Das nicht einzulösende Grundrecht
Hallo jkippenberg. Erst einmal habe ich das Gefühl, dass kaum eine Problematik so viel Ratlosigkeit hervorruft wie das Flüchtlings-Dilemma. Dein Vorschlag zeigt das ganz gut.
Die Asylverfahren vom europäischen Boden weg ins Ausland zu verlagern, leuchtet erst einmal ein. Denn die Entscheidung bleibt ja ungeachtet des Ortes, an dem sich Antragssteller und Bearbeiter befinden, diesselbe: entweder ein Mensch hat Recht auf Schutz, weil er zum Beispiel als Homosexueller, als Frau, als angehöriger einer Minderheit, als Oppositioneller verfolgt wird, oder nicht. Das ist ein Grundrecht. Wäre es irgendwie teilbar, also würden würde wir sagen, dieses Grundrecht gilt bei uns nur für maximal 500.000 Menschen pro Jahr, wäre es kein Grundrecht mehr.
Was passiert aber jetzt, wenn dieses Grundrecht maximal in Anspruch genommen wird? Also wenn alle Menschen, die asyl- und schutzberechtigt sind, auch tatsächlich kommen? Ich kann das nur vermuten, aber aktuell wären wohl weite Teile der Bevölkerung von Eritrea asyl- oder doch wenigstens schutzberechtigt (Siehe Artikel zur Lage in Eritrea).
Also in Deiner Variante würden jetzt Millionen von Eritreäern bei einer EU-Botschaft oder einem Aufnahmezentrum (wo liegt genau der Unteschied) das Aufnahmeverfahren beginnen und dann in die EU kommen.
Ich glaube, die unausgesprochene Angst in der Debatte ist, dass das praktisch nicht geht, dass es Europa überfordert. Dass die potenziell Millionen Menschen keine nachhaltige Perspektive in Europa hätten. Wer diese Angst als rechtsradikal abtut, soll sagen, dass es geht und wie.
Also wir haben es mit einem ehrenwerten, für den einzelnen Menschen lebensrettenden Grundrecht zu tun, das zu Ende gedacht, aktuell weltweit nicht einlösbar ist. Das ist übrigens nichts neues. Viele Menschenrechte sind weltweit betrachtet offensichtlich nicht einlösbar.
Was machen wir in dieser Situation? Die ehrlichsten Wege wären a) das Grundrecht abschaffen oder b) mit allen Mitteln versuchen, dieses Grundrecht für so viele Menschen wie möglich verfügbar machen, also die Flucht nach Europa maximal zu vereinfachen und Europa auf die maximale Aufnahme vorzubereiten. Dass Europa auch 10, 20, 30 Millionen Menschen zusätzlich ernähren und beherbergen kann, steht ausser Frage.
Zu beiden konsequenten Wegen kann sich aber niemand durchringen. Stattdessen gibt es diesen Mittelweg. Es wird am Grundrecht festgehalten UND gleichzeitig machen wir es den Menschen so schwer wie möglich, dieses Grundrecht wahrzunehmen (Dublin II, Frontex, Grenzsicherung). Warum? Weil wir das Grundrecht wollen und gleichzeitig Angst vor seiner letzten Konsequenz haben. Wir sind da etwas schizophren.
Als ersten Schritt, um uns die Angst zu nehmen, würde ich gerne einmal wissen, wie viele Menschen tatsächlich weltweit schutzberechtigt sind und wieviele davon nach Europa wollen (das sind ja längst nicht alle). Dann würde ich ganz nüchtern überlegen: können sie alle kommen? Und dann: welche Alternativen gibt es? Vielleicht zwingt uns auch diese ganz nüchterne Erwägung dazu, ein wenig die Welt zu retten, also zum Beispiel einem Land wie Eritrea genau jetzt so zu helfen, dass der Exodus aufhört, die Menschen nicht mehr fliehen müssen.
Also mein Vorschlag: Entscheiden wir uns noch einmal bewusst für das Grundrecht auf Flüchtlingsschutz und Asyl und gestalten dann unsere Außen- und Innenpolitik so, dass wir es auch wirklich einlösen können.