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Der Feind, liebe Linke, steht rechts


Foto: dpaHat Europas Linke ihre kosmopolitische Tradition vergessen? Liebäugelt sie mit dem Nationalismus? Im Bild: Linke-Politikerin Sarah Wagenknecht. Foto: dpa.


Ein Beitrag von Sören Brandes Unsere Zeit

Dieser Text erschien zunächst im Blog Unsere Zeit

Gut, ich gebe es zu: Ich habe die Linken auf dem Kieker. Das liegt allerdings nur daran, dass ich selbst ein Linker bin. Ich will, dass alle Menschen frei und gleich werden. Ich will, dass die Welt besser und gerechter wird. Ich will, dass Rassismus, Sexismus und Nationalismus aus der Welt verschwinden, lieber gestern als morgen. Ich will, dass alle Menschen in Wohlstand leben können. Ich trage also auch das gute alte linke Bedürfnis mit mir herum, die Welt zu verändern. Wie viele meiner Freunde bestätigen können, bin ich auch mindestens so selbstgerecht wie die meisten Linken und habe außerdem einen ebenfalls typisch linken, nervtötenden Spaß daran, andere mit meinen politischen Ansichten zu belästigen. Eigentlich bin ich wahrlich ein Vollblutlinker.

Nun habe ich aber einige Probleme mit meinem Linkssein: Erstens werde ich nur selten als Linker wahrgenommen und anerkannt. Damit kann ich noch leben – ich behaupte einfach wacker weiter, dass ich dazugehöre. Zweitens aber finde ich zunehmend Ansichten und Aussagen von Linken, denen ich nicht nur nicht zustimmen kann, sondern denen ich ganz vehement widersprechen muss – und zwar gerade, weil ich links bin. Eine Einladung an junge Südeuropäer, in Deutschland eine Lehrstelle zu suchen, sei eine „Ohrfeige“ für die deutschen Jugendlichen, die, selbstverständlich, zuerst gefördert werden müssten, meint etwa Sahra Wagenknecht. Der Schweizer Sozialdemokrat Rudolf Strahm glaubt, Personenfreizügigkeit über nationale Grenzen hinweg sei ein „neoliberales und menschenverachtendes Konzept“. Oder nehmen wir die Forderung nach einer erneuerten nationalen „Grenzziehung gegenüber der sogenannten ‚Globalisierung’“, die der Soziologe Wolfgang Streeck erhebt. Und Paul Murphy von der Sozialistischen Partei Irlands, bis zur letzten Wahl Abgeordneter im Europäischen Parlament, befindet: „Gäbe es mehr europafeindliche Abgeordnete, ob von links oder rechts, würde das Parlament weniger Schaden anrichten.“

Warum sagt die Linke nichts?

Diese Aussagen, denen man noch einige hinzufügen könnte, haben ihren gemeinsamen Ursprung in einem Missverständnis: dass die ärgsten Feinde der Linken nicht Rechte, sondern Liberale wären. Der junge Genosse aus dem Europaparlament etwa freut sich ganz offen über den Zuwachs an Rechtsradikalen und -populisten bei der letzten Europawahl – weil er glaubt, mit ihnen gemeinsam den „ausführenden Arm der neoliberalen Verschwörung gegen Europas Arbeiterklasse“, das EU-Parlament, bekämpfen zu können. Da tut sich also ein Linker mit Rassisten, Nationalisten, Homophoben zusammen, und findet überhaupt nichts dabei. Schlimmer: Wo bleibt der Aufschrei auf der Linken? Denn im #Aufschreien ist sie doch eigentlich gut geübt, jeder baden-württembergische Kommunalpolitiker kann sie auf die Palme bringen. Und hier sitzt einer der Ihren im wichtigsten und mächtigsten Parlament Europas und verbündet sich mit ganz offen nationalistischen Ideologen, und die Linke sagt: nichts.

Mein Verdacht ist: Sie sagt nichts, weil sie das Verhalten des Herrn Murphy in Wahrheit nachvollziehbar und sympathisch findet. Es gibt, spätestens seit 1848, dem Erscheinungsjahr des Kommunistischen Manifests, in der Linken eine ehrwürdige Tradition, Gespenstern hinterherzujagen, und das Gespenst der heutigen Linken ist der „Neoliberalismus“. Zwar lässt sich sicher einiges gegen einen radikalen Marktfundamentalismus einwenden, der mit einem religiös anmutenden Eifer daran glaubt, dass Markt die Lösung all unserer Probleme wäre. Man kann auch mit einigem Recht argumentieren, die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan habe Schaden angerichtet. Es ist aber etwas ganz anderes, zu behaupten, wir lebten in einer Zeit, in der der „Neoliberalismus“ (was immer das genau sein mag) unsere gesamte Kultur und Politik durchdrungen habe, und die EU sei nur ein weiterer „Agent“ dieser rätselhaften, alles unterwerfenden Macht, gegen die man den Nationalstaat in Stellung bringen müsste.

Schattenboxen gegen den „Neoliberalismus“

Ich persönlich glaube ja, dass man der Wirklichkeit der heutigen Welt näher kommt, wenn man sie über Prozesse wie Globalisierung, Differenzierung und Individualisierung beschreibt und die positiven Entwicklungen nicht vergisst, die diese Prozesse beinhalten. Das ist aber hier nicht relevant. Die Linke, will ich sagen, kann den Neoliberalismus durchaus hassen (und analysieren und bekämpfen) – solange sie ihn nicht mehr hasst als Rassismus, Nationalismus und Sexismus, die klassischen rechten Überzeugungen. Die Linke scheint sich aber das neoliberale Gespenst, gegen das sie schattenboxt, als so mächtig vorzustellen, dass sie tendenziell der Meinung ist, sie müsste mit der klassischen Rechten paktieren, um es zu erlegen. Man konnte das, zum Beispiel, gerade in Frankreich beobachten: Arnaud Montebourg, der Führer des linken Flügels der Parti Socialiste und bis dahin Wirtschaftsminister, stellte sich öffentlich gegen den „neoliberalen“ Kurs von Präsident Hollande – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieser Kurs Frankreich von außen aufgezwungen werde, durch Deutschland und die EU. Diese nationalistische Sündenbockrhetorik kann man exakt so auch bei Marine Le Pen finden.

Die Neigung, den „Neoliberalismus“ zu überhöhen, entspringt letztlich dem schon von Marx formulierten Glauben, dass die Ökonomie die „Basis“, der alles beherrschende Kern von Gesellschaft und Politik sei. Die „Ökonomisierung“ der Gesellschaft, die viele Linke für das angebliche Zeitalter des Neoliberalismus konstatieren, das in den 80er Jahren angebrochen sei, hat insofern weniger mit tatsächlich beobachtbaren Entwicklungen zu tun als mit ihren eigenen theoretischen Vorannahmen: Wer nur nach Ökonomie und Märkten sucht, findet auch nur Ökonomie und Märkte. (Das gilt übrigens ganz ähnlich auch für tatsächlich neoliberale Wirtschaftswissenschaftler wie Gary Becker, die ebenfalls – déformation professionnelle – überall in der Gesellschaft nach Märkten suchten und sie folglich auch fanden. Linke Sozial- und Kulturwissenschaftler untersuchen nun die Werke Beckers und anderer und lesen deren Fehlrepräsentation der Gesellschaft als Hinweis auf eine tatsächliche Ökonomisierung – eine der vielen seltsamen Blüten, die die „Analyse“ des „Neoliberalismus“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften getrieben hat. Don’t get me started.)

Was die Globalisierung anzubieten hat

Der Schattenkampf der Linken gegen den „Neoliberalismus“ wäre an sich ganz lustig anzusehen – wenn er nicht, ganz real, rechten Kräften in die Hände spielen würde. Denn das Modell Montebourg ist nicht spezifisch französisch. Überall in Europa gewinnen die Rechten mit der Behauptung Stimmen, Globalisierung und Europäisierung unserer Gesellschaften seien zu bekämpfende Übel. In dieser Situation müsste die Linke leidenschaftlich auf der Seite des Internationalismus stehen, für das Globale, die Menschenrechte, Europa und die Überwindung des Nationalstaats eintreten. Stattdessen überzieht sie alles mit einer ätzenden „Kritik“, verfolgt abstruse Verschwörungstheorien und jagt Gespenster. Die Globalisierung ist für sie, genau wie für die Rechte, ein Feind, der von außen kommt und den man bekämpfen muss. Die Menschenrechte sind für sie ein neokoloniales Projekt des Westens. Europa ist für sie „neoliberal“, rassistisch und bellizistisch. Und sie fordert einen starken Staat, der für sie nach wie vor und ohne weitere Reflexion (oft gar mit Emphase) der Nationalstaat ist – anstatt in die Zukunft zu denken, Alternativen zum nationalen Sozialstaat zu suchen, gräbt sie sich im 20. Jahrhundert und damit im vergangenen Jahrtausend ein.

Dieser Nationalismus ist vielleicht das Kernproblem. Dank der Erfolge des nationalen Wohlfahrtsstaats in der Mitte des letzten Jahrhunderts scheint die Linke ihre kosmopolitische Tradition vergessen zu haben. Man muss noch nicht einmal die nationalistischen Exzesse eben jenes Jahrhunderts in Erinnerung rufen, um das für problematisch zu halten. Man kann sich auch einfach vor Augen führen, welche Erfolge die nationale Grenzen perforierenden Entwicklungen unserer Zeit – Globalisierung und Europäisierung – anzubieten haben:

  • Wirtschaftliche Fortschritte vor allem in Schwellenländern mit gewaltigen Wohlstandsgewinnen und einem (absoluten, nicht nur relativen) Abbau globaler Armut.
  • Transnationale Migrationsbewegungen, die die Vielfalt und den Wohlstand aller Gesellschaften voranbringen.
  • Globale Kommunikationsnetze.
  • Offene Grenzen in Europa. So beschämend und empörend die Vorgänge an den EU-Außengrenzen sind – jeder abgebaute Schlagbaum ist ein Fortschritt in einer Welt, die abstruserweise nach wie vor in künstlich festgelegte Flächen eingeteilt ist, an deren Grenzpfosten für viele Menschen die Bewegungsfreiheit endet.
  • Der Aufbau einer supranationalen Demokratie in Europa, ein Modell, das in der Tat, sollte es funktionieren, als Vorbild für andere Weltregionen dienen kann, weil es Konflikte verhindert und moderiert und leistungsfähige Politiken gegenüber globalen Prozessen ermöglicht, ohne auf demokratische Legitimation und Repräsentation zu verzichten.
  • Ganz persönlich: Wie viele Freunde, Bekannte, Kollegen habt ihr, die aus anderen Ländern stammen? Wie viele hatten eure Großeltern oder Eltern? Würdet ihr auf diese Menschen verzichten wollen? Nein? Dann solltet ihr auch auf die Globalisierung nicht verzichten wollen.

Die Sehnsucht der altlinken Grummelopas

Man kann und sollte sicher verschiedene Aspekte der Globalisierung kritisch hinterfragen. Aber jemand, der ernsthaft gegen Nationalismus ist (und viele Linke reklamieren das trotz allem für sich), kann nicht gleichzeitig gegen die Globalisierung sein. Es gibt zwei Varianten, wie Linke mit diesem Widerspruch umgehen: Entweder ignorieren sie ihn. Das ist die „kritische“ Variante, die sich auf eine linke Tradition berufen kann, derzufolge es, warum auch immer, Sinn macht, schlechterdings alles zu kritisieren, was einem vor die Flinte läuft. Man kann das, wenn man will, von Adornos „negativer Dialektik“ herleiten, die von vornherein und sowieso alles schlimm findet und sich deshalb um positive Alternativen nicht zu kümmern braucht. Man kann so ganz wunderbar gleichzeitig gegen Nationalismus, Globalisierung und überhaupt alles sein und dabei ein reines Gewissen bewahren, ohne die Welt auch nur das kleinste Stück vorangebracht zu haben.

Die zweite Variante: Man konvertiert (oder bekennt sich) ganz offen zum Nationalismus. Man findet diese Version vor allem bei männlichen, älteren und entsprechend etablierten Intellektuellen. Diese altlinken Grummelopas sehnen sich nach den 50er und 60er Jahren zurück, ihrer Jugendzeit, in der der nationale Wohlfahrtsstaaat seine großen Erfolge feierte. Nehmen wir zum Beispiel Wolfgang Streeck, den oben bereits einmal zitierten Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, der in seinem 2013 veröffentlichten Buch Gekaufte Zeit zu dem Schluss kommt, dass man den Nationalstaat gegen die von ihm sogenannte „sogenannte ‚Globalisierung’“ in Stellung bringen müsse: „Im Westeuropa von heute ist nicht mehr der Nationalismus die größte Gefahr, schon gar nicht der deutsche, sondern der Hayekianische Marktliberalismus.“ (Siehe nämlich Front National, UKIP, SVP, FPÖ, AfD… Und warum eigentlich nur Westeuropa?)

Die Linke muss sich wiederfinden

Womit wir auch schon wieder beim Liberalismus wären. Denn wie gesagt: Die seltsame Rechtsneigung der Linken resultiert nicht zuletzt aus ihrer übertriebenen Abneigung gegen den Liberalismus. (Und, leider, auch aus der seltsamen Rechtsneigung von „Liberalen“ wie eben Hayek, Friedman oder auch Westerwelle. Der Verrat des real existierenden Neoliberalismus durch seinen Pakt mit den Konservativen wäre eine eigene Polemik wert.) Die Linken müssen keinesfalls alle Positionen des Liberalismus, schon gar nicht des Neoliberalismus, übernehmen, sonst wären sie keine Linken mehr. Sie sollten aber den Gegner unmissverständlich auf der Rechten suchen. Dabei würden sie zahlreiche Ziele entdecken, die sie mit Liberalen gemeinsam haben: Freiheit und Wohlstand für alle. Mitbestimmung, Demokratie, Emanzipation.

Um Lenins Frage aufzunehmen: Was tun? – Die Linke muss sich von der konservativen Rechten und insbesondere ihrem traditionellen Nationalismus abwenden. Sie sollte sich auch vom Marxschen Ökonomismus lossagen, der in der Ökonomie, im Kapitalismus oder nun im Neoliberalismus die Wurzel allen Übels erkennen will, und einsehen, dass wir, wenn wir die Welt verändern wollen, zunächst einmal die Einstellungen derer ändern müssen, die das „Fremde“ ablehnen und verabscheuen. Sie muss sich endlich in ein konstruktives Gespräch über die Globalisierung einklinken, ein Nachdenken nach vorne beginnen, anstatt weiter die Vergangenheit zu idealisieren. Sie muss Konzepte entwickeln, wie die beiden großen historischen Leistungen des Nationalstaats – Demokratie und allgemeine Wohlfahrt – auch in einer globalisierten, von nationalen Grenzen so weit wie möglich befreiten Welt bewahrt werden können. Ganz konkret muss sie sich heute gegen den nationalistischen Backlash stellen, der das bisher auf dem Weg zu einer offenen, freien und gleichen Welt Erreichte umkehren und zerstören will. Mit anderen Worten: Sie muss sich selbst wiederfinden.


Kommentare

  • Der Text ist seltsam. Da wird der Neoliberalismus (Wirtschaft) einfach mal mit Liberalismus gleichgesetzt und Linken im Vorbeigehen unterstellt, Rechtsradikalismus zu unterschätzen. Wer sich über die Folgen der Globalisierung Gedanken macht, wird zum „Grummelopa“ und das Eintreten für ein umweltschonendes und humanes Wirtschaftssystem wird zum „Schattenboxen“ gegen ein neoliberales Gespenst.

    Nur zwei kurze Anmerkungen:
    1. Liberalismus (Gesellschaft) und Neoliberalismus (Wirtschaft) sind so unterschiedlich wie York und New York.
    2. Brandes verwendet den Begriff „Neoliberalismus“ gleich 17 Mal im Text, schreibt aber zu dem Begriff, „Was auch immer das sein mag“. Wie soll aber ich als Leser nun wissen, was der Autor mir sagen will, wenn er selbst nicht weiß, was er da schreibt?

    • Nein das sehe ich anders. Ich finde der Text macht viele gute Punkte. Und es ist in linken Kreisen völlig üblich, alles Mögliche als Neoliberalismus abzukanzeln. Der Text will ja gerade weiterkommen, über diese Einfachheit hinaus.

      • Hallo Rakaba,

        nenne mir einen Punkt, dann kann ich darauf eingehen.

        Zum Neoliberalismus: Das ist lediglich eine Wirtschaftsideologie, bzw. eine wirtschaftspolitische Ideologie. So hat die freie Meinungsäußerung zwar viel mit Liberalismus zu tun, aber eben gar nichts mit Neoliberalismus. Wenn dann aber im Text steht, dass "Liberale die ärgsten Feinde der Linken sind" dann wird es doch abstrus. Das Missverständnis liegt hier wohl weniger bei den Linken, als beim Autor selbst.

        • Sören Brandes Unsere Zeit
          +1

          Hm. Selbstverständlich setze ich Liberalismus und Neoliberalismus nicht gleich, und noch viel weniger Liberalismus und „Neoliberalismus“ (= das, was manche Linke sich als Popanz aufgebaut haben, was mit dem real existierenden Neoliberalismus aber nicht mehr viel zu tun hat). Um das vielleicht mal aufzudröseln, weil es bei Dir auch ein bisschen durcheinandergeht:

          Der Liberalismus hatte seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert immer (mindestens) zwei Strömungen, eine gesellschaftliche und eine wirtschaftliche. Seit Marx wurde in der Linken der Liberalismus als Ganzes, nicht nur der wirtschaftliche, als „bürgerliche Ideologie“ abgetan. Hier ist der Ursprung der im Text kritisierten Konstellation zu suchen, dass auf der Linken teilweise der Liberalismus als der Hauptfeind gehandelt wurde, gegen den man unter Umständen auch ruhig mal eine Querfront-Strategie fahren könne.

          Der real existierende Neoliberalismus (so nenne ich das einfach mal) war ein Denkstil, der in den 30er Jahren v. a. im Gefolge der Weltwirtschaftskrise entstand und von Anfang an recht heterogen war. Es gab z. B. die deutschen Neoliberalen, die später als Ordoliberale bezeichnet wurden und maßgeblich die Soziale Marktwirtschaft begründeten. Es gab aber auch eine radikalere Strömung, die vor allem mit den Namen Friedrich Hayek und Milton Friedman verbunden ist. Die ganze Gruppe der Neoliberalen war vor allem durch einen gewissen (allerdings durchaus unterschiedlich ausgeprägten) Glauben an den Markt und durch die persönliche Bekanntschaft v. a. in der Mont Pèlerin Society (http://en.wikipedia.org/wiki/Mont_Pelerin_Society) verbunden. Übrigens gab es auch in dieser Gruppe durchaus gesellschaftspolitische Konzepte, auch wenn die nicht unbedingt im Vordergrund standen bzw. durch Vorstellungen vom Markt geprägt waren.

          Drittens gibt es nun den „Neoliberalismus“ in Anführungszeichen. Das ist das, was v. a. in neomarxistischen Kreisen als die neueste Inkarnation des Kapitalismus gilt; das, was ich in meinem Text als Gespenst beschrieben habe. Zuweilen ist das einfach nur ein Schlagwort; es gibt aber mittlerweile auch eine ganze sozialwissenschaftliche „Forschungs“richtung, die den „Neoliberalismus“ schlechterdings überall sucht und folglich auch findet: bei Facebook, in der Wikipedia, im Weight-Watchers-Programm (zu all diesen Dingen gibt es Aufsätze). Wir leben in der neoliberalen Ära, und alles, was uns so umgibt, ist deshalb irgendwie schlimm. Bei diesem „Neoliberalismus“ ist in der Tat nicht mehr klar, was das denn nun sein soll (und darauf habe ich meinem Text angespielt): eine Ideologie? Eine Ära? Eine Verschwörung?

          Ich finde es schwierig zu erklären, wie eine solche Denkrichtung entstehen konnte. Einer meiner Erklärungsversuche ist also nun, den Aufstieg des „Neoliberalismus“ als Deutungsmodell für die gesamte Gegenwart aus der alten Feindschaft der Linken zum Liberalismus herzuleiten. Und ich finde es hochproblematisch, dass manche Linke diesen „Neoliberalismus“ für so mächtig halten, dass sie meinen, sich gegen ihn mit den Rechten verbünden zu müssen.

          • Hallo Herr Brandes,

            anders als im Artikel, trennen Sie jetzt Liberalismus und Neoliberalismus ordentlich auf. Was bei mir durcheinander gegangen sein soll, weiß ich zwar nicht, aber zumindest gehe ich davon aus, dass Ihr bei den Linken vermutetes Missverständnis, „dass die ärgsten Feinde der Linken nicht Rechte, sondern Liberale wären“ ad acta gelegt werden kann. Im Gegenteil sind die Linksliberalen sogar die mit Abstand größte Gruppe unter den Linken. Wogegen sich Linke also wenden ist nicht der Liberalismus, sondern die neoliberal geprägte Wirtschaftspolitik oder die neoliberale Wirtschaftsideologie.

            „Drittens gibt es nun den „Neoliberalismus“ in Anführungszeichen.“

            Den kenne ich zwar nicht, aber halten Sie nicht für möglich, dass damit schlicht und ergreifend jene Ideologie gemeint ist, die Sie in Ihrem Kommentar auch selbst mit „Glauben an den Markt“ beschrieben haben? Fände ich zumindest naheliegender als zu versuchen, aus den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts hier etwas herzuleiten.

            „Bei diesem „Neoliberalismus“ ist in der Tat nicht mehr klar, was das denn nun sein soll (und darauf habe ich meinem Text angespielt): eine Ideologie? Eine Ära? Eine Verschwörung?“

            Mir scheint, den meisten Linken und vielen anderen darüber hinaus ist sehr wohl klar, was Neoliberalismus ist, nämlich, wie bereits erwähnt, eine Wirtschaftsideologie.

            „Und ich finde es hochproblematisch, dass manche Linke diesen „Neoliberalismus“ für so mächtig halten“

            Entsprechend wird der Neoliberalismus als Ideologie von Linken in aller Regel auch nicht als „mächtig“ oder schwach empfunden, sondern als abzulehnend.

            Mein Vorschlag: Lassen Sie den Begriff Liberalismus einfach beiseite, wenn Sie den Neoliberalismus meinen und versuchen Sie nicht Linken wegen der Ablehnung dieser Wirtschaftsideologie ein Bündnis mit Rechten zu unterstellen. Dann ist es auch möglich, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum Linke den Neoliberalismus, also den blinden Glauben an die heilende Kräfte des Marktes, ablehnen.

            Beitrag von mir auf Publixphere: Schuld ist die neoliberale Marktgläubigkeit

            Eine Definition von „liberal“ in meinem Blog

            www.mister-ede.de - Die wirtschaftsliberale Marktgläubigkeit wurde abgewählt

            • Sören Brandes Unsere Zeit
              +1

              Bei Ihnen (wenn es denn das Sie sein soll) geht nach wie vor durcheinander, dass Sie den Liberalismus nur als gesellschaftspolitisches Projekt verstehen und den Neoliberalismus nur als wirtschaftspolitisches. Beides trifft nicht zu – es gibt einen ökonomischen Liberalismus, der zur liberalen Tradition dazugehört, genauso wie es im Neoliberalismus gesellschaftspolitische Konzepte gibt. Man lese nur mal Milton Friedmans „Capitalism and Freedom“.

              Wo Sie recht haben: Ein großer Teil der Linken muss sich von meiner Polemik nicht oder nur peripher angesprochen fühlen. Es gibt ja in der Tat eine breite linksliberale Strömung, die man in Deutschland zum Beispiel in der SPD und bei den Grünen findet. Soweit diese Strömung (zu der ich mich selbst zähle, vgl. meinen Artikel hier) sachliche Einwände gegen den real existierenden Neoliberalismus vorbringt, ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden.

              Es gibt aber auch eine (noch etwas diffuse) radikalere linke Strömung, wie sie etwa in Teilen der Linkspartei oder auch in der linksradikalen Berliner Szene anzutreffen ist. Und hier gibt es eben durchaus die von mir angesprochene Tendenz.

              Es gibt das, was ich Neoliberalismus in Anführungszeichen nenne, in mehreren Varianten.

              • Die erste ist eine sozialwissenschaftliche Richtung, von der sich ein Teil den sog. governmentality studies zugehörig fühlt. Diese gehen – angeblich im Anschluss an Michel Foucaults Gouvernementalitätsvorlesungen, de facto aber eher an seine radikale Modernekritik in Überwachen und Strafen anknüpfend – davon aus, dass die Gegenwart durch eine alles penetrierende Macht verdorben ist, die sie den Neoliberalismus nennen. In dieser Sichtweise ist der Neoliberalismus eben nicht mehr nur eine Ideologie, sondern eine Macht, die sich in das Verhalten der Menschen einlagert. Der neoliberale Kapitalismus mache den Menschen zum „Unternehmer seiner Selbst“, der sich in jedem Augenblick den Vorgaben des Systems anpassen müsse und es damit aufrechterhalte. Die Macht hat sich in das Verhalten der Menschen selbst eingelagert.

              • Eine andere Variante ist das, was Sie in prototypischer Weise in Ihrem Artikel Schuld ist die neoliberale Marktgläubigkeit vertreten. Dort erscheint der Neoliberalismus in der Tat als Ideologie, aber als eine, die „die Politiker“ und Eliten alle erfasst und ihr Handeln bestimmt. „Wir hier unten“ sind demnach rational und vernünftig und wissen, dass Neoliberalismus Kokolores ist, aber „die da oben“ sind gesteuert von einer „Marktgläubigkeit“ und „fehlende[m] ökonomische[m] Sachverstand“. Man müsste doch nur endlich begreifen, wie schädlich diese neoliberale Ideologie ist, und aufhören, an „die Märkte“ zu „glauben“. Warum ist diese Herangehensweise problematisch? 1. Weil sie absolut simplifizierend ist. „[D]as europäische Spitzenpersonal“ hat sehr viel mehr Gründe, so zu handeln, wie es handelt, als nur seine angebliche Marktgläubligkeit: zum Beispiel die Globalisierung oder, nunja, die überbordenden Schulden. Die Wirklichkeit ist viel zu komplex, als dass man politisches Handeln einfach so auf die Dummheit der Politiker oder ihre ideologische Verblendung zurückführen könnte. 2. Weil sie der neoliberalen Ideologie eine unerklärliche Macht unterstellt, Politiker und Eliten zu beeinflussen. Man glaubt dann, dass „die Globalisierung“ oder auch „die EU“ neoliberal seien, und spätestens hier ist der Weg dann nicht mehr weit, eine Befreiung von diesen supranationalen, neoliberalen Geißeln zu fordern. Und genau dagegen wendet sich mein Artikel.

              • Hallo Herr Brandes,

                das will ich so eigentlich nicht ausdrücken. Ich wollte auf den Unterschied zwischen Liberalismus und Neoliberalismus hinweisen, nicht mehr. Zur Bedeutung der gesellschaftspolitischen Konzepte des Neoliberalismus haben Sie ja auch zutreffend geschrieben, dass diese nicht im Vordergrund stehen. Daneben sehe ich die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft, weshalb für mich selbstverständlich der Liberalismus auch diesen Bereich umfasst, aber auch hier steht das eben nicht im Vordergrund. Im Vordergrund steht beim Liberalismus damit die Gesellschaft und beim Neoliberalismus die Wirtschaftsideologie. Und lediglich diesen Unterschied habe ich beschrieben.

                Zum Artikel:
                Da interpretieren Sie mich aber grob falsch.

                „Dort erscheint der Neoliberalismus in der Tat als Ideologie, aber als eine, die „die Politiker“ und Eliten alle erfasst und ihr Handeln bestimmt.“

                Die Marktgläubigkeit besteht in weiten Teilen der Bevölkerung. Im Artikel geht es also nicht um Elite oder „oben“ und „unten“, sondern um die neoliberale Wirtschaftsideologie.

                „Man müsste doch nur endlich begreifen, wie schädlich diese neoliberale Ideologie ist, und aufhören, an „die Märkte“ zu „glauben“.“

                Richtig, aber eben nicht nur die Eliten, sondern insgesamt sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass der Markt nicht alles am besten regelt. (Bsp. Daseinsvorsorge)

                „Das europäische Spitzenpersonal“ hat sehr viel mehr Gründe, so zu handeln, wie es handelt, als nur seine angebliche Marktgläubligkeit: zum Beispiel die Globalisierung oder, nunja, die überbordenden Schulden.“

                Die Globalisierung hat zu einem globalen Markt geführt. Gerade deshalb ist es so problematisch, dass dieser große Markt aufgrund der neoliberalen Marktgläubigkeit so unreguliert ist. Nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern die aufgrund der neoliberalen Ideologie z.B. fehlenden Schranken im Wettbewerb der Staaten untereinander. Ebenso sind nicht primär die Schulden das Problem, sondern eine von neoliberalem Fehl- und Deregulierungswahn gestaltete Wirtschaftsstruktur.

                „Weil sie der neoliberalen Ideologie eine unerklärliche Macht unterstellt, Politiker und Eliten zu beeinflussen.“

                Wie bereits gesagt, der Neoliberalismus ist keine Macht, sondern eine Ideologie, so wie Rassismus keine Macht, sondern eine Ideologie ist, die in den Köpfen mancher Leute sitzt

                „Man glaubt dann, dass „die Globalisierung“ oder auch „die EU“, neoliberal seien“

                Weder die Globalisierung noch die EU als Staatengebilde sind neoliberal. Neoliberal ist aber z.B. die Fokussierung der EU auf einen einheitlichen Binnenmarkt, Steuerwettbewerb und ähnliches.

                „und spätestens hier ist der Weg dann nicht mehr weit, eine Befreiung von diesen supranationalen, neoliberalen Geißeln zu fordern.“

                Dem ungehemmten Wirtschaften, wie es der Neoliberalismus für richtig hält, muss mit globalen, europäischen oder nationalen Regeln begegnet werden, je nachdem, ob es sich um ein Problem auf globaler (Klima), europäischer (Mindeststeursätze) oder nationaler Ebene (Niedrigerer Steuer auf Kapitalerträge als auf Lohneinkommen) handelt.

                „Und wer dann noch einen Schritt weitergeht, will zum Nationalstaat zurück.“

                Genau das Gegenteil ist der Fall, weil man mit nationalen Lösungen globalen Problemen kaum begegnen kann. Das hat aber nichts mit Neoliberalismus oder der Ablehnung dieser Wirtschaftsideologie zu tun, sondern schlicht mit den globalen Herausforderungen, die durch die Globalisierung nicht weniger wurden.

                Z.B.: www.mister-ede.de - StandPUNKT: Die Euro-Krise kann nicht nationalstaatlich gelöst werden

              • Hallo Herr Brandes,

                „Und genau dagegen wendet sich mein Artikel.“

                Und ich wende mich als jemand, der die neoliberale Wirtschaftsideologie ablehnt, nicht jedoch globale Märkte oder gar den Liberalismus, dagegen, dass die Kritik am Neoliberalismus wie im Artikel verdreht wird:

                „Diese Aussagen, denen man noch einige hinzufügen könnte, haben ihren gemeinsamen Ursprung in einem Missverständnis: dass die ärgsten Feinde der Linken nicht Rechte, sondern Liberale wären.“

                Wie gesagt, jetzt unterscheiden Sie ja auch zwischen „liberal“ und „neoliberal“ und das begrüße ich, ebenso finde ich gut, dass Sie den letzten Satz in ihrem Kommentar hier überarbeitet haben, weil ich es absurd finde, die Kritik am oder die Ablehnung des Neoliberalismus irgendwie mit nationalistischen Tendenzen zusammenzubringen.

                Allerdings haben Sie durchaus recht, dass die Ablehnung des Neoliberalismus, ähnlich wie bei der Ablehnung des Kapitalismus an und für sich, nicht einzig und alleine bei Linken präsent ist, sondern auch immer wieder bei rechten oder konservativen Gruppen, zum Beispiel aktuell in einem gewissen Maße bei der AfD.

  • Hallo Sören Brandes, ich finde viele Einschätzungen sehr erhellend und hab da nichts hinzuzufügen.

    Der Ukraine-Konflikt ist echt eine Herausforderung für die Linke, die sie eigentlich nur mit scharfer Doppelkritik lösen kann. Sie müsste sowohl den Westen / die Nato kritisieren (Gründe gibts genug) als auch Russlands antidemokratische, nationalitistische Entwicklung. Macht sie nur ersteres wird sie unglaubwürdig und gerät schnell in ein merkwürdig neurechtes Lager.

    Eine linke, wahrhaft europäische Politik ist erst Recht nicht in Aussicht. Hierzu müssten sich Linke über die Ländergrenzen hinweg derselben Interessen bewusst werden und die nationale Karte eben stecken lassen. Schwierig. Auch die SPD hat mit der Idee "Solidarität mit Südeuropa" im Wahlkampf rein gar nichts erreichen können.

    • ich wäre da auch nicht so pessimistisch...ja, die linke sollte nicht mit der rechten liebäugeln. ja, die linke verliert oft den fokus, wiegt sich in tagträumereien und selbstkritik, ist in sich ohnehin so gespalten wie kaum ernst zu nehmen. nein, ich finde das argument neoliberalismus kein unwichtiges! und ich verstehe nicht recht Sören Brandes Unsere Zeit wieso du dich so sehr an dieser begrifflichkeit aufhängst, noch weniger, wie du dich überhaupt als linker bezeichnen kannst, da du die grundlage der ökonomie als bestimmenden faktor für gesellschaften abstreitest - in welcher tradition linker denker empfindest du dich? in der tradition der marxistischen denkschule steht die form der wirtschaftsordnung immer im mittelpunkt von politik und mithin gesellschaftsbild - die kritik an einer neoliberalen ideologie, die durchaus das denken der führungseliten der westlichen welt prägt ist so nur folgerichtig. mitbestimmung, demokratie und emanzipation jedenfalls liegen weit entfernt von diesem diktum, da sind wir uns wohl einig?!

      • Sören Brandes Unsere Zeit
        +1

        In welcher linken Tradition sehe ich mich? Das ist einfach: in der nichtmarxistischen. So wie die SPD seit Godesberg, der Großteil der Grünen seit deren Gründung, usw. Man mag das auch, ziemlich ungenau, "linksliberal" nennen. Wenn nur Marxisten dazugehören würden, würde es auf der Linken ziemlich einsam werden...

        "mitbestimmung, demokratie und emanzipation jedenfalls liegen weit entfernt von diesem diktum, da sind wir uns wohl einig?!" - Meinst du mit "Diktum" die neoliberale Ideologie? Dann würde ich dir nur sehr bedingt zustimmen. Wer sich neoliberale Schriften - etwa die von Friedman oder Hayek - tatsächlich ansieht, der merkt, dass es diesen Leuten auf ihre Weise wirklich um Mitbestimmung, Demokratie und Emanzipation geht. Zum Beispiel um das demokratische Potential der individuellen Konsumwahl oder die Emanzipation von zentralistischen Eliten. Man muss bei neoliberalen Argumentationen ja nicht mitgehen - ich tue es z. B. in den meisten Fällen nicht -, aber man sollte auch nicht glauben, dass Neoliberale - gerade die angesprochenen Theoretiker - böse oder dumm sind. Man muss sich schon ernsthafter mit dem Neoliberalismus auseinandersetzen, wenn man ihm tatsächlich entgegentreten will.

        Dagegen sind rassistische und nationalistische Argumentationen oft genau das: böse und dumm. Vor kurzem durfte ich auf Facebook mal wieder mit einem echten Rassisten diskutieren (Anhänger der British National Party). Diese Leute haben tatsächlich eine absolut böse Ideologie, die die Grundfesten unserer Gesellschaft erschüttern wird, falls sie sich jemals durchsetzt. Mit diesen Leuten - und das gilt für den gesamten europäischen Rechtspopulismus - darf es keine Zusammenarbeit geben, erst recht nicht heute, wo es tatsächlich historisch um eine Entscheidung geht zwischen dem alten Nationalismus mit all seinen Schattenseiten - Ausländerfeindlichkeit, Verweigerung von Asyl, usw. - und einer globalisierten Welt, in der Grenzen immer durchsichtiger werden. Beispiel Arnaud Montebourg: Der Neoliberalismus, was auch immer man ihm vorwerfen mag, ist nicht so schlimm, dass man so reden müsste oder auch nur dürfte, dass einem Marine Le Pen anschließend anerkennend zustimmt. Darum geht es.

        • nemo ist dagegen
          +3

          AN EINEN ECHTEN VOLLBLUTLINKEN

          Hallo Sören, Dein Essay ist eigentlich zu lang, um bei meiner eingeschränkten Zeit für’s Bloggen ausführlich und angemessen zu antworten und Deiner Argumentation gerecht zu werden. Deshalb hier nur kurz einige Anmerkungen:

          Wenn ich Dich nach dreimaligem Lesen richtig verstanden habe, ergibt sich für Dich folgende Diagnose: Die Linke, lassen wir das mal so pauschal stehen, instrumentalisiert unreflektiert für ihren Kampf gegen das Gespenst oder den Scheinriesen Neoliberalismus die kryptofaschistische Rechte und ihre Position. Sozusagen der Hitler-Stalin-Pakt 2.0. Das erinnert mich fatal an die Argumentation der großbürgerlichen Eliten und die politischen Parteien des Zentrums in der Weimarer Republik, die Links und Rechts angeekelt „in einen Topf warfen“ und dann vergebens versuchten den Deckel zuzuhalten. Das Ergebnis ist ja bekannt.

          Sarah Wagenknecht Arm in Arm mit Marine Le Pen und Wolfgang Streeck bei einem Glas Lager in einem Londoner Pub mit Nigel Farage? Das finde ich eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung. Der Linke Streeck , immerhin Direktor an einem Max-Plank-Institut (= Spitzenforschung, oder?) gibt in seinem jüngsten Buch Buying Time, Gekaufte Zeit auf den letzten Seiten einen zugegeben pessimistischen Ausblick auf die Zukunft des demokratischen Kapitalismus wie wir ihm bisher kannten und bringt dabei auch die Rechts- und Verfassungssysteme der noch bestehenden Nationalstaaten, insbesondere in der EU ins Gespräch. Er mutiert damit für Dich zum Nationalisten, zum Grenzenzieher und Ausgrenzer.

          Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es geht bei diesem Grenzenziehen nicht darum Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen, andere Ethnien oder Arbeitsimmigranten draußen (!) zu halten, sondern darum innerhalb (!) des (noch) bestehenden nationalstaatlichen rechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmens eines demokratisch organisierten und durch freie Wahlen legitimierten Staates die Möglichkeit für gestaltende Politik ( Bei Streeck vor allem: Sozial-, Gesellschaft- und Wirtschaftspolitik) zumindest offen zu halten.

          Die Politik schafft sich selbst ab

          Die weitere Entgrenzung, von Dir als Globalisierung und Europäisierung hochgelobt, allerdings ohne diese - vordergründig unbestritten positive besetzten - Begriffe wissenschaftlich zu definieren oder zu hinterfragen, wird mit TTIP und CETA und dem darin enthaltenen Investorenschutz trotz vermeintlicher Reformen in diesem Bereich ein weiteres Stück Rechtsstaatlichkeit auslöschen und gestaltende, vorausschauende und noch wichtiger auch korrigierende Politik ( Atomausstieg, Energiewende) fast unmöglich machen. Siehe Vattenfall vs. Bundesrepublik Deutschland, Streitwert fast 5 Milliarden EURO. Ich habe versucht an anderer Stelle auf publixphere Wie die Politik sich selbst abschafft etwas zu dieser Diskussion beizutragen.

          Du beklagst zudem: „Die Neigung, den „Neoliberalismus“ zu überhöhen, entspringt letztlich dem schon von Marx formulierten Glauben, dass die Ökonomie die „Basis“, der alles beherrschende Kern von Gesellschaft und Politik sei. Die „Ökonomisierung“ der Gesellschaft, die viele Linke für das angebliche Zeitalter des Neoliberalismus konstatieren, das in den 80er Jahren angebrochen sei, hat insofern weniger mit tatsächlich beobachtbaren Entwicklungen zu tun als mit ihren eigenen theoretischen Vorannahmen … „

          CHAPEAU! Ein formidabler Rundumschlag! Zum einen machst Du hier etwas unvermittelt das Fass mit dem Dialektischen Materialismus und dem von Marx „vom Kopf auf die Füße“ gestellten Hegel auf. Es spricht zwar einiges für die Marx’sche These, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber ausdiskutieren können wir das hier leider nicht. Zum anderen wird in dem Zitat mit dem Beklagen der Ökonomisierung auch wieder eine typisch deutsche großbürgerliche Haltung der Vernachlässigung und Geringschätzung, ja Verachtung von Politik und Ökonomie gegenüber der höherwertigen Kultur deutlich. Eine Tradition, die vom wilhelminischen Deutschland bis ins Jahr 1933 reicht und die Wolf Lepenies in seinem Buch The Seduction of Culture in German History , Kultur und Politik: Deutsche Geschichten so glänzend analysiert hat.

          Im Übrigen ist der Neoliberalismus, die Vorstellung von Markteffiziens und Selbstregulierung als derzeitige Erscheinungsform des Kapitalismus kein Gespenst, wie Du in Anspielung auf das Kommunistische Manifest paraphrasierend feststellst, sondern die brutale Realität für Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Dass er kein reales Machtzentrum hat, über keine ausformulierte Ideologie verfügt, sich selbst informell organisiert macht ihn nicht weniger wirkungsmächtig. Und zwar mit oder ohne „Anführungsstrichen“.

          (Neo)Liberalismus und Freihandel

          Auch Deine Trennung von Liberalismus und Neoliberalismus halte ich für wissenschaftlich nicht haltbar. Du beklagst ja selbst die „seltsamen Rechtsneigung von ‚Liberalen‘ wie eben Hayek, Friedman oder auch Westerwelle“. Es sind in den letzten drei Jahren einige Studien zur Ideengeschichte von Liberalismus und Neoliberalismus erschienen, die einen durchaus anderen Schluss zulassen. Eine Literaturliste reiche ich auf Wunsch gern nach.

          Es führt eine direkte Linie von Adam Smiths Invisible Hand, über David Ricardo zu Ludwig von Mieses, Friedrich von Hayek und Milton Friedman. Die drei letzteren bekennende Nicht-Demokraten und politisch damit für heutige Verhältnisse ausgesprochene Rechtsausleger. Nicht-Demokrat meint hier natürlich nicht Gewaltherrschaft durch eine autokratische Clique oder einen Alleinherrscher, sondern die Verhinderung jeden Einflusses der demokratisch legitimierten Politik auf das ungestörte Funktionieren der Märkte. Und Markt ist für Neoliberale idealerweise alles von der Geburt in einer Privatklinik, über die selbstfinanzierte Ausbildung an Schule und Hochschule, die private Kranken- und Altersvorsorge bis zum Tod im privat finanzierten Seniorenheim. Restlos alles hat für den Neoliberalismus Warencharakter, unterliegt den Gesetzen des Marktes und bietet die Chance zu Investitionen und Profiten. Auch alles was bisher zumindest in Europa unter den Begriff der staatlichen Daseinsfürsorge fiel. Übrigens gehört auch sie bei den TTIP-Verhandlungen zur Verhandlungsmasse.

          Wo der kulturelle Liberalismus, den Du vom wirtschaftlichen Liberalismus trennst, indes in den politischen Raum trat, hat er in der Geschichte stets die Interessen des weitgehend unreglementierten Marktes vertreten, ob nun national- oder freidemokratisch garniert. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch die historische Verbindung zwischen dem Liberalismus und Anhängern des Freihandels (besonders typisch in England und den USA) als einer frühen Form der Globalisierung. Weißt Du wie viele entsetzliche Kriege seit der frühen Neuzeit unter dem Mantel des Freihandels (sprich ungehinderten Marktzugangs) geführt wurden? Völkermord inbegriffen. Soviel zum Liberalismus und seinen historischen Meriten.

          Ich gebe ja zu, zu Zeiten von Adam Smith und David Ricardo machte der Liberalismus, damals verstanden als Kampf der Bürger gegen den ungehinderten Zugriff des Staates (in Form des autokratischen Souveräns) auf die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Existenz (Markt, Handel, Produktion) durchaus Sinn. Nun ist aber inzwischen in der demokratischen Welt das Volk der Souverän. Warum sollten diese Bürger mit dem Neoliberalismus heute den großen Konzernen, den Banken und den, in einer riesigen Schattenwirtschaft agierenden, großen Investmentfonds den ungehinderten und unregulierten Zugriff auf seine materiellen, wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen erlauben?

          Der Markt als Wahrheitsmaschine

          Dass der Neoliberalismus heute so effektiv unsere Märkte, unsere Gesellschaft und damit unser Leben beherrschen kann, liegt auch an den völlig neuen Machtmechanismen über die er verfügt. Hier hast Du mit Michel Foucault (kein Marxist und eigentlich auch kein Linker!) gleich einen der wichtigsten Denker der letzten Jahrzehnte entsorgt, als „Antimodernisten“ diffamiert und in Deine Verschwörungskiste des „Neoliberalismus in Anführungsstrichen“ gepackt. Wäre das so würden einige Regalmeter auch in der Bibliothek Deiner Alma Mater frei, weil die entsprechende auf Foucault aufbauende Forschungsliteratur in den Müll-Container wandern könnte. Neben Foucault wären Namen wie Negri, Hardt, Marazzi, Agamben, Juvin, Zizek, Deleuze etc. unter diesen „Verschwörunsgtheoretikern“. Auch hier reiche ich eine komplette Liste gern nach.

          Foucault hat sein ganzes wissenschaftliches Leben, eigentlich schon seit The History of Sexuality, Sexualität und Wahrheit dem Machtdiskurs gewidmet. Dies erklärt auch sein späteres Interesse an Thema Gouvernementalität, sprich einer Wissenschaft des Herrschens und der Macht- und Zwangsausübung als Regierungsform seit Machiavelli. Diesem Thema hat er - vor seinem viel zu frühen Tod - auch die letzten Vorlesungen am College de France gewidmet. Biopolitik ist der Begriff, den er dabei zum ersten Mal in die Diskussion eingeführt hat. Biopolitik meint die Herrschaft über jeden einzelnen Menschen und im Rahmen des Neoliberalismus des kleinste Einheit jenes allumfassenden Marktes, der in der Theorie immer effizient ist weil er in Echtzeit für jedes Produkt, jede Dienstleistung, jede Arbeit den richtigen Preis anzeigt. Der ultimative und unfehlbare Prozessor von Informationen aller Art, mithin eigentlich eine Wahrheitsmaschine.

          Neue Machttechniken

          Entscheidend geholfen hat dabei die Entwicklung des Internets. Gadgets aller Art erleichtern diese Kontrolle und Steuerung. Siehe dazu von mir Nützliche Gadgets oder (Selbst)Kontrolle 24/7 Noch einen Schritt weiter geht der bei Dir in Berlin lehrende Philosophieprofessor Byung-Chul Han u.a. in seinen Buch Psychopolitik-Neoliberalismus und neue Machtechniken oder seinem Essay Die Müdigkeitsgesellschaft. Alles harte wissenschaftliche Denkarbeit. Nix mit Gespenstern und Verschwörungstheorien!

          PS. Byung-Chul Han lehrt übrigens an der Universität der Künste Berlin. Die ist 3 Stationen mit der S75 ab Bahnhof Friedrichstraße und dann fünf Minuten zu Fuß vom Campus der Humboldt Universität entfernt. Schafft man leicht in 40 Minuten. Umweltfreundlich mit dem Rad geht’s noch schneller. Durch den Tiergarten bei frischer Luft, da bekommt man den Kopf auch frei. Empfehle Dir mal einen Hörsaalwechsel , um neue Perspektiven zu bekommen. Bei uns „Grummelopas“ (siehe mein Profil) war das übrigens absolut üblich! Ich meine das mit den neuen Perspektiven und dem Hörsaalwechsel.

          Geschrieben und hochgeladen zur Geisterstunde am 16.12.2014.

          • Danke für diese anders als angekuendigt nicht kurze Replik! Werde mir noch mal meinen Foucault zu Hand nehmen, bin schon lange aus der Universitaet raus!

        • Hallo Herr Brandes,

          irgendwie kann ich mich mit Ihrem Satz, „Beispiel Arnaud Montebourg: Der Neoliberalismus, was auch immer man ihm vorwerfen mag, ist nicht so schlimm, dass man so reden müsste oder auch nur dürfte, dass einem Marine Le Pen anschließend anerkennend zustimmt“, nicht so recht anfreunden.

          Man kann doch nicht von den Rechten abhängig machen, was man nun kritisiert und was nicht. Was hätte eine solche Tabuisierung oder Selbstzensur denn überhaupt noch mit Liberalität zu tun? Daneben wirkt es ein wenig so, als sei das einzige Gute am Neoliberalismus die Tatsache, dass er nicht so schlimm ist wie Rechtsradikalismus. Wenn sich aber das Positive wirklich darauf beschränkt, dann sollte diese Ideologie schleunigst der Vergangenheit angehören.

          • Sören Brandes Unsere Zeit
            +1

            Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Man mag "dem Neoliberalismus" beispielsweise als positive Leistung zuschreiben, dass er mit dazu beigetragen hat, dass sich Handel und Wirtschaft internationalisiert haben. Der Abbau von Subventionen zum Beispiel, den Neoliberale immer gefordert haben, hat einen egalisierenden Effekt, wenn es um internationales Wirtschaften geht. Die EU-Agrar-Subventionen sind alles andere als neoliberal, und zeitigen negative Effekte etwa für den afrikanischen Agrarsektor. Man kann viele ähnliche Beispiele nennen. Der Neoliberalismus ist gegen nationalen Protektionismus in jeder Form, etwa auch gegen Zölle. Das kann zwar Probleme hervorbringen, wie wir gerade wieder bei TTIP sehen - u. U. werden auf nationaler Ebene bereits erreichte Verbraucherschutz-Standards und ähnliches unterlaufen -, aber insgesamt geht es doch in die richtige Richtung - jedenfalls, wenn man sich das ganze als Internationalist und Antinationalist ansieht. Und internationalistisch sollte die Linke meiner Meinung nach schon sein. Aber gerade hier tun sich Bündnismöglichkeiten zwischen linkem "Antineoliberalismus" und rechtem Nationalismus auf, und da wird es dann problematisch. Schon deshalb sollte man den Neoliberalismus nicht als Gottseibeiuns betrachten, als dämonische Ideologie, sondern nüchtern seine historische und aktuelle Rolle abwägen.

            • Die Ablehnung der neoliberalen Ideologie bezieht sich stets auf alle Ebenen (National, Europäisch, Global) und zielt gegen die Marktgläubigkeit des Neoliberalismus. Entsprechend widerspricht es sich überhaupt nicht, für einen fairen globalen Handel, aber gegen die neoliberale Ideologie einzutreten.

              Umgekehrt wird aber ein Schuh daraus, denn Neoliberalismus ist derselbe nach dem eigenen Vorteil suchende Egoismus, der sich auch schon hinter dem Nationalismus versteckt. Das eigene Interesse wird zur Maxime des Handelns wie im Nationalismus das Interesse der Nation. Genau deshalb sind Nationalismus wie Neoliberalismus als Ideologie abzulehnen.

    • Sören Brandes Unsere Zeit
      +1

      Ja, eine europäische Linke steckt in der Tat noch in den Kinderschuhen. Ich wäre da aber nicht ganz so pessimistisch. Gerade beim Eintreten für mehr Investitionen und weniger Austerität scheint sich ja momentan ein linkes europäisches Bündnis zu entwickeln. Und wie immer ist die Fraktion S&D im Europäischen Parlament da ohnehin schon viel weiter – nur die nationalen Parteien müssen noch folgen, und das scheint gerade zu passieren. Das wird dann der SPD in Deutschland vielleicht nicht ganz so viel einbringen, aber dafür auf europäischer Ebene und gerade in den südeuropäischen Ländern Glaubwürdigkeit wiederherstellen, die linksradikalen Varianten (Syriza) das Wasser abgraben könnte.