Führt die Klickzahlen-Fixierung von Online-Redaktionen zu Qualitätseinbußen? Stephan Dörner (Stephan Dörner) liefert eine Analyse. Foto: Laia Ros CC BY-NC-SA 2.0
Ein Beitrag von Stephan Dörner
Publixphere hat mich im Rahmen der aktuellen Debatte zur Medienkritik gefragt, inwieweit mit dem Online-Journalismus ein Qualitätsverlust in der Berichterstattung einhergeht. Hierzu ein Text aus meinem onlinejournalismusblog.
In meinen „Zehn Lebenslügen zum Onlinejournalismus“ habe ich die im Vergleich zu Print niedrigen Werbepreise des Onlinejournalismus als ein Hauptproblem benannt. Ich glaube, dass das Qualitätsproblem, das Onlinejournalismus heute teilweise immer noch hat, dabei eine maßgebliche Rolle spielt. Nehmen wir ein extremes Beispiel – dieser Artikel bei Handelsblatt Online: „Gold steigt auf 2.050 Dollar“.
Der Artikel selbst ist dünn. Im Großen und Ganzen wurde nur die extremste Schätzung eines Analysten wiedergegeben und in die Überschrift genommen, so wie es auch in der Vergangenheit schon häufiger getan wurde. Denn, „extrem klickt gut“. 2011 zum Beispiel zitierte Handelsblatt Online die Schätzung der Analysten von JP Morgan, dass der Goldpreis auf 2500 Dollar steigen werde. Heute steht er bei rund 1682 Dollar.
Doch der Artikel an sich – ein aus den Agenturen Reuters und Bloomberg zusammengeschriebener Text – ist nur Beiwerk. Eine Wald-und-Wiesen-Analystenschätzung, um die es sich hier handelt, wäre normalerweise auch keinen Aufmacher wert – es gibt Tausende davon und wer lange gesucht sucht, findet auch zu jeder Zeit extreme Prognosen.
Artikel als Trägermasse für Klick-Fabriken
Dennoch wurde der Artikel am 7. Januar im Aufmacher-Bereich platziert, nicht nur, weil eine extreme Vorhersage – und sei sie noch so irrelevant – auf viel Interesse stößt. Wer auf den Artikel klickt, erkennt, dass er nur Trägermasse ist – für die darin zahlreich verbauten Kurztextgalerien. Das sind zahlreiche kleine Klick-Fabriken mit teilweise absurd anmutendem Inhalt. Die erste „Was Sie über Gold wissen sollten“ ergibt noch Sinn, der Leser kann sich über grundlegende Frage zum Thema Gold informieren: Was es ist, wo es noch gefördert wird, wer am meisten davon besitzt und so weiter. Doch dann wird der kurze Artikel durch nicht weniger als sechs weitere Kurztextgalerien unterbrochen – mit teilweise absurdem Inhalt. Beispiel: „Was 2012 aus 1.000 Euro wurden“. Jetzt kann sich der Leser durch Einträge wie „Chinesische Aktien“ klicken und erfährt dann als Antwort 989 Euro. Aha. Ebenfalls nett ist eine Kurztextgalerie, die lediglich aus Überschriften wie „Top 7“ bis „Top 1“ besteht – dahinter verbirgt sich wie Deutsche ihr Geld anlegen. Hinzu kommen Verweise auf Videos, Bildergalerien und andere Artikel. Alles in allem wird der Lesefluss in dem Artikel durch nicht weniger als zehn Klick-Elemente gestört, wenn man die Bilder im Text nicht mitzählt.
Die Klick-Masche gibt es auch bei anderen – der Artikel bei Handelsblatt Online soll hier nur als besonders extremes Beispiel dienen. Zuerst entdeckte ich den massiven Einsatz von teils sinnlosen Kurztextgalerien bei Welt Online vor vielen Jahren.
Falsche Anreize durch die IVW
Um den Sinn dieses Klicks-Wahnsinns zu verstehen, muss man wissen, dass irgendwann einmal Leute, die von der Technik des Internets so viel Ahnung haben wie ich von Raumfahrt, „Page Impressions“ als eine Währung für Werbung im Internet festgelegt haben. Die noch aus dem Print-Zeitalter stammende IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern) weist diese völlig aussagelosen Seitenaufrufe neben den viel aussagekräftigeren Unique Visitors aus. Während die Unique Visitors angeben, von wie vielen verschiedenen IP-Adressen eine Website an einem Tag besucht wurden (der „unique“ Visitor“ ist am nächsten Tag schon wieder ein anderer, immerhin wechselt auch häufig die IP-Adresse), zählen die Page Impressions einfach jeden Aufruf an die Seite – und sei es nur der Aufruf einer Kurztextgalerie mit dem Inhalt „989 Euro“. Das zählt genauso als eine Page Impression wie das ausgeruhte Lesen eines langen Artikels auf einer Seite. Mehrfach schon wurde angekündigt, dass PIs künftig keine Rolle mehr spielen werden - doch bis heute werden sie in den IVW-Rankings angegeben, anders als bei der Konkurrenz, den AGOF-Zahlen (Arbeitsgemeinschaft Online Forschung). Alex merkt in den Kommentaren auf meiner Seite an, dass es sich keineswegs um eine Konkurrenz handelt (Alle Details bei ihm im Kommentar - vielen Dank!)
Soduku und 333 Fakten über Sex
Onlinemedien haben die absurde Währung gerne aufgegriffen – immerhin werden aus ein paar Hunderttausend Besuchern so schnell viele Millionen Page Impressions (PIs) – und das klingt gleich viel besser. Ebenfalls schön an der PI-Währung ist, wie leicht sie sich manipulieren lässt. Wenn aus dem Artikel über eine Seite ein Artikel über sieben Seiten wird, bedeutet das eine Versiebenfachung der PIs, zumindest, wenn jemand den gesamten Artikel liest. Wenn aus einem Artikel gleich eine Bildgalerie mit 30 Bildern wird, bedeutet das Durchklicken der Galerie eine Verdreißigfachung.
Zahlreiche Online-Medien trieben das PI-Spiel so weit, dass sie sogar Sodukus und andere Mini-Spiele auf ihrer Website anboten, bei denenjeder Spielzug ein weiterer Seitenaufruf war. Den Absurditäts-Rekord im deutschsprachigen Raum hält bis heute Springers „Welt Online“ mit einer Bildergalerie namens „333 Fakten über Sex“. Die Galerie wurde später in „Wie lang, wie oft, wo und mit wem?“ umbenannt und enthält jetzt „nur“ noch 329 vermeintliche Fakten über Sex.
Was Medien von Steve Jobs lernen können
Was Medien bei all dem leider völlig vergessen haben, ist der Leser. Die menschlichen Qualitäten des verstorbene Apple-Chef Steve Jobs sind zu Recht umstritten. Doch sein Talent, Apple konsequent geschäftlich richtig auszurichten, ist allgemein anerkannt. Von ihm können Verlage meiner Meinung nach eines lernen: Jobs' konsequent durchgehaltene Strategie lautete, ein Produkt so zu gestalten, dass der Endkunde es benutzen will. Das klingt trivialer, als es ist – denn die meisten anderen Handyhersteller richteten ihre Geräte bis zum Markteintritt von Apple vor allem an den Bedürfnissen der Zwischenhändler aus – vor allem Unternehmenskunden und Mobilfunkprovider.
Ich sehe das heute im Online-Journalismus ähnlich: Optimiert wird auf die vollkommen absurde Messgröße Page Impressions, die sich deutlich leichter und kurzfristiger verändern lässt als die Zahl der Leser. Optimiert wird auf den Zwischenhändler Werbetreibende, nicht auf den Endkunden Leser. Dabei entsteht aber ein Produkt, von dem ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass es Leser gerne nutzen. Welcher an Wirtschaftsnachrichten interessierte Leser hat schon Zeit und Lust sich jeden Tag durch zahlreiche Bildergalerien und Kurztexte zu klicken? Zumal die Bilder bei den meisten Galerien überhaupt keinen Mehrwert bieten. Auch Sueddeutsche.de-Chef Stefan Plöchinger hat sich bereits dazu in einem Meedia-Interview geäußert und einen Appell an die Kollegen gerichtet, die Zahlen-Trickserei endlich sein zu lassen.
Der für mich wichtigste Schritt, Qualitätsjournalismus ins digitale Zeitalter zu holen, ist, ihn endlich auch im Onlinejournalismus stattfinden zu lassen. Sobald das passiert ist, können alle Medienhäuser auch über eine Monetarisierung beispielsweise über Paywalls nachdenken. Vorher nicht.
*Hinweis: Dieser Text erschien zunächst im onlinejournalismusblog.com