"Ich habe keine Beziehung zur EU"
"Deutsche sehen vieles durch eine rosarote Brille." Foto: LM
Viele Polen sind unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Lage, meint die Altenpflegerin Barbara Mikulska. So erklärt sie sich den Wahlsieg der national-konservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) im vergangenen Herbst.
Ein Interview von Lisa Masthoff (Policy Lab) (English version)
Zur Person
Barbara Mikulska (55 Jahre) ist gelernte Bürokaufrau aus Nowa Jabłona. In Polen fand sie keine Arbeit, also zog sie nach Deutschland. Seit einem Jahr arbeitet sie als Altenpflegerin in Lüneburg.
Lisa Masthoff: Wo informieren Sie sich hauptsächlich über Politik, wenn Sie hier in Deutschland sind?
Barbara Mikulska: Ich lese viel im Internet. Da habe ich das Gefühl, die Nachrichten sind unverfälscht. Fernsehen schaue ich gar nicht mehr, weil die Medien alles von der Regierung übernehmen. Ehrlich gesagt, weiß ich manchmal selber nicht, was ich glauben soll.
Lisa Masthoff: Wie nehmen Sie die deutsche Medienberichtserstattung zum Regierungswechsel in Polen war?
Barbara Mikulska: Deutsche sehen vieles durch eine rosarote Brille. Unser Sozialstaat in Polen ist leider nicht so gut ausgebaut wie in Deutschland. Viele Studenten sind arbeitslos, haben viel Geld für ihr Studium bezahlt und stehen anschließend erstmal ohne Arbeit da. Schauen Sie mich an, ich finde nur hier Arbeit und wie gerne wäre ich bei meinem Mann und meinen Kindern. Die brauchen mich auch. Es hat sich vieles verändert: in Deutschland arbeiten polnische Arbeitskräfte, weil sie mit niedrigeren Löhnen zufrieden sind. In Polen arbeiten Rumänen. So viel Geld wie hier verdiene ich sonst nirgendwo. So wie mir geht es vielen Polen. Ich denke deswegen haben sie die PiS-Partei gewählt und das muss man verstehen. Das ist doch menschlich oder?
Lisa Masthoff: Glauben Sie, mit dem neuen Regierungskurs wird sich Polen von Europa entfernen?
Barbara Mikulska: Vielleicht ja, vielleicht nein. Viele Polen waren sehr unzufrieden mit Europa. Die Strukturen sind langsam und man weiß gar nicht was die da machen. Ich habe keine Beziehung zur EU. Das berührt mich nicht. Ich spüre nur, dass viele meiner Freunde keine Arbeit haben und das macht unzufrieden. Außerdem können wir nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen wie Deutschland.
Lisa Masthoff: War die Flüchtlingspolitik für die Wahl entscheidend?
Barbara Mikulska: Nein, der Hauptgrund ist die von PiS versprochene Reform „500 plus“, bei der Familien mehr Kindergeld bekommen sollen. Momentan bekommt man nur 25 Euro pro Kind. Das ist doch ein Witz. Die neue Regierung verspricht Kindergeld in Höhe von 500 Zloty (ca. 120 Euro pro Kind, Anm. d. Red.). Manche haben Angst, dass die Leute dann faul werden und nicht mehr arbeiten. Ich glaube, dass es einfach nur fair ist. Wir werden sehen, ob die Partei ihre Versprechen einhält.
Lisa Masthoff: Haben Sie Angst um den polnischen Rechtsstaat, wenn zum Beispiel die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtsgerichts beschnitten wird?
Barbara Mikulska: Unser Verfassungsgericht besteht doch hauptsächlich aus Richtern, die der alten Regierung nahe stehen. Kein Wunder, dass sich die PiS- Partei da zur Wehr setzt.
Thema: Poland on my mind
Mit Poland on my Mind startet das Publixphere-Netzwerk ein Experiment. Ist es möglich, eine grenzüberschreitende Debatte über 'Polen in Europa' zu führen? Als europäische Öffentlichkeit - mit BürgerInnen aus Polen und potenziell allen anderen EU-Ländern? Mehr...
Links
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Lisa@PolicyLab
Interessant, dass Barbara Mikulska sagt, sie habe keine Beziehung zur EU und es berühre sie nicht, wobei sie doch selbst das lebt, was erst durch die EU möglich bzw. so einfach geworden ist: sie genießt die Freizügigkeit, arbeitet in einem anderen als ihrem Heimatland und kann jederzeit von Polen nach Deutschland und zurück fahren! Dass sie vielleicht keinen Draht zu den EU-Institutionen (im Sinne von "die in Brüssel") hat, kann ich verstehen, aber ich finde es schade, dass ihr die Arbeitnehmerfreizügigkeit so selbstverständlich erscheint, dass sie der Überzeugung ist, die EU berühre sie nicht - tut sie nämlich sehr wohl!