Es gibt keinen Platz für Antisemitismus in Deutschland!
Die neue Hauptsynagoge in München. Foto: digital cat (CC BY 2.0)
Auch Muslime müssen den Diskurs über ihr Verhältnis zum Judentum beginnen, fordert nemo.
Ein Beitrag von nemo
Eines sei vorausgeschickt. Es geht hier nicht oder nur sehr bedingt um den aktuellen palästinensisch-israelischen Konflikt in Gaza oder eine Bewertung dessen, was die Akteure dort im Moment veranstalten. Es geht um Antisemitismus in Deutschland und im europäischen Zusammenhang.
Ich habe vor Jahren mal auf SPON über die Shoa sinngemäß folgendes gepostet: „Ein Volk kann in seiner Geschichte durch das was es tut oder durch das was es zulässt das es in seinem Namen getan wird oder durch das es was unterlässt zu tun, eine untilgbare Schuld auf sich laden und das Recht verlieren als ein Volk auf einem einheitlichen Staatsgebiet frei und unabhängig weiter zu existieren. Das deutsche Volk hatte diesen Punkt 1945 erreicht und nur der Beginn des Kalten Krieges hat dies verhindert“ und mir dafür wie SPON-üblich Hohn, Spott und den Vorwurf eigehandelt zu pathetisch zu sein. Gleichwohl gilt, dass gerade das große, mächtige, wiedervereinigte Deutschland angesichts seiner Geschichte gegenüber dem Judentum und dem Staat Israel eine besondere Verantwortung hat. Dieses spezifische Bewusstsein verlange ich nicht nur von allen hier geborenen und aufgewachsenen Deutschen, sondern auch von den vielen Millionen Menschen aus aller Welt, die sich entschlossen haben in Deutschland zu leben oder sogar inzwischen einen deutschen Pass besitzen und selbstverständlich alle Rechte wie freie Meinungsäußerung, Demonstrationen etc. in Anspruch nehmen können und sollen!
Antisemitismus gibt es in Deutschland und teilweise auch in Teilen Europas in vielfältiger und oft subtil versteckter Form vom rechten Leugner der Shoa bis zum linken Antizionisten. Was Europa anbetrifft sind besonders - wie ich glaube - tiefkatholische Nationen wie Frankreich oder Polen anfällig. Dies verdanken wir der Tatsache, dass wir Christen, obwohl unser Glaube ganz viele jüdische Elemente enthält, uns vor fast 2000 Jahren bewusst in radikaler Abgrenzung zum Judentum und zu Juden-Christen definiert haben. Zahllose antijüdische, christlich motivierte Progrome füllen die Geschichtsbücher vom Mittelalter bis in die Neuzeit und darüber hinaus. Der gelbe Judenstern an der Kleidung zum Beispiel ist eine christliche Erfindung. Ähnliches gilt übrigens auch für den Islam, der noch mehr jüdische Glaubenselemente aufgenommen hat und glaubte sich deshalb noch fanatischer vom Judentum abgrenzen zu müssen. 622 AD ließ der Prophet als erstes alle Rabbis von Medina töten, die sich ihm nicht anschließen wollten. Die folgenden Jahrhunderte verliefen für die Juden dann so ähnlich wie im christlichen Europa. So haben wir mit einem, zugegeben relativ kleinen Teil der 4 Millionen Muslime in Deutschland ungewollt auch ein Stück Antisemitismus „importiert“ und ein Stück Geschichte ist wieder präsent, von dem wir geglaubt haben, dass wir es in Europa hinter uns gelassen hätten.
Antisemitisch ist für mich persönlich alles was das Existenzrecht des Staates Israel als primär ethnisch-jüdische Einheit in den Grenzen von 1967 (vor dem 6-Tage-Krieg) in Frage stellt, mit allen völkerrechtlichen Implikationen dieser Aussage. Antisemitisch ist auch alles, was ein freies, unbehindertes und selbstbestimmtes jüdisches Leben in Deutschland und anderswo in der Welt bedroht.
Diese Grenze ist in Deutschland bisher nie überschritten worden. Was es an Antisemitismus gab konnte man bisher getrost in der Schublade Xenophobie ablegen und damit muss jede Gesellschaft leider leben. Solange sie nicht politisch instrumentalisiert wird geht das auch irgendwie. Bei den Demonstrationen in Berlin, Essen und vielen anderen Städten der letzten Tage wurde aber zum ersten Mal unverhohlener Judenhass, zur Schau gestellt und Juden wieder durch Berliner Straßen gejagt. Alle oben genannten Grenzen sind damit eingerissen!
Ich habe als besonders perfide Form des Antisemitismus immer die Aussage vieler Historiker und Gesellschaftswissenschaftler in den 60er und 70er Jahren empfunden, dass die Shoa und die Vernichtung des jüdischen Lebens in Deutschland, sein Anteil an Politik, Wissenschaft und Kultur vor 1933 zwar schrecklich, beklagenswert, aber unumkehrbar seien. So etwas ist irreversibel meinten sie. Ich habe das immer bezweifelt. Und siehe da: es gibt ihn wieder diesen unverzichtbaren jüdischen Anteil am Leben in Deutschland. Jüdische Namen haben wieder Klang und Einfluss in Politik, Wissenschaft und Kultur, jüdisches Leben blüht in vielen Städten. Junge Israelis kommen bewusst nach Berlin, um hier zu leben und arbeiten, publizieren hier wieder auf Hebräisch wie in den 20er Jahren. Die jüdischen Gemeinden wachsen. Alle Strömungen des Judentums sind wieder in Deutschland vertreten von liberalen bis zu einer chassidischen Gemeinde in Berlin und deutsche Universitäten bilden wieder RabbinerInnen aus.
All das dürfen wir unter keinen Umständen gefährden. Wenn Teile der muslimischen oder palästinensischen Gemeinschaft in Deutschland und ihre rechten(!) wie linken Unterstützer glauben sie dürften dies ungestraft tun, müssen wir sie daran hindern: in Gesprächen, durch Gegendemonstrationen und wenn es sein muss auch durch strafrechtliche Sanktionen, obwohl ich kein Freund solcher Lösungen bin, weil die Grenzen zu einer Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit immer fließend sind.
Es werden ja Hunderte von „Maßnahmen“ zur Integration durchgeführt und mit hunderten von Millionen Euro finanziert. Wir wär’s denn mal damit dabei (Schulunterricht, Jugendaustausch, muslimischer Religionsunterricht usw.) die aggressive Haltung weiter Teile des Islam zum Judentum offensiv zu thematisieren? Außerdem kommt die muslimische Gemeinschaft nicht umhin einen offenen intensiven Diskurs über das Verhältnis von Islam und Judentum zu beginnen.
Geschrieben am Vorabend des Shabbat 25./26.07.2014. Als Nichtjude aber Anhänger des Rabbi Jeshua wünsche ich allen schon jetzt: Shabbat Shalom. Und danke allen für die Geduld beim Lesen dieses Textes. Er ist sehr lang geraten.
Rolf Verleger
Nächstenliebe ist nicht Judenhass
Israels maßloser Versuch, die Hamas als Vertretung Palästinas ein für allemal zu liquidieren, treibt in Deutschland einen schon lange schwärenden Widerspruch auf die Spitze: Sympathie für Menschenrechte oder für Israel? Unsere Politiker reagieren schablonenhaft und die jüdische Gemeinschaft wirkt ratlos; gemeinsam rufen sie „Hilfe, Antisemitismus!“.
Der Begriff „Antisemitismus“ sollte im 19. Jahrhundert dem Hass gegen Juden einen wissenschaftlichen Anstrich geben und betonte die Unvereinbarkeit von edler „germanischer“ und niederer „semitischer“ Rasse. Dieser Rassenwahn, dem viele aus meiner Familie und fast das ganze europäische Judentum zum Opfer fielen, ist mit Hitler gestorben. Wenn heute der Begriff „Antisemitismus“ verwendet wird, ist er daher ungenau, und er vernebelt mehr als er erklärt. Es gibt weiter Hass gegen Juden wie es überhaupt Hass gegen Andere gibt und wohl immer geben wird. Die einflussreichste Ideologie für Judenhass lancierte vor über hundert Jahren das Zarenreich: die jüdische „Weltverschwörung“. Dies ist eine Halbwahrheit (und daher wohl unausrottbar) denn selbstverständlich gibt es neben armen und einflusslosen Juden auch reiche und mächtige.
In der Psychotherapie unterscheidet man zwischen eingebildeten und realen Ängsten. Natürlich ist die Abgrenzung immer subjektiv. Aber wenn in unserem wohlhabenden und lange von Krieg verschonten Land sich Menschen von jüdischer Weltverschwörung bedroht fühlen, erscheint das unangemessen. Jedoch bei Menschen, deren Familien vor 67 Jahren enteignet und vertrieben wurden und die bis heute in Lagern, als Bürger zweiter Klasse in Israel, als ungern Geduldete in Jerusalem, als Ghettoisierte in der Westbank und als hilflos Gefangene in Gasa leben, erscheint Hass gegen Israel äußerst verständlich. Europa, dessen Judenhass zur Gründung Israels in Arabien führte, bekommt nun durch Israels Starrsinn diesen Hass zurückimportiert.
Diesen verständlichen Hass wird man nicht durch „Antisemitismus“-Rufe zum Verschwinden bringen, sondern indem man seine Ursachen angeht. Da Israel nicht freiwillig Kompromisse sucht, muss es durch Sanktionen dazu bewegt werden. Deutsche Politiker sollten das an führender Stelle in der EU tun, denn sonst setzen sie eine deutsche Tradition fort: Mitläufer, die gegen besseres Wissen nichts gegen Unrecht tun. Diejenigen Deutschen, die heute die palästinensische Position unterstützen (und laut Umfragen weniger Vorurteile gegen Juden haben als die Unterstützer Israels), setzen dagegen die Tradition der Menschlichkeit fort, die sich vor 75 Jahren im Widerstand gegen Unrecht zeigte. Entsprechend dieser Tradition sollten wir Juden Israel drängen, die Palästinenser für jahrzehntelang ihnen angetanes Unrecht um Verzeihung zu bitten.