Wirklich nur dem Gewissen unterworfen, Herr Kauder?
Volker Kauder (CDU) führt die Fraktionen von CDU und CSU im Bundestag an. Foto: picture alliance / dpa
Wer nicht spurt, der fliegt? Volker Kauders Umgang mit Abweichlern in der Griechenland-Politik macht aktuell Furore. 'Juker' sieht die Politik als Ganzes beschädigt. Was denkt ihr?
Ein Beitrag von Juker
“Fraktionszwang vs. Gewissen” – Volker Kauder ist wahrlich nicht der erste Fraktionsvorsitzende, der sich immer wieder an diesem Dualismus entlanghangeln muss. Artikel 38 des Grundgesetz besagt zwar, dass Abgeordnete einzig ihrem Gewissen unterworfen sind. Gleichzeitig hat sich die Institution “Fraktion” in der nachkriegsdeutschen Parlamentsgeschichte bewährt. Sie aggregiert Interessen und gibt dem Wähler Orientierung bei der Beurteilung von Regierungs- und Oppositionsparteien und deren führenden Köpfen. So hat sich für die Volksvertreter der sogenannte Fraktionszwang entwickelt, nach dem der Einzelne gefälligst entsprechend der offziellen Regierungs- oder Oppositionslinie zu stimmen hat.
Lediglich bei Grundsatzfragen, die ethischen Charakter haben (u.a. Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik) , ist dieser Zwang offiziell aufgehoben.
Nun hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, den sogenannten Abweichlern, die gegen ein mögliches drittes Hilfspaket für Griechenland stimmen werden, den einen oder anderen Karriereknick in Aussicht gestellt: Die Betreffenden sollen nicht mehr in wichtigen, mit der Europolitik verbundenen Ausschüssen zum Einsatz kommen.
Hat der Einzelne keine Chance
Für mich stellt dies einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Abgeordneten und damit auf das Grundgesetz dar. Abgesehen davon, dass eine solche Drohung eher das Gegenteil bewirkt und die Reihen der Abweichler geschlossener werden und sich einige Fraktionsmitglieder zusätzlich mit ihnen solidarisieren dürften. Es ist zwar Kauders Job, seinen Laden zusammenzuhalten. Jeder Abweichler ist eine persönliche Niederlage für ihn. Normalerweise wird die Überzeugungsarbeit jedoch hinter verschlossenen Türen betrieben. Der Gang in die Öffentlichkeit, über ein von ihm oder zumindest einem/r Mitarbeiter__in gegengelesenes Zeitungsinterview lässt Kauder wie einen nervösen Außendienstler dastehen, der zeitnah seiner Chefin die schlechten Zahlen erklären muss. Zusätzlich bleibt ein Schaden für die Politik als ganzes. Wieder einmal verfestigt sich der Eindruck, Gewissen und Haltung (gem. Artikel 38 des GG) hätten keine Chance gegen parteipolitische Taktiererei und die Machtinteressen Einzelner.
Sicherlich sind unter den rund 60 Abgeordneten auch einige, die aus niederen Motiven handeln und diese Möglichkeit nutzen, ihr verletztes Ego etwas zu verarzten, indem sie Mutti endlich einmal eins auswischen. Dennoch kann man der Argumentation, Griechenland sei außerhalb der Eurozone besser aufgehoben, ökonomisch wie politisch folgen. Diese Haltung ist weder undemokratisch noch wiederspricht sie dem, was nicht zuletzt Merkel und ihr Finanzminister selbst in der Vergangenheit vertraten.
brussell
Hallo Juker,
Stimme deiner Analyse größtenteils zu, besonders dass Kauder mit dem Gang an die Öffentlichkeit sich keinen Gefallen getan hat.
"Angriff auf das Grundgesetz" halte ich aber für übertriebene Rhetorik. Der hier beleuchtete Vorgang, nach wichtigen Abstimmungen Abweichler zu bestrafen (e.g. durch Entzug von Ausschussvorsitz oder, viel schwerwiegender, zukünftigen Listenplätzen), ist relativ normal in unserer Parteiendemokratie. Das Grundgesetz wird's überleben. Dem öffentlichen Ansehen der Politischen Eliten schadet es jedoch. Da hast du recht.
Kleiner Nebenkriegsschauplatz:
Diese Praxis im Bundestag spiegelt für mich ein völlig perverse Vorstellung von Ethik wieder, die ich sowohl in den Medien als auch im Bekanntenkreis häufig antreffe. Eine winzige Auswahl an Themen (eben Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung und Ähnliches) wird als "ethisch" deklariert und für die sollen andere Normen des politischen Entscheidungsprozesses gelten? Diese vorherrschende, von dir korrekt beschriebene, Sonderkategorie an Grundsatzfragen mit "ethischem Charakter" kann ich mir nur als Altlast einer stärker religiös dominierten Öffentlichkeit erklären. Sie sollte, wie viele Altlasten, beseitigt werden. Denn sie hält vom Fortschritt ab: Umweltpolitik, Einwanderungspolitik, Wirtschaftspolitik, jede Form von Politik, so sie denn das Wohlergehen von leidensfähigen Lebewesen beinflusst, ist ethisch relevant.