Hallo Alexander,
Deine mit Leidenschaft vorgetragenen Weltveränderungsideen, bzw. -ideale, sind erfrischend und mitreißend.
Doch frage ich mich, ob die Ablehnung des Nationalstaats schon bis zum Ende durchdacht ist. Der Nationalstaat wird von Dir und vielen Anderen Deiner Generation mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, völkischem Denken, Sehnsucht nach Hierarchie und Untertanengeist gleichgesetzt. Aber das trifft doch auf Deutschland gar nicht zu. 20% aller Deutschen haben seit einer oder mehreren Generationen einen ausländischen Hintergrund und sind integriert. Es braucht für sie nicht die Abschaffung der deutschen Grenzen, damit sie wirklich ankommen.
Ich sehe in einem Plädoyer für die Abschaffung der Nationalstaaten eher Gefahren. Eine übergeordnete europäische Instanz (Legislative, Jurikative, Exekutive) ist so weit entfernt von den Partikularinteressen einzelner Bevölkerungsgruppen (Großstädte, mittelgroße Städte, Ballungsgebiete, Kleinstädte, ländliche Gebiete), dass sie schwerlich allen Interessen in gleicher Weise gerecht werden kann. Ich sehe die Gefahr der Loslösungstendenzen von der Zentralgewalt, die Gefahr, die Souveränität über kleine Gebietseinheiten zurückgewinnen zu wollen, die Gefahr der Bürgerkriege zu diesem Zweck (was Anderes sind denn die Kriege in der islamischen Welt zur Zeit?) und die Gefahr der Kleinstaaterei, die wir leidvoll in Deutschland bis ins 19. Jh. hatten. Wohin die Kleinstaaterei führt, kann man sich sehr schön an Kleists "Michael Kohlhaas" verdeutlichen.
Statt für die Aufhebung der nationalstaatlichen Grenzen in Europa (die Nationalstaaten haben ja alle auch ihren je eigenen Charme!), also statt für eine europäische Republik wäre ich eher für einen weiteren Ausbau des Staatenbundes. Die Staaten geben Kompetenzen ab an die EU, wo es die Ordnung und das Zusammenleben erleichtert, aber behalten wichtige Kompetenzen, mit denen sie der eigenen Bevölkerung kleinteilig gerecht zu werden versuchen können.
Zum Schluss - mein Beitrag wird etwas lang, aber andere Beiträge an dieser Stelle sind auch sehr lang! - ein Zitat von P.Sloterdijk aus einem Interview mit dem Cicero 2/2016, von dem ich gern wüßte, wie Du darüber denkst:
"Europa ist falsch formatiert. Man hat zusammengebracht, was nicht zusammen gehört. Europa geriet mit dem Euro in eine Zwangsgemeinschaft...Natürlich ist Europa als Raum der Freizügigkeit und des Austauschs kultureller Reichtümer eine wunderbare Sache. Europa ist das Juwel der Welt. Aber die Zwangsvergemeinschaftung durch den Euro hat sich als Überforderung erwiesen. Damit hat man Europa eine Form gegeben, in der die Mitglieder sich entfremden müssen. Offenkundig handelt es sich weniger um neuen Nationalismus als um lokale Notwehr...
Als lockerer Bund hat die EU mehr Zukunft, als wenn sie auf Verdichtung setzt. Dem Nationalstaat darf man ein langes Leben prophezeien, weil er das einzige politische Großgebilde ist, das bis zur Stunde halbwegs funnktioniert..."
Gruß! Doro