgeprägt. Einen Ansatzpunkt können transnationale Öffentlichkeiten bilden, die sich mittlerweile verstärkt auch im Internet formieren. Diese Transnationalisierung ereignet sich durch Qualitätszeitungen und öffentlich-rechtliche Medien, aber auch über Blogs, soziale Medien oder alltägliche Kontakte mit Bürgern anderer Mitgliedstaaten.

Soziale Medien ermöglichen zudem eine immer tiefergehende Vernetzung der europäischen Bürgerinnen und Bürger und auch zivilgesellschaftliche Akteure organisieren sich online. So entstehen europaweite Netzwerke von Experten mit großem Einfluss auf die öffentliche Meinung und mit erheblichem Mobilisierungspotenzial, wie im Fall der Debatte um das internationale Anti-Produktfälschungsabkommen ACTA. Netzwerke innerhalb der europäischen Bevölkerung werden durch Soziale Medien verbunden und bringen diese immer enger zusammen.

Für Viele steht fest: Die EU steht vor Reformherausforderungen, will sie gestärkt aus der derzeitigen Situation hervorgehen. Das erfordere eine vielgestaltige europaweite Debatte, die über kulturelle, politische und sprachliche Grenzen hinausgeht. Durch einen solchen öffentlichen europäischen Kommunikationsraum und Transparenz des politischen Systems könne auch Legitimationsproblemen der Europäischen Union entgegengewirkt werden.

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Hintergrund: Populismus

Der nationale Populismus befindet sich europaweit zunehmend im Aufwind. Ein Nährboden aus Politikverdrossenheit, politischen Skandalen und zunehmender Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten, beispielsweise durch die sich vertiefende europäische Integration und die sich verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, hat zu einem wachsenden Wählerpotential für populistische Parteien in vielen europäischen Staaten geführt.

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Schilder der rechtsextremen Partei Pro KölnGegner eines Moscheeneubaus demonstrieren 2007 in Köln. ©picture alliance/dpa: Oliver Berg

Heutzutage beziehen sich populistische Strömungen unter anderem auf die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa, steigende Arbeitslosigkeit oder greifen bereits in der Bevölkerung bestehende ausländerfeindliche Haltungen auf, um sie zu instrumentalisieren. Prominente Vertreter des Populismus sind die Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien, sowie Geert Wilders’ Partei für die Freiheit in den Niederlanden. Auch in der Politik der ungarischen Regierung Orbáns scheint sich der Populismus zu verstärken.

Was bedeutet „Populismus”?

Populismus (lat. populus - „Volk") zeichnet sich dadurch aus, dass für komplexe Probleme in vorgeblich volksnahem Ton vereinfachende Lösungen präsentiert werden. Dabei werden in der Rhetorik oft Gegenpole geschaffen. Diese orientieren sich grob an zwei Achsen: Im Rahmen des „vertikalen Populismus” wird die Distanz zwischen der herrschenden Elite, dem „Establishment”, und dem „einfachen” Volk beklagt. Dabei beanspruchen die Populisten die Vertretung des Volkswillens für sich und setzen sich dadurch vom etablierten System ab. Der „horizontale Populismus” beschreibt wiederum die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Bevölkerung, wie zum Beispiel Ausländern. Während die vertikale Unterscheidung auf alle populistischen Strömungen zutrifft, ist die horizontale Abgrenzung vor allem für den Rechtspopulismus identitätsstiftend. Im Mittelpunkt einer populistischen Partei oder Bewegung steht oftmals eine charismatische Person, die vor allem Vorurteile und Ängste der Bevölkerung instrumentalisiert.

Populistische Bewegungen machen sich nicht selten den Ruf nach „mehr nationaler Souveränität“ oder „mehr Demokratie“ zu eigen. Die von Giuseppe Grillo in Italien hervorgerufene Bewegung „MoVimento 5 Stelle" (5-Sterne-Bewegung) fordert beispielsweise unter diesen Aspekten eine Abstimmung über den Verbleib des Landes in der EU.

Ein weiteres Merkmal des Populismus ist das Zeichnen eines drastischen Gegenmodells zum jetzigen Zustand. So steht bei der Partei „Drachme“ in Griechenland sowie bei der „Alternative für Deutschland” der Ausstieg aus dem Euro auf dem Programm, während die „UK Independence Party (UKIP)“ sogar den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union fordert. (=> mehr zum Thema auf Publixphere.de: Großbritannien und die EU)

Die Existenz populistischer Bewegungen könnte jedoch auch als Chance für die Demokratie gesehen werden: Je lauter populistische Stimmen gehört werden, desto klarer müssen auch andere politische Akteure ihre Positionen im politischen Meinungskampf verteidigen. Dieser Diskurs kann zu einer besseren Vermittlung verschiedener Positionen und damit zu einer Stärkung der politischen Öffentlichkeit führen, da die Bürger für gesellschaftliche Problemfelder sensibilisiert und zur Teilnahme am politischen Geschehen bewegt werden.

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Vorschlag von Kim Lane Scheppele: Ein besonderes Vertragsverletzungsverfahren zum Grundwerteschutz in der Europäischen Union

mehr zum Vorschlag und Kommentare zu diesem Thema finden Sie auf dem Verfassungsblog


Beitrag der Glienicker Gruppe: "Aufbruch in die Euro-Union"

Warum ohne mehr Integration weitere Krisen drohen. Elf deutsche Ökonomen, Politologen und Juristen – die Glienicker Gruppe – entwickeln Vorschläge für ein vertieftes Europa

Krise, welche Krise? Nimmt man die öffentliche Stimmung in Deutschland ernst, dann gibt es wenig Anlass, sich über Europa noch große Sorgen zu machen. Die dramatischen Wochen, als man täglich mit dem Schlimmsten rechnen musste, liegen lange zurück. Die Finanzmärkte haben sich beruhigt. Die Konstruktionsfehler der Währungsunion scheinen entschärft, Ratspräsident Herman van Rompuy kann vor der UN-Vollversammlung in New York unwidersprochen behaupten, die „existenzielle Bedrohung des Euro“ sei „vorbei“ – und er ist nicht der einzige.

Wir halten das für grundfalsch. Es gibt keinen Anlass, sich erleichtert zurückzulehnen. Im Gegenteil, der Quietismus, der große Teile der deutschen Öffentlichkeit in Bezug auf die Eurokrise ergriffen hat, ist nicht nur grundlos: Er ist gefährlich. Keiner der Krisenstränge, aus denen sich die Eurokrise zusammensetzt, ist auch nur annähernd gelöst – weder die Banken-, noch die Staatsschulden- noch die Wettbewerbsfähigkeitskrise. Das Staatsverschuldungsproblem eskaliert weiter. Die mit faulen Krediten vollgesogenen Banken lähmen die Privatwirtschaft. In den Krisenländern wird eine ganze Generation ihrer Lebenschancen beraubt. Das politische Spektrum der Krisenländer radikalisiert sich. Die Bereitschaft, in der Eurozone gemeinsame Lösungen zu finden, sinkt rapide.

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Wir – elf deutsche Ökonomen, Juristen und Politologen – wollen uns mit der Aussicht, weiter auf Zeit zu spielen und mit immer größerem Einsatz darauf zu wetten, dass die Krise irgendwann schon vorübergeht, nicht abfinden. Der Patient ist krank, und um ihn zu heilen, reicht es nicht aus, sein Fieber zu senken und ansonsten auf seine Selbstheilungskräfte zu vertrauen. Wir haben es mit strukturellen Problemen zu tun, und die verlangen nach strukturellen Lösungen. Auch wenn dies im Moment nicht populär ist: Wir sind überzeugt, dass die Währungsunion weitere Integrationsschritte, insbesondere eine handlungsfähige europäische Wirtschaftsregierung braucht. Wie diese aussehen könnten, wollen wir im Folgenden skizzieren.

Wir sprechen dabei als Deutsche, aber auch als Unionsbürger, die mit den Unionsbürgern anderer Länder in einem Gemeinwesen verbunden sind. Das ist kein Widerspruch: Es liegt im wohlverstandenen deutschen Eigeninteresse, selbst die politische Initiative zu ergreifen, statt aus Angst vor der Transferunion den Kopf in den Sand zu stecken und jeden konstruktiven Vorschlag als Versuch abzutun, uns das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Heute wissen wir: Das Prinzip der Eigenverantwortung, das Prinzip des No-Bailout war richtig. Aber es scheitert dort, wo seine Durchsetzung einen Kollateralschaden verursacht, der so groß ist, dass von vornherein weder Schuldner noch Gläubiger an die Ernsthaftigkeit der Eigenverantwortungsverpflichtung glauben. Die Architektur der Euro-Zone kann erst dann stabil sein, wenn sie solche Kollateralschäden vermeidet, und das bedeutet mehr Integration, wie wir in den folgenden vier Handlungsfeldern zeigen.

Eigenverantwortliche Schuldner brauchen eigenverantwortliche Gläubiger

Der Vertrag von Maastricht ging davon aus, dass das Problem unverantwortlicher Schuldenlasten gelöst ist, wenn nur alle Staaten die Verschuldungsregeln einhalten. Tatsächlich haben sich nicht alle daran gehalten, wie das Beispiel Griechenland zeigt. Deshalb war es richtig, die Verschuldungsregeln mit dem Fiskalpakt samt Europäischem Semester zu härten. Das so entstandene Regelgeflecht muss allerdings durch ein schlankeres und demokratischeres Verfahren auf einer soliden rechtlichen Basis ersetzt werden.

Richtig ist aber auch, dass die Krise etwa in Spanien oder Irland selbst durch den Fiskalpakt nicht verhindert worden wäre. Die fiskalischen Risiken, die sich dort aufgebaut haben, sind nicht allein durch den Bruch von Staatsverschuldungsregeln entstanden, sondern letztlich durch eine mangelhafte Regulierung des Finanzsektors innerhalb eines heterogenen Währungsraums, der starke regionale Ungleichgewichte hervorgebracht hat.

Die Krise hat gezeigt: Eine No-Bailout-Klausel lässt sich nur durchhalten, wenn den Schuldnern im Krisenfall privatwirtschaftliche Gläubiger gegenüberstehen, die Verluste absorbieren können. Dies ist derzeit systematisch nicht der Fall. Das fragile Finanz- und Bankensystem mit seinen systemrelevanten Akteuren kann im Krisenfall den europäischen Steuerzahler erpressen.

Deshalb benötigt die Eurozone eine robuste Bankenunion. Die gemeinsame Bankenaufsicht muss eine solide Kapitalausstattung des Bankensektors sicherstellen. Die gemeinsame Bankenrestrukturierung und –abwicklung muss die privatwirtschaftliche Gläubigerkette durchsetzen: Erleiden Banken große Verluste, müssen als erstes die Aktionäre, dann die nachrangigen Anleihegläubiger, dann die vorrangigen Gläubiger und zuletzt der von den Banken selbst finanzierte Bankenfonds einspringen. Erst wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, kann auf den europäischen Steuerzahler zurückgegriffen werden.

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass mit einer staatlichen Bankenrettung in der Währungsunion Umverteilungseffekte zwischen Ländern verbunden sind. Daher müssen Banken in der Eurozone strenger und nicht lascher reguliert werden als in Nationalstaaten mit eigener Währung.

Im Prinzip hat der Europäische Rat all dies bereits im Sommer 2012 erkannt. Aber wir sehen kommen, dass die Umsetzung spätestens im Frühjahr 2014 gegen die Wand fahren wird. Bis zu diesem Zeitpunkt soll die europäische Bankenaufsicht die Bilanzen der Banken überprüft haben. Ab Mai sollen dann endlich glaubwürdige Stresstests durchführt werden. Aber wie soll dies ernsthaft funktionieren, wenn bis dahin die Fragen der Bankenabwicklung noch gar nicht gelöst sind? Wir dürfen die neue Bankenaufsicht nicht vor die Wahl stellen, entweder die Probleme in den Bankbilanzen weiter unter dem Teppich zu halten oder die Banken in die unkontrollierte Insolvenz zu treiben. Dieses Szenario zeigt, wie sehr die Zeit drängt. Keinesfalls kann die politische Lösung der strukturellen Probleme der Eurozone unter Hinweis auf die Europawahl 2014 auf die lange Bank geschoben werden.

Eigenverantwortung und Solidarität gehen Hand in Hand

Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten heißt auch Eigenverantwortung ihrer Bürger. Dass diese die Krisenlasten im Wesentlichen schultern und dabei auch schmerzhafte Reformen anpacken müssen, ist daher unvermeidlich. Aber die Grenze dieser Eigenverantwortung ist dort erreicht, wo elementare Lebenschancen bedroht sind. Hier muss die Solidarität in der Union und speziell zwischen den Unionsbürgern greifen. Wenn in Griechenland, Portugal oder Spanien eine ganze Generation ihrer Chancen beraubt wird, ein produktives Leben zu führen, dann ist das nicht nur ein griechisches, portugiesisches oder spanisches Problem, sondern eines, das uns alle als Unionsbürger betrifft.

Die Währungsunion wird ohne kontrollierte Transferelemente nicht dauerhaft stabil sein können. So muss der Notfallmechanismus ESM zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden, der sich selbst verstärkenden Liquiditätskrisen glaubhaft entgegentreten kann. Damit wird verhindert, dass ein Staat abrupt den Zugang zum Kapitalmarkt verliert.

In Ländern, die vom Staatsbankrott unmittelbar bedroht sind und daher unter den Rettungsschirm schlüpfen, darf es aber nicht dazu kommen, dass die elementaren Lebenschancen ihrer Bewohner den Sparzwängen geopfert werden. Es kann zur Wahrung der Lebenschancen auch erforderlich werden, die Reformprogramme zeitlich zu strecken.

Eine Situation, in der ein Euro-Land in einen akuten Zahlungsnotstand gerät und gezwungen wird, seiner Bevölkerung drakonische Sparmaßnahmen zuzumuten, muss die Ausnahme bleiben. Damit es möglichst gar nicht erst so weit kommt, benötigen wir zwischen den Euroländern einen Versicherungsmechanismus, der die fiskalischen Konsequenzen eines dramatischen Konjunktureinbruchs für die Bevölkerung abfedert.

Die Eurozone sollte somit eine Versicherung gegen Konjunkturschocks aufbauen, zum Beispiel als gemeinsame Arbeitslosenversicherung in der Eurozone, die die nationalen Systeme ergänzt. Hiermit würden zwei Dinge erreicht. Zum einem würde man einen Mechanismus schaffen, der starken Rezessionen mit automatischen europäischen Stabilisatoren entgegenwirkt. Zum anderen würde eine Arbeitslosenversicherung auch Europa ein konkretes Gesicht bei den Unionsbürgern geben. Teilnehmen könnten diejenigen Länder, deren Arbeitsmärkte so organisiert sind, dass sie das geordnete Funktionieren der Währungsunion unterstützen. Man würde somit die Einführung einer gemeinsamen Versicherung dafür nutzen, lange verschleppte Reformen in den Arbeitsmärkten anzugehen. So ließe sich die Integration des europäischen Arbeitsmarktes vorantreiben und der makroökonomischen Zusammenhalt der Eurozone stärken.

Die Massenarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten erfordert ebenfalls Maßnahmen: Erstens muss die Mobilität im europäischen Arbeitsmarkt gezielt für Bewohner der Krisenländer verbessert werden. Mit Sprachkursen und anderen Ausbildungsmaßnahmen müssen diejenigen, die aufgrund der Krise ihre Lebensgrundlage verloren haben, in die Lage versetzt werden, in anderen Euroländern wieder Arbeit zu finden. Es kann nicht sein, dass Deutschland über Fachkräftemangel klagt, während in Spanien massenhaft Fachkräfte auf der Straße stehen. Zweitens muss dafür gesorgt sein, dass die Kreditmärkte in den Krisenländern funktionieren. Das heißt nicht, dass die Kreditbedingungen europaweit einheitlich sein sollten. Aber viel versprechende Investitionen müssen finanzierbar sein. Deshalb spielt die Bankenunion für die wirtschaftliche Erholung eine zentrale Rolle. Wir müssen aus den Fehlern Japans lernen.

Im Übrigen können auch Länder wie Deutschland direkt einen wichtigen Beitrag leisten. Wir wären in der aktuellen Niedrigzinsphase gut beraten, in unsere Infrastrukturen zu investieren und damit gleichzeitig Nachfrage in der Eurozone und Arbeitsplätze für Bürger der Krisenstaaten zu schaffen.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Krise

In einer Union müssen die Mitgliedsstaaten wechselseitig darauf vertrauen können, dass ihre Regierungen legitim gewählt, ihre Gesetze legitim zustande gekommen und ihre Bürger frei und gleich vor dem Gesetz sind. Wer der Union beitreten will, muss es sich daher gefallen lassen, mit großem Aufwand auf seine demokratischen, rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Verfassungsstandards überprüft zu werden. Mit dem Beitritt geht ein Staat die Verpflichtung ein, diese Standards auch weiterhin einzuhalten (Art. 2 EUV). Ist er aber einmal beigetreten, fehlen heute – siehe Ungarn – der EU effektive und glaubwürdige Instrumente, diese Verpflichtung durchzusetzen.

Das kann insbesondere zum Problem werden, wenn Mitgliedsstaaten in eine schwere Wirtschaftskrise geraten. Die Erfahrung zeigt, dass solche Krisen Gesellschaften radikalisieren und die demokratische Verfasstheit eines Staates bedrohen können. In einer Währungsunion ist aufgrund der Krisenkonstellationen, die entstehen können, eine um so größere demokratische und rechtsstaatliche Robustheit unabdingbar. Es kann nicht sein, dass die Union Staaten, die gegen das Beihilferecht verstoßen, wirksamer zur Ordnung rufen kann als solche, die die Demokratie oder rechtsstaatliche Regeln abschaffen. Sie muss mit einem Sanktionsmechanismus ausgestattet werden, der sicherstellt, dass die Mitgliedsstaaten sich untereinander vertrauen können und die Unionsbürger verfassungsstaatlichen Zerfallstendenzen nicht schutzlos ausgeliefert sind.

Generell ist die Union als Rechtsgemeinschaft vital davon abhängig, dass in den Mitgliedsstaaten die Effektivität des Rechts gewahrt bleibt. Wenn Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz derart dysfunktional werden, dass kein Mensch mehr vom Recht Gebrauch macht, bedroht das die Union in ihren Grundlagen. Die Missstände in einigen Krisenländern zeigen, dass diese Befürchtungen durchaus praktisch relevant werden können (wobei auch Deutschland sich bei der Umsetzung von EU-Richtlinien nicht immer mustergültig verhält). Die Förderung einer effektiven Rechtsstaatlichkeit, die zugleich die Autorität des europäischen Rechts gewährleistet, sollte daher eine deutlich höhere Priorität genießen als etwa die der Landwirtschaft.

Was die Union zusammenhält

Politische Unionen sind dazu da, gemeinsam öffentliche Güter bereit zu stellen, die jeder für sich genommen nicht bereit stellen könnte. Ursprünglicher Antrieb für die europäische Integration war die Sicherung des Friedens. Der wirksame Schutz der Außengrenzen und der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden im Schengenraum, der Binnenmarkt und der Schutz unserer Umwelt sind weitere öffentliche Güter, zu deren gemeinsamer Bereitstellung wir uns bereits jetzt verpflichtet haben. Die Bereitstellung einer stabilen gemeinsamen Währung ist konstitutiv für die Eurozone.

Die Grenze der Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten im Krisenfall ist dort erreicht, wo die Bereitstellung dieser öffentlichen Güter in Gefahr gerät. Wenn ein Mitgliedsstaat in eine Situation gerät, in der er die Flughafensicherheit nicht mehr gewährleisten kann, dann leidet der europäische Luftverkehr als Ganzes. Wenn in einem Mitgliedsstaat im Umgang mit Asylsuchenden menschenunwürdige Zustände herrschen, bricht unser europäisches Asylsystem zusammen. Wenn Krisenländer beginnen, ihre Märkte zum Schutz heimischer Hersteller abzuschotten, sind der Binnenmarkt und die gemeinsame Handelspolitik bedroht. Wenn die Wirtschaftskrise in einem Mitgliedsstaat einen Punkt erreicht, an dem die Finanzmärkte auf dessen Austritt aus der Währungsunion spekulieren, dann kann dies die gemeinsame Währung sprengen.

Nur wenn die Bereitstellung dieser öffentlichen Güter unabhängig von der Staatspleite eines Mitgliedslands funktioniert, wird die No-Bailout-Klausel durchsetzbar sein. Das muss nicht heißen, dass man die Bereitstellung komplett zentralisiert. Es kann genügen, der Union zu ermöglichen, im Krisenfall unterstützend einzuspringen. Die Union muss nicht selbst anfangen, flächendeckend menschenwürdige Unterkünfte für Asylbewerber zu bauen. Aber sie muss Staaten, die das nicht schaffen, zumindest finanziell dazu in die Lage versetzen können.

Keine minimale, sondern eine optimale Union

Diese vier Punkte – eigenverantwortliche Gläubiger, Schutz der Lebenschancen, Schutz der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, Bewahrung der öffentlichen Güter – sind das Minimum dessen, was erforderlich ist, um den Euro am Leben zu erhalten. Um das volle Potenzial der Union zu entwickeln und sie damit dauerhaft stabil zu machen, muss aber mehr geschehen.

So ist es längst überfällig, neben der gemeinsamen Währung auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verwirklichen. In einer multipolaren Welt, in der China, Russland und andere ihre Einflusssphären ausweiten und die globale Vormacht unseres Verbündeten USA abnimmt, sollte Europa seine gemeinsamen Interessen wirksam vertreten können.

In der Außenpolitik müsste es beispielsweise möglich sein, eine gemeinsame Strategie zur Ordnung des globalen Handels- und Finanzrechts und zur Nutzung globaler Gemeingüter wie Tiefsee oder Weltraum zu verfolgen. Dass die Länder der Euro-Zone mit ihrer gemeinsamen Währung auch einen gemeinsamen Sitz bei IWF und Weltbank beanspruchen sollten, ist eigentlich selbstverständlich. Wenn es eine effektive gemeinsame Außenpolitik und zentralisierte Entscheidungsstrukturen für die Sicherheitspolitik gäbe, wäre auch ein gemeinsamer Sitz im UN-Sicherheitsrat erreichbar.

Das sicherheitspolitische Hauptaugemerk muss sich aber in den kommenden Jahren auf die notwendigen und mittelfristig erreichbaren Ziele richten. Schon heute sollte die Europäische Verteidigungsagentur die Beschaffung militärischer Hard- und Software wirksamer bündeln und so den sicherheitspolitischen Klammergriff der nationalen Rüstungsindustrien aufbrechen. Mittelfristig sollte die Schaffung einer gemeinsamen Marine und Luftwaffe angestrebt werden. In diesen Teilstreitkräften wären die Kostenvorteile des gemeinsamen Vorgehens besonders groß. Dies würde allerdings effektive gemeinsame Einsatzentscheidungen zwingend voraussetzen.

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen nicht nur in der klassischen Sicherheits- und Außenpolitik. So hat die NSA-Affäre gezeigt, dass die Unionsbürger sich von ihren Staaten keinen Schutz ihrer Privatsphäre erhoffen können. Nötig wäre ein Binnenmarkt für Datensicherheit, der strenge Datenschutz- und Verschlüsselungsstandards im Internet definiert und im Rahmen von Abkommen mit Drittstaaten durchzusetzen bereit ist, statt sie durch Geheimdienst-Kooperationsabkommen auszuhebeln.

Im Idealfall sollten diese öffentlichen Güter für die Europäische Union als ganzes entwickelt werden, insbesondere unter Einbeziehung Großbritanniens. Soweit sich das aber als unmöglich herausstellt, sollte sich die Eurozone als strategische Option ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten auch in diesen Bereichen offen halten.

Ein Euro-Vertrag für die Euro-Union

Um dieses politische Programm zu verwirklichen, bedarf die Eurozone einer neuen, eigenen Ver-tragsgrundlage. Statt punktueller Reparaturen im Sinne eines „Maastricht-Vertrags 1.1“ brauchen wir einen Qualitätssprung in der Integration der Eurozone – einen Euro-Vertrag. Mit einem solchen Vertrag würden die in der Krise gemachten kollektiven Einsichten und Erfahrungen dauerhaft gespeichert. Mit dem Euro-Vertrag ginge es endlich wieder darum, was europapolitisch gewollt und erforderlich ist, und nicht darum, was verfassungsrechtlich an tatsächlichen oder scheinbaren Einwänden gesehen wird. Die Änderungen des Grundgesetzes, die im Kontext einer weiteren Integration möglicherweise erforderlich sind, würden aus Anlass des Euro-Vertrages endlich konkret erörtert.

Der Gedanke eines Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten ist nicht neu. Schon vor fast 20 Jahren haben Wolfgang Schäuble und Karl Lamers ganz ähnliche Ideen propagiert. Die Eurokrise hat indessen gezeigt, dass eine solche Vertiefung notwendig den gesamten Kreis der Euroländer umfassen muss.

Dieser Vertrag darf Europa nicht spalten, sondern muss es voranbringen. Er muss die Belange aller Mitgliedstaaten beachten, auch die der kleineren. Er steht perspektivisch allen offen, die zu dieser vertieften Integration bereit sind. Der Erfolg muss ihr Recht geben und überzeugend genug ausfallen, dass zukünftig auch ein Land wie Großbritannien die Teilnahme an einer solchen Euro-Union für sich als attraktiv erkennen kann.

Wirtschaftsregierung und Euro-Parlament

Bisher haben bei der Bewältigung der Eurokrise die nationalen Regierungschefs den Ton angegeben. Aber dieser Intergouvernmentalismus ist den Aufgaben, die es in einer Währungsunion zu bewältigen gibt, schlicht nicht gewachsen. Diese institutionelle Überforderung ist wesentlich dafür verantwortlich, dass die EZB nolens volens eine derart zentrale Rolle zur Sicherung der gemeinsamen Währung übernommen hat.

Wir benötigen endlich eine handlungsfähige europäische Exekutive, die politisch agieren kann – Reformpakete mit Krisenländern verhandeln, über Bankenschließungen entscheiden und die Bereitstellung öffentlicher Güter sicherstellen. Deshalb braucht die Euro-Union eine handlungsfähige Wirtschaftsregierung.

Diese Wirtschaftsregierung muss über abgestufte Durchgriffsrechte in die nationale Budgetautonomie verfügen. Solange die Mitgliedstaaten ihre Pflichten einhalten, kann es sich dabei nur um unverbindliche Empfehlungen handeln. Wenn ein Mitgliedstaat aber die Stabilitätskriterien verletzt, muss die Wirtschaftsregierung ihm verbindliche Vorgaben machen können, wie viel er einzusparen hat – an welcher Stelle, bleibt ihm überlassen. Die europäische Wirtschaftsregierung braucht aber nicht nur Durchgriffsrechte, sondern auch ein Budget. Daraus fördert sie öffentliche Güter und speist einen Wachstumsfonds, um die Reformprozesse in den Eurostaaten zu begleiten. Prinzipiell könnte man dieses Budget über Steuern zu finanzieren. Es gibt aber begründete Vorbehalte dagegen, der Wirtschaftsregierung zu erlauben, umfänglich auf die mitgliedstaatliche Steuerbasis zuzugreifen. Deshalb bietet es sich an, das Euro-Budget über einen Mitgliedsbeitrag zu finanzieren, etwa in Höhe von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Die Euro-Regierung muss durch ein Euro-Parlament gewählt und kontrolliert werden. Es liegt nahe, dieses mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus den Euro-Staaten zu besetzen, da es um die Bereitstellung der öffentlichen Güter in der Eurozone geht. Es gibt in unserer Gruppe aber auch Stimmen, die eine Besetzung durch Abgeordnete der nationalen Parlamente präferieren, um deren Anspruch, die Kontrolle über die Staatsausgaben in der Hand zu behalten, entgegenzukommen.

Unabhängig davon, für welches Modell man sich entscheidet, sollten Länder wie Polen, soweit sie in absehbarer Zeit planen, den Euro einzuführen, von Anfang an in die Verhandlungen zum Euro-Vertrag und die Institutionen der Euro-Union eingebunden werden. So könnten entweder polnische Europa-Abgeordnete bzw. Abgeordnete des polnischen Sejm bis zum Beitritt Polens zur Währungsunion im Euro-Parlament mit Rederecht, aber ohne Stimmrecht vertreten sein.

Niemand sollte heute dem Trugschluss erliegen, die Krise werde sich beruhigen und die hastig zusammengezimmerten Stabilisierungskonstrukte reichten aus, um den Euro zum verdienten und notwendigen historischen Erfolg zu machen. Von einem der Gründerväter der Europäischen Union, Jean Monnet, stammt das Wort: „L’Europe se fera dans les crises“. Die gegenwärtige Krise ist die wohl größte, die die Union in ihrer Geschichte durchzustehen hatte. Jetzt hängt es von uns ab, ob wir sie als große Chance nutzen, die Euro-Union begründen und damit die Währungsunion vollenden.


Glienicker Gruppe

Armin von Bogdandy, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Christian Calliess, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der FU Berlin und Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen (SRU)
Henrik Enderlein, Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin
Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Professor an der Universität Mannheim
Franz C. Mayer, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Uni Bielefeld
Daniela Schwarzer, Leiterin der Forschungsgruppe Europäische Integration bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Maximilian Steinbeis, Betreiber der Diskursplattform »Verfassungsblog«
Constanze Stelzenmüller, Direktorin, Transatlantic Trends, German Marshall Fund of the United States in Berlin
Jakob von Weizsäcker, Leiter der Grundsatzabteilung im Thüringer Wirtschaftsministerium
Guntram Wolff, Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Think Tanks Bruegel in Brüssel

www.glienickergruppe.eu

Eine kürzere Fassung dieses Textes wurde am 17. Oktober 2013 in der ZEIT veröffentlicht. [weniger anzeigen]


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Der „Europäische Salon“ ist ein Gemeinschaftsprojekt
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Logos FU Berlin und RBSG Fachbereich Rechtswissenschaft
Prof. Dr. Christian Calliess, LL.M. Eur
Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht
Jean Monnet Chair


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