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Dr. Thomas Darnstädt zur Frage nach einem Demokratiedefizit in der EU


Gibt es ein Demokratiedefizit in der EU? Und wenn ja, worin liegt der maßgebliche Aspekt des Demokratiedefizits?

Dr. Darnstädt: Defizitär ist die europäische Demokratie gegenüber den Vorstellungen von Demokratie in den Mitgliedstaaten als repräsentative Demokratie. Dieses Defizit liegt im Mangel an europäischer politischer Willensbildung. Grundlage des demokratischen Willensbildungsprozesses im Volk ist eine funktionierende politische Öffentlichkeit. Es gibt keinen gemeinsamen europäischen Diskurs in den europäischen Völkern und keine europäische Arena für einen solchen Diskurs.

Kurzvorstellung Dr. Darnstädt


Wir haben die Podiumsgäste des zweiten Europäischen Salons zum Thema "Vor der Wahl zum Europäischen Parlament: Europa der Bürger – Europa der Eliten?" vorab um ihre Meinung zu unterschiedlichen Fragen gebeten, um sie online zu diskutieren. Alle Online-Beiträge und Kommentare haben die Chance, am 30. April auf dem Podium direkt in die Diskussion mit den Experten einzufließen.

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Kommentare

  • Kann sich ein europäischer politischer Wille über die europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV bilden? Eine solche Initiative könnte ein Weg sein, konkrete Anliegen bürger_innennah zu verbreiten und in ihrem Rahmen könnten sich Bürger_innen gegenseitig über die Sprachbarriere hinweghelfen.

    • sabinemueller ist dafür
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      Eine sehr gute Idee, nur wo und wie soll der Findungs- und Willensbildungsprozess dafür stattfinden? Wäre da nicht eine europäische Öffentlichkeit eine erste Grundvoraussetzung für den zweiten Schritt einer europäischen Bürgerinitiative?

  • In gewisser Weise stimme ich mit Herrn Darnstädt überein, doch ich würde ihm auch widersprechen wollen. Ja, es gibt einen Mangel an europäischer politischer Willensbildung. Doch ich bleibe skeptisch ob es wirklich einen gemeinsamen europäischen Diskurs in den europäischen Völkern geben muss, oder eine einzige europäische Arena für einen solchen Diskurs.

    • das sehe ich ähnlich. und haben wir nicht gerade in themen, die europaübegreifend gesellschaften beeinflussen einen durchaus emanzipativen zusammenschlusss beobachten können? siehe acta, occupy, vielleicht bald ttip?! und die arena, nun, die ist uns mit dem web technisch in die hände gefallen, wir müssen sie nur bürgerschaftlich zu nutzen üben und sie nachdrücklich gegen monopolisierung verteidigen.

  • Liebes Forum, in der 'Offline'-Diskussion in Berlin ergaben sich zu dieser Frage noch einige Impulse.

    • Dr. Darnstädt nahm Bezug auf die zwei Legitimitäts-Stränge der EU, die Christian Calliess ins Spiel gebracht hatte - nämlich die Legitimation der EU durch die gewählten nationalen Regierungen (Europäischer Rat / Rat der EU) und durch die gewählten Abgeordneten im EU-Parlament. In dieser Doppelkonstruktion sieht Darnstädt eine Gefahr. Mängel in einem Strang würden mit Verweis auf den anderen Strang schöngeredet und relativiert. "Dadurch dreht sich die Diskussion im Kreis."
    • Darnstädt erklärte, er könne sich eine repräsentative Demokratie in Europa nur auf Basis einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit vorstellen. Gemeinsam müsse um ein "europäisches Gemeinwohl" gerungen werden.

    Mit Blick auf die Voraussetzungen einer europäischen Demokratie spielte die "Europäische Öffentlichkeit" in der Diskussion die zentrale Rolle:

    • hier verwies Herr Darnstädt als ehemaliger Redakteur des SPIEGEL auf die zentrale Verantwortung der Medien. Die Medien würden ihrer Verantwortung für die europäische Öffentlichkeit nicht ausreichend gerecht. Sie müssten die "europäischen Gegenstände" des politischen Diskurses herausarbeiten und erklären - durch Analysen, nicht durch "fetzige Reportagen"
    • Darnstädt wies zugleich auf die kommerziellen Zwänge hin, unter denen private Medien stehen. "Wir müssen verkaufen. Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Fischer. Also wir müssen die Themen bringen, die unsere Leser auch interessieren. Und da beißt sich bei Europa die Katze in den Schwanz."
    • Darnstädt sieht ein großes Problem darin, die europäische Öffentlichkeit überhaupt erst in die Köpfe der Medien und Redakteure zu bekommen. Der deutsch-französische Sender ARTE wiederum sei ein "reines Elitenprogramm"
  • Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach einem europäischen Medium. Ein solches gibt es de facto nicht (mit der oft ignorierten Ausnahme von Eurosport). Ich habe den Eindruck, dass die wissenschaftliche Meinung im Moment zur Einschätzung tendiert, dass sich ein solches Medium auch in naher Zukunft nicht etablieren wird. Gründe hierfür sind zum beispiel die mangelnde Nachfrage und daraus folgende Abhängigkeit von staatlicher Förderung (Bsp. Euronews), was keine unabhängige Medienlandschaft zulässt. Sehen Sie das anders?

  • Statt der großen theoeretischen Diskussion würde ich es gerne am Beispiel durchspielen. Was entscheiden wir in der EU gemeinsam? Zum Beispiel Fragen wie die Forschungsförderung oder die Eigenkapitalaustattung von Banken. Komplexe Themen. Komplex hoch 28, weil 28 Staaten spielen (Regierungen, Parlamente, Interessengruppen, Öffentlichkeiten). Wie kriegen wir diesen Prozess so hin, dass Bürger verstehen, dass es immer auch im technischen Detail um politische Richtungsentscheidungen geht? Wie bankenfreundlich ist die EU? Wie sehr setzt die EU auf Grundlagenforschung, wie sehr auf Leuchttürme? usw. In der perfekten EU-Demokratie müssten Wähler beobachten und verstehen, zwischen welchen Alternativen entschieden wird. Sie müssten sich - schon im Vorfeld - eine Meinung zu den anstehenden Entscheidungen bilden, sich einmischen und entsprechend wählen, national und europäisch. Von dem Prinzip "der Bürgerwille fließt direkt in die EU-Politik" sind wir jedoch weit entfernt. Alles verschwindet im komplexen Prozess, hinter den Türen des Rats und der Kommission, in den vielen tausend Änderungsanträgen des EU-Parlaments. Vielleicht muss das so sein, damit der Prozess friedlich (ohne zwischenstaatliche Stimmungsmache) und effektiv (ohne das große Konzert der Meinungen) läuft. Die Magenschmerzen des Idealisten bleiben.

  • Ich stimme Ihnen im Grunde zu. Allerdings sehe ich auch die Herausforderung, eine europäische Arena für einen solchen Diskurs zu eröffnen:

    Erst einmal thematisch: Wie soll es einen thematischen europäischen Diskurs geben, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich noch nicht einmal auf lokaler Ebene engagieren und partizipieren? Wie kann eine Politisierung überhaupt stattfinden und insbesondere die Distanz zu Europa - nicht nur geografisch nach Brüssel, sondern auch inhaltlich zur Lebensrealität der Menschen - abgebaut werden?

    Zweitens ist da die strukturelle Frage: Wie kann ein europäischer Diskurs überhaupt organisiert werden - von der Sprachbarriere einmal ganz zu schweigen...

    Ein wirklicher europäischer Diskurs und eine politische Öffentlichkeit werden sich nur etablieren, wenn die Menschen sich auch als Europäer identifizieren, ein gemeinsames Werteverständnis empfinden und v.a. VERSTEHEN. Die aktuellen Tendenzen scheinen sich ja gerade weg von Europa und hin zu einem neuen (alten) Nationalbewusstsein zu entwickeln. Eine Antwort habe ich natürlich auch nicht. Ich glaube nur, dass die EU vielleicht zu schnell gewachsen ist - nicht wirtschaftlich, aber ideologisch, denn viele Menschen können der Idee "Europa" nicht mehr folgen.

    • ich denke nicht, dass es zwingend an sprache oder faktisch ressourcen hängen wird sondern am format und zirkulierendem content innerhalb einer europäischen öffentlichkeit - die viele medien bereits bedienen. muss sich nicht vielmehr brüssel endlich öffnen und aus den hinterzimmern ins licht treten, enscheidungs- und meinungsfindung transparent machen und solide, einfach wege entwickeln bürgerInnen zu informieren?