Sören Brandes Unsere Zeit
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Hm. Selbstverständlich setze ich Liberalismus und Neoliberalismus nicht gleich, und noch viel weniger Liberalismus und „Neoliberalismus“ (= das, was manche Linke sich als Popanz aufgebaut haben, was mit dem real existierenden Neoliberalismus aber nicht mehr viel zu tun hat). Um das vielleicht mal aufzudröseln, weil es bei Dir auch ein bisschen durcheinandergeht:

Der Liberalismus hatte seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert immer (mindestens) zwei Strömungen, eine gesellschaftliche und eine wirtschaftliche. Seit Marx wurde in der Linken der Liberalismus als Ganzes, nicht nur der wirtschaftliche, als „bürgerliche Ideologie“ abgetan. Hier ist der Ursprung der im Text kritisierten Konstellation zu suchen, dass auf der Linken teilweise der Liberalismus als der Hauptfeind gehandelt wurde, gegen den man unter Umständen auch ruhig mal eine Querfront-Strategie fahren könne.

Der real existierende Neoliberalismus (so nenne ich das einfach mal) war ein Denkstil, der in den 30er Jahren v. a. im Gefolge der Weltwirtschaftskrise entstand und von Anfang an recht heterogen war. Es gab z. B. die deutschen Neoliberalen, die später als Ordoliberale bezeichnet wurden und maßgeblich die Soziale Marktwirtschaft begründeten. Es gab aber auch eine radikalere Strömung, die vor allem mit den Namen Friedrich Hayek und Milton Friedman verbunden ist. Die ganze Gruppe der Neoliberalen war vor allem durch einen gewissen (allerdings durchaus unterschiedlich ausgeprägten) Glauben an den Markt und durch die persönliche Bekanntschaft v. a. in der Mont Pèlerin Society (http://en.wikipedia.org/wiki/Mont_Pelerin_Society) verbunden. Übrigens gab es auch in dieser Gruppe durchaus gesellschaftspolitische Konzepte, auch wenn die nicht unbedingt im Vordergrund standen bzw. durch Vorstellungen vom Markt geprägt waren.

Drittens gibt es nun den „Neoliberalismus“ in Anführungszeichen. Das ist das, was v. a. in neomarxistischen Kreisen als die neueste Inkarnation des Kapitalismus gilt; das, was ich in meinem Text als Gespenst beschrieben habe. Zuweilen ist das einfach nur ein Schlagwort; es gibt aber mittlerweile auch eine ganze sozialwissenschaftliche „Forschungs“richtung, die den „Neoliberalismus“ schlechterdings überall sucht und folglich auch findet: bei Facebook, in der Wikipedia, im Weight-Watchers-Programm (zu all diesen Dingen gibt es Aufsätze). Wir leben in der neoliberalen Ära, und alles, was uns so umgibt, ist deshalb irgendwie schlimm. Bei diesem „Neoliberalismus“ ist in der Tat nicht mehr klar, was das denn nun sein soll (und darauf habe ich meinem Text angespielt): eine Ideologie? Eine Ära? Eine Verschwörung?

Ich finde es schwierig zu erklären, wie eine solche Denkrichtung entstehen konnte. Einer meiner Erklärungsversuche ist also nun, den Aufstieg des „Neoliberalismus“ als Deutungsmodell für die gesamte Gegenwart aus der alten Feindschaft der Linken zum Liberalismus herzuleiten. Und ich finde es hochproblematisch, dass manche Linke diesen „Neoliberalismus“ für so mächtig halten, dass sie meinen, sich gegen ihn mit den Rechten verbünden zu müssen.