Volksentscheide


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Umfragen zeigen regelmäßig: eine große Mehrheit der Deutschen würde die Einführung bundesweiter Volksentscheide befürworten. Entsprechende Ideen schafften es allerdings nicht in den aktuellen Koalitionsvertrag. Auch die Wissenschaft ist in der Frage gespalten, ob das Volk direkt über Themen wie die Zuwanderung entscheiden soll. Von Alexander Matschke und Alexander Wragge

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Streitfall: Bundesweite Volksentscheide

Union und SPD haben in den Koalitionsverhandlungen die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen beraten. Allerdings fand das Vorhaben nicht Eingang in den Koalitionsvertrag.

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Die künftige Bürgerbeteiligung war im November 2013 Gegenstand der Koalitionsverhandlungen von SPD und Union. Die zuständige Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Hans-Peter Friedrich (CSU) und Thomas Oppermann (SPD) machte einen Vorschlag, den die Süddeutsche Zeitung in Auszügen veröffentlicht hat.

Demnach sollen die Bürger in bundesweiten Volksabstimmungen insbesondere über Fragen der europäischen Einigung entscheiden können - etwa über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die EU, Kredite an andere EU-Staaten oder neue Kompetenzen für Brüssel. Auch spielten Friedrich und Oppermann mit dem Gedanken, dass deutsche Gesetze per Referendum gekippt werden können. Voraussetzung: eine Million Bürger setzen sich per Unterschrift für eine Volksabstimmung ein, bei der eine Mehrheit gegen das Gesetz votiert. Ein Referendum über beschlossene Gesetze sei ein "behutsamer Einstieg in direktdemokratische Teilhabe", zitiert die Süddeutsche Zeitung das interne Papier von Friedrich und Oppermann. Bislang sieht das Grundgesetz Volksabstimmungen nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 2 GG) und im Fall einer neuen Verfassung (Art. 146 GG) vor.

Für die Umsetzung der Vorschläge von Friedrich und Oppermann müsste das Grundgesetz geändert werden. Eine Koalition aus CDU, CSU und SPD hätte in Bundestag und Bundesrat die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit.

Die CDU hat sich allerdings von den Vorschlägen der Arbeitsgruppe in den Koalitionsverhandlungen distanziert. "Wir sind gegen solche bundesweite Volksabstimmungen. Wir werden dem Vorschlag nicht zustimmen. Demzufolge wird die nächste Koalition dies auch nicht einführen", erklärte Unionsfraktionsvize Günter Krings (CDU).

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD sind die konkreten Vorschläge der Arbeitsgruppe nicht enthalten. Stattdessen findet sich auf Seite 151 der allgemein gehaltene Satz: "Wir wollen neue Formen der Bürgerbeteiligung und der Wissenschaftskommunikation entwickeln und in einem Gesamtkonzept zusammenführen."

Die CSU hatte sich bereits im Wahlkampf dafür eingesetzt, Volksabstimmungen über wichtige Europafragen einzuführen. Auch SPD, Grüne, Linke, FDP und AfD werben für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi begründet: „Die Menschen wollen nicht nur alle vier Jahre ihr Kreuz machen, sondern sich immer mehr in grundsätzliche Entscheidungen einbringen.“ FDP-Chef Christian Lindner erklärt: „In unserer gereiften Demokratie sind Volksentscheide keine Gefahr, sondern eine sinnvolle Ergänzung der Parlamente. Als Liberaler habe ich keine Angst vor unserem Volk.“

Die CDU bleibt bei bundesweiten Volksentscheiden allerdings skeptisch. „Volksentscheide auf kommunaler oder Landesebene sind eine gute Sache, weil es dort um Fragen geht, die die Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld betreffen", so CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Auf Bundesebene lehne die CDU sie aber ab, „da es dort um sehr schwierige Fragen geht, die nicht einfach auf ein Ja oder Nein reduziert werden können“. CSU-Chef Horst Seehofer kündigte dagegen Ende 2013 an: "Wir werden für Volksentscheide kämpfen, bis sie Realität sind." [weniger anzeigen]


Was denken die Bürger?

Umfragen zeigen regelmäßig eine große Mehrheit für bundesweite Volksentscheide. Bei den Anhängern aller großen Parteien trifft das Vorhaben auf Zustimmung.

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Eine Emnid-Umfrage für BILD am SONNTAG (Februar 2014) ergibt: 72 Prozent der Befragten sind für die Einführung bundesweiter Volksentscheide. 23 Prozent lehnen dies ab. Allerdings zeigte eine Emnid-Umfrage für FOCUS im November 2013 noch eine höhere Zustimmung. Darin plädierten 84 Prozent der Befragten für Volksentscheide auch auf Bundesebene. Lediglich 13 Prozent der Befragten sprachen sich dagegen aus. Die Parteizugehörigkeit spielt in dieser Frage keine große Rolle. Bei allen großen Parteien sind die Befürworter in der Mehrheit. Besonders groß ist - laut den Zahlen vom November 2013 - die Zustimmung bei Anhängern der Linkspartei (95 Prozent), der SPD (88 Prozent) und Union (83 Prozent). [weniger anzeigen]

Was sagen Befürworter und Gegner?

Zahlreiche Staatsrechtler und Bürgerinitiativen setzen sich für das Instrument bundesweiter Volksentscheide ein. Allerdings gibt es auch Bedenken.

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Der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim meint, ein bundesweiter Volksentscheid würde helfen, "den Abstand zwischen denen da oben und den Bürgern zu verringern“. Die Gefahr des Missbrauchs bestehe heute nicht mehr. Ähnlich sehen es die Staatsrechtler Otmar Jung und Christian Pestalozza, die eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes fordern. „Das Volk sollte zumindest die Möglichkeit haben, über Grundgesetzänderungen abzustimmen“, so Pestalozza. „Das ist Usus in den Bundesländern sowie in vielen Staaten der Welt und gehört zur guten demokratischen Tradition.“ Jung rechnet fest mit der Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene. „Das ist ein Schritt, der kommen wird, wie einmal das allgemeine Wahlrecht und das Frauenwahlrecht kamen."

Befürworter von Elementen direkter Demokratie wie der Verein Mehr Demokratie e.V. argumentieren, durch Volksentscheide würden bessere Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung getroffen. Sie sehen Volksentscheide als ein Mittel, Abgeordnete dazu zu bringen, mehr auf die Wähler zu hören und die Durchsetzung von Partikularinteressen zu dämpfen. Volksbegehren brächten zudem Themen auf die politische Agenda, die andernfalls unter den Tisch fallen würden.

Gegner von Volksentscheiden sind ebenfalls für bessere Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung, meinen aber, dass die Entscheidungen im Parlament getroffen werden sollten. Für sie werden Partikularinteressen dort besser abgemildert, weil schlagkräftige Gruppen keine Entscheidungen erzwingen können, für die sie keine parlamentarische Mehrheit haben. Beispielsweise fürchtet der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, einen stärkeren Populismus in Folge bundesweiter Volksabstimmungen.

In der Politikwissenschaft fragt man nicht so sehr nach dem ob, sondern nach dem wie von Volksabstimmungen. Hier analysiert beispielsweise der Politikwissenschaftler Frank Decker die verschiedenen Formen von direkter Demokratie und blickt vergleichend auf weitere demokratische Systeme. [weniger anzeigen]


Elemente direkter Demokratie in Ländern und Kommunen

Olympia, Berliner Stromnetz, Tempelhofer Flugfeld: Auf Ebene der Bundesländer und Kommunen sind Volksentscheidungen bereits üblich - besonders in Bayern, wo die Bürger in vielen Angelegenheiten ihrer Gemeinde selbst entscheiden dürfen.

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Im November 2013 lehnten etwa 1,3 Millionen Wahlberechtigte in München, zwei bayerischen Landkreisen und einer Gemeinde eine Olympia-Bewerbung der Region für 2022 ab.

In Berlin war eine Woche zuvor ein Volksentscheid über den Kauf des Stromnetzes der Stadt am Quorum gescheitert. Das heißt, dass keine ausreichende Zahl von Stimmberechtigten mit Ja gestimmt hat. Allerdings werden die Berliner am Tag der Europawahl (25. Mai 2014) über die Bebauung des Tempelhofer Felds abstimmen. Die Initiative "100% Tempelhofer Feld" will verhindern, dass das Gelände des ehemaligen Flughafens teilweise bebaut wird.

Neben dem Volksentscheid ist auch das Volksbegehren ein Element der direkten Demokratie. Dabei fordert eine ausreichende Zahl von Bürgern per Unterschrift, dass sich das Parlament mit einem bestimmten Thema befasst. [weniger anzeigen]


Das Schweizer Modell

Als Vorbild direkter Demokratie gilt die Schweiz. Das Instrument des Volksentscheids wird auf allen politischen Ebenen genutzt.

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In der Schweiz hat die direkte Demokratie eine lange Tradition. Die Bürger gestalten die Politik auf Ebene der Gemeinde, des Kantons und auf nationaler Ebene regelmäßig in Referenden mit. Auf Bundesebene ist die Volksabstimmung die letztinstanzliche Entscheidung. Die Bevölkerung stimmt über Manager-Gehälter genauso ab wie über die Frage, wer die Steuersätze festlegen soll (Liste der eidgenössischen Volksabstimmungen).

Zuletzt beschlossen die Schweizer mit einer knappen Mehrheit eine Beschränkung der Einwanderung (9. Februar 2014). 50,3 Prozent der Wähler votierten bei einer Volksabstimmung für die Initiative "Masseneinwanderung stoppen". Initiatorin ist die rechtskonservative und EU-skeptische Schweizerische Volkspartei (SVP). Der Schweizer Bundesrat soll jetzt eine gesetzliche Regelung erarbeiten, wonach nur noch bestimmte Kontingente von EU-Bürgern dauerhaft ins Land gelassen werden. Maßgeblich sollen die „gesamtwirtschaftlichen Interessen“ der Schweiz, das Gesuch eines Arbeitgebers und die Integrationsfähigkeit der Zuwanderer sein. Konkrete Zahlen nennt der Initiativ-Text nicht.

Der Beschluss führt zu zahlreichen rechtlichen Unklarheiten, etwa inwieweit alle Verträge zwischen Schweiz und EU betroffen sind. Verhandlungen über die Beteiligung der Schweiz am Forschungsprogramm Horizon 2020 und dem Studentenaustauschprogramm ERASMUS Plus hat die EU-Kommission bereits ausgesetzt. Im ZDF diskutieren der Oberbürgermeister von Tübingen Boris Palmer (Grüne) und der Politikwissenschaftler Frank Decker (Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) vor dem Hintergrund der Schweizer Entscheidung, ob bundesweite Volksentscheide ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten.

Die rechtskonservative Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) lobt das Schweizer Modell, per Volksabstimmung über das Zuwanderungsrecht entscheiden zu lassen. Ein solche Volksabstimmung könne er sich auch in Deutschland vorstellen, sagt AfD-Chef Bernd Lucke. Volksabstimmungen zeigten, wo dem Volk der Schuh drücke und welche Probleme von der Regierung vernachlässigt würden. [weniger anzeigen]


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Zuletzt aktualisiert am 19. Februar 2013