Vielleicht nimmt irgendjemand diese Überlegungen heute Abend mit in die Diskussion zum #pxp_thema Religion und Politik. Ich bin leider nicht in Berlin, kann also auch nicht teilnehmen. Anlass zu diesen Gedanken gab der Gastbeitrag von Jens Spahn (CDU MdB und Parteifreund von Cemile Giousouf, die ja heute Abend auf dem Podium sitzt) zur „Ehe für alle / Homo Ehe“ in der ZEIT am 27.06.2015.
Wir sollten uns bewusst sein, dass für viele Menschen ihr Glaube mehr ist, als ein reiner christlicher,islamischer oder jüdischer Wertekanon. Sowenig wie die Existenz Gottes beweisbar ist, sowenig sind bestimmte Glaubensinhalte, sind aus dem Buch Leviticus des alten Testaments abgeleitete Speise- und Verhaltensvorschriften, sind Spiritualität & Mystik (alles vordergründig völlig irrationale Annahmen und Regeln) in allen diesen drei Religionen für viele Gläubige verhandelbar! Damit ergibt sich ein fundamentaler Widerspruch zum gesellschaftlichen Anspruch dass Religion sich dem „kritischen Diskurs in einer aufgeklärten Gesellschaft“ (Spahn) stellen muss. Ein Dialog Religion und Gesellschaft wird sich immer in diesem Spannungsfeld bewegen. Ich möchte zudem zu bedenken geben, dass alle drei hier genannten Religionen sehr viel älter sind, als das gesellschaftliche, ökonomische und politische Modell in dem wir derzeit leben und von dem keiner weiß wie lange es in der Geschichte der Menschheit Bestand haben wird. Jede Religion, die sich ernst nimmt ist also verpflichtet zu gesellschaftlichen Veränderungen und eine kritische Distanz zu bewahren. Es sein denn, man glaubt jeder Schritt, den diese Gesellschaft macht, sei ein Fortschritt, eine Verbesserung und das Erreichen einer Entwicklungsstufe, die alle vorausgegangenen hinfällig werden lässt. Dann in der Tat hätte sich Religion hier einzureihen und mitzugehen. Nur dann ist Religion eben auch obsolet!
Alle, die diesem positivistischen Geschichtsbild ganz besonders in Deutschland folgen, sollten zudem aufpassen, dass sie bei der Durchsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Interessen hinter dem vordergründigen Motiv ihrer Islamkritik nicht in einen unsäglichen, plumpen Antisemitismus verfallen. Jens Spahn Beitrag in der ZEIT ist ein Musterbeispiel wie man sich da verirren kann. Nachdem er sich wortreich über den Antisemitismus der Muslime in Deutschland beschwert hat - und den gibt es in der Tat! – bekennt er, er könne „mit ultraorthodoxen Juden nichts anfangen“, die Frauen prinzipiell nicht die Hand gäben und riskiert die Gegenfrage: Was mache ich mit Menschen, mit denen ich nichts „anfangen“ kann? Im besten Fall ignorieren, ruft der Volksmund zurück, oder vielleicht doch gleich „entsorgen“. In Deutschland hatten wir das schon mal. Zudem leben in Deutschland keine „ultraorthodoxen“ Juden wie sie durch Jens Spahns Vorstellungswelt geistern. Es gibt aber sehr wohl eine wachsende Anzahl orthodoxer Jüdischer Gemeinde (z.B. Chabad Chadad Israel in Berlin), deren männliche Mitglieder prinzipiell keine fremde Frau berühren dürfen. Mit den Worten „fremd“ und „berühren“ wird dann auch klar was diese Verhaltensvorschrift meint. Also keinesfalls wie Spahn unterstellt eine Herabsetzung der Frau. In die gleiche Falle ist übrigens auch Alice Schwarzer im Rahmen der „Kopftuchdebatte“ geraten. Ich empfehle Jans Spahn einmal sich von einer orthodoxen Familie in Berlin oder Frankfurt für einen Tag einladen zu lassen, um das warme von gegenseitiger Achtung und Liebe geprägte Leben dieser etwas anderen Deutschen kennenzulernen statt sich dem Vorwurf des klammheimlichen Antisemitismus auszusetzen.
Daraus ergibt sich m.E. dass das Zusammenleben mit Religionen oder besser religiösen Menschen in einer offenen liberalen Gesellschaft heißt, auch Abweichung, Dissens und dem Mainstream völlig entgegengesetzte Meinungen, Verhaltens- und Lebensweisen zu akzeptieren. Oder im Extremfall sogar nur auszuhalten. Daran und nur daran misst sich der Grad an Freiheit und Liberalität in einer Gesellschaft!