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Das Ende des Sterbens denkbar machen


Foto: Fotomovimiento, Ausschnitt, CC BY-NC-ND 2.0)Geflüchtete im griechischen Idomeni. Foto (Ausschnitt): Fotomovimiento (CC BY-NC-ND 2.0)

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob ein Europa denkbar wäre, das sich nicht hinter hohen Zäunen versteckt, meint der Historiker Sören Brandes Unsere Zeit . Doch: „Die Chance ist vertan, der Moment vorbei.“


Ein Beitrag von Sören Brandes Unsere Zeit im Rahmen der Bürgerdialoge Europas Grenzen, zuerst erschienen auf dem Blog Unsere Zeit – Gedanken zur Gegenwart.

Merkel, Merkel, Merkel. Wo man hinsieht, hinhört, hinliest, überall trifft man auf Angela Merkel. Für die einen ist sie die Hassfigur schlechthin, das Symbol für den Ausverkauf, die Abschaffung, gar die „Umvolkung“ Deutschlands. Für die anderen ist sie „Mutti“, die Barmherzige, die mit offenen Armen die Bedürftigen empfängt. Ein Symbol der Menschlichkeit, der Wärme, der „Willkommenskultur“.

Beide Bilder sind Unsinn. Angela Merkel ist weder eine antideutsche Linksradikale noch eine linksliberale Mutter Theresa. Tatsache ist, dass sie in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 gemeinsam mit dem österreichischen Bundeskanzler die Entscheidung traf, einige Tausend Menschen, die auf ihrer Flucht in Ungarn gestrandet waren, einreisen zu lassen. Tatsache ist auch, dass sie einen Deal mit der Türkei ausgehandelt hat, der für Millionen von Flüchtlingen das Ende aller Hoffnungen und für Tausende Internierung, für viel zu viele den Tod bedeutet. Zur Zeit arbeitet sie gemeinsam mit der Europäischen Kommission und anderen europäischen Regierungen daran, ähnliche Abkommen mit nordafrikanischen Regierungen auszuhandeln, offenbar auch mit den mörderischen Diktatoren von Eritrea und Sudan.

„Ein anderes Europa war denkbar, für einen kurzen Moment“

Seit 2005 ist Angela Merkel Bundeskanzlerin, eine kleine Ewigkeit. In diesem Zeitraum sind über 25.000 Migranten auf ihrem Weg nach oder durch Europa gestorben; viele Tausende wurden geschlagen, getreten, gefoltert. Im Sinai zum Beispiel gibt es zahlreiche Banden, die eritreische Flüchtlinge auf ihrem Weg gefangen nehmen, foltern und dann ihre Familien erpressen: Am Telefon hören die Angehörigen die Schreie der Gefolterten; sie geben dann ihr letztes Hemd, um sie zu befreien. Andere Flüchtlinge werden von einer der libyschen Regierungen am Strand aufgesammelt und in überfüllte Gefängnisse gesteckt. Vor einigen Monaten gab es in einem dieser Gefängnisse einen Fluchtversuch. Die Gefängniswärter feuerten ihre Maschinengewehre ab; vier Flüchtlinge starben. Die von der AfD geforderten Schüsse fallen schon längst.

Wer glaubt, dass diese Verbrechen mit uns, mit Angela Merkel nichts zu tun haben, der irrt. Es gibt einen einfachen Grund, warum Migranten durch Libyen, Ägypten oder die Türkei reisen, tausende Dollar an Schlepper bezahlen und auf klapprige Boote steigen. Warum buchen sie nicht einfach einen Flug, obwohl das nicht nur sicherer, sondern auch billiger wäre? Der Grund ist eine EU-Richtlinie, die Fluggesellschaften dazu verpflichtet, Menschen nicht ohne Visa an Bord zu lassen. Sie ist Teil einer jahrzehntelangen Politik der Abschottung, Abschiebung und Abschreckung. Diese Richtlinie, diese Politik wurde im September 2015 keineswegs aufgehoben oder aufgegeben. Weiterhin starben tausende Menschen bei ihren Fluchtversuchen, Männer, Frauen, Kinder, Babys. Die europäische Migrationspolitik baute weiterhin auf der abschreckenden Wirkung der Tode im Mittelmeer auf. Kaum etwas könnte deshalb perfider sein, als von „Angela Merkels Politik der offenen Grenzen“ zu sprechen.

Trotz allem war der Sommer 2015 eine große Chance. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob ein anderes Europa und ein anderes Deutschland denkbar wären. Eines, das sich nicht hinter hohen Zäunen versteckt, das sich öffnet und andere Menschen willkommen heißt, in dem das Zusammenleben mit „Fremden“ nicht als Gefahr, sondern als Möglichkeit begriffen wird. Eines, das vielleicht tatsächlich das mörderische Grenzregime, an dem es sich schuldig machte, hätte überwinden können.

„Wir haben nicht weit genug gedacht“

Die Chance ist vertan, der Moment vorbei. Schon seit Mitte September 2015 taten Behörden und Politiker alles, um „die Flüchtlingszahlen zu begrenzen“. Überall in Europa wurden Grenzen geschlossen, und schon bald folgten die Bilder aus Idomeni, die medienwirksam die alte Botschaft der Abschreckung verbreiteten: „Kommt nicht zu uns. Wir werden euch aufhalten. Wer nicht auf dem Weg stirbt, wird im Matsch leben und mit Tränengas bekämpft.“ Heute, ein Jahr später, kann man getrost davon sprechen, dass die Asyl- und Menschenrechte von Flüchtenden nun noch mehr mit Füßen getreten werden als vor der „Flüchtlingskrise“, die in Wahrheit eine Krise des europäischen Flüchtlingsregimes ist.

Wie konnte es dazu kommen? Wieso wurde der Sommer 2015 nicht zur Wende hin zur Menschlichkeit, sondern zur Rechtfertigung für eine noch unmenschlichere Politik? Natürlich haben dazu rechte Politiker beigetragen, von David Cameron über Horst Seehofer bis zu Victor Orbán. Aber wieso konnten sie sich durchsetzen, wieso waren sie es, die Politik und öffentliche Debatte bestimmten? Wir müssen uns fragen, was wir, die Progressiven, die Helfer und Freiwilligen, die „Teddy-Werfer“ und „Gutmenschen“, falsch gemacht haben.

Wir haben nicht weit genug gedacht. Wir hatten keine Vision jenseits des umzäunten Nationalstaats, der schon so viele Menschenleben gekostet hat. Wenn die Rechten Merkel als Diktatorin beschimpften, fiel uns nichts Besseres ein, als sie zu verteidigen – als sei sie wirklich unsere „Mutter“, als würde sie wirklich für eine menschliche Flüchtlingspolitik einstehen. Seehofer hat es mit absurden Vorschlägen wie Obergrenzen und Transitzonen geschafft, sich in der medialen Debatte festzusetzen. Was waren unsere Vorschläge? Ständig wurde über eine Alternative rechts von der CDU gesprochen, aber was ist mit einer Alternative links von Angela Merkel?

Neue Konzepte von Staatlichkeit

Wenn wir das Sterben an Europas Grenzen beenden wollen, müssen wir sein Ende zu allererst denkbar machen. Heutige Konzepte von Staatlichkeit bauen auf einer Setzung fundamentaler Ungleichheit auf: Wer auf der falschen Seite einer Grenze geboren ist, hat verloren. Diese Ungleichheit wird von vielen als völlig natürlich begriffen, obwohl sie allem widerspricht, für das die Moderne zu stehen behauptet: Freiheit, Menschenrechte, Gleichberechtigung; die Vorstellung, dass es jeder schaffen kann, der sich anstrengt. Wir müssen deshalb neue Konzepte von Staatlichkeit, von Identität und Grenzen entwickeln. Wir müssen Staatlichkeit jenseits des Nationalen, Identität jenseits der Ausgrenzung und Grenzen jenseits von Mauern und Zäunen gesellschaftlich denkmöglich machen.

Das ist unsere Aufgabe für die nächsten Jahre und Jahrzehnte – bis sich wieder ein Fenster öffnet, so wie im Sommer 2015. Dann müssen wir es sein, die die Politiker vor sich her treiben.


Hinweis: Als Debattenbeitrag im Rahmen der Bürgerdialoge Europas Grenzen gibt der Text die Meinung des Autors wieder.

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Kommentare

  • Ich melde mich nach langer Zeit einmal wieder zu Wort.

    Ein Europa ohne Grenzen, eine Welt ohne nationale Grenzen, nicht zwischen dem asiatischen Raum, zwischen China, zwischen Ruussland, zwischen den afrikanischen Staaten, zwischen Nord- und Südamerika? Komplett ohne Grenzen? Jeder Erdenbürger, egal, wo er geboren wurde, soll seinen Wohn- und Arbeitsplatz wählen können, wo er will. Eine Utopie, eine Paradies-Utopie.

    Der Beitrag von Sören Brandes legt es nahe, dass ich mir ein schlechtes Gewissen machen muss, dass ich in Deutschland geboren wurde und nicht z.B. in Mali.

    Könnte man nicht umgekehrt auch sagen, dass sich die Menschen in Mali ein schlechtes Gewissen machen müssen, wenn sie Kinder in die Welt setzen, die in ihrer Region keine Chance haben? Mehr noch, ist es nicht ungeheuer rückichtslos gegenüber Frauen und Kindern und Säuglingen und hochschwangeren Frauen, wenn eriträische Männer oder Männer aus anderen afrikanischen Staaten sie mit auf die halsbrecherische Flucht nach Europa nehmen?

    Sollte man nicht, wenn man für die Grenzenlosigkeit dieser Erde eintritt, auch postulieren, dass sich die Menschheit nur noch dort rekrutiert, wo Leben möglich ist?

    Zeugung und Geburt überall auf dieser Erde, rein kreatürlich, aber Verantwortung für das neue Leben nur noch in entwickelten, zivilisierten Regionen?

    Okay, mein Beitrag ist provokativ gemeint. Meine Meinung ist eine andere. Man sollte Afrika nicht als lebensunwerten Kontinent aufgeben, man sollte Diktatoren entmachten, keine Waffenexporte mehr irgendwohin, in Afrika geborene Menschen sollten aus ihren Geburtsländern etwas machen etc. Nationale Grenzen werden noch als Identifikationsrahmen und als Ordnungsrahmen für einen überschaubaren Bereich gebraucht. Ohne sie gerät das ganze Gefüge dieser Erde aus der Balance. Es gibt nicht den neuen Menschen. Es gibt nur den egoistischen Menschen. Familienclans überall in der Welt würden ihre egoistischen Interessen verfolgen. Der moderne Single oder die Kleinfamilie, wie sie inzwischen in unseren Breiten die Regel ist, würden unter die Räder kommen. Gerade sie brauchen den Schutz einer übergeordneten Größe, den Schutz eines Staates...

  • Also wenn Sie Merkel nicht wollen, biete ich Ihnen die bürgerlich-konservativen Spitzenleute aus anderen westlichen Demokratien an:
    Wie wäre es mit Viktor Orbán? Oder Silvio Berlusconi? Oder gar Donald Trump?

    Das weltweite bürgerlich-konservative Witzfigurenkabinett (www.mister-ede.de - 13.10.2016)

    Meine Alternative zu diesen Bürgerlich-Konservativen ist daher der linke Liberalismus, wie er sich z.B. in der Europäischen Föderation widerspiegelt.

    • Sören Brandes Unsere Zeit
      +1

      Da bin ich dabei.

      • Lieber Sören Brandes Unsere Zeit ,

        ich hoffe Sie meinen mit „dabei sein“ den linken Liberalismus und nicht Donald Trump ;D

        Aber was wäre der erste Schritt dorthin? Was könnten z.B. wir beide für eine Gegendebatte zur aktuellen Abschottungspolitik unternehmen?

        Ähnlich wie Sie hier, beschwere ich mich gerade bitterlich bei der EU-Kommission, um gegen das Sterben an den Außengrenzen vorzugehen. Auch wenn ich als Einzelner damit vermutlich keine Chance habe, will ich auf diese Weise zumindest versuchen, der inhumanen Abschottungspolitik ein Ende zu bereiten.

        Beschwerde-Teil1
        Beschwerde-Teil2

        Aber vielleicht haben auch Sie eine Idee, Tipps oder Tricks, wie man das in eine breite gesellschaftliche Debatte überführen kann oder wie umgekehrt ich Sie unterstützen könnte.

        Beste Grüße,
        Mister Ede

        • Sören Brandes Unsere Zeit ist dafür
          0

          Der Kampf muss auf verschiedenen Ebenen geführt werden, und Petitionen und Beschwerden sind immer hilfreich.

          Ich glaube aber auch, dass die Situation derzeit so festgefahren ist, dass wir hier sehr langfristig denken und vorgehen müssen. Einerseits könnte man zwar das Sterben im Mittelmeer sehr schnell beenden – indem die (http://polis180.org/polisblog/2016/10/01/gefluechtete-schlauchboot-flugzeug/)[Richtlinie 2001/51/EG] einfach abgeschafft wird. Andererseits wird aber genau das nicht passieren, es ist politisch nicht machbar. Warum?

          Bei der letzten presidential debate wiederholte Trump mindestens dreimal direkt hintereinander das Mantra "You got no borders, you got no country". Das bringt es zwar auf den Punkt – "country" oder "state" oder "nation" sind derzeit einfach nicht ohne "borders" in Form von Mauern und Zäunen denkbar – ist aber noch nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist, was Hillary antwortete: "Of course we have to secure our borders." Genau dasselbe ist in Europa passiert, wo die vermeintlichen Flüchtlingsfreunde ihre Sätze immer mit einem "Natürlich können wir nicht alle aufnehmen, aber..." anfingen. Wer so anfängt, hat nicht nur schon verloren, sondern verstärkt und aktualisiert das festgefahrene Denken, das eigentlich der Kern des Problems ist.

          Man muss also radikal außerhalb dieser Kategorien denken. Also beispielsweise: Stellen wir uns einen Staat ohne geschlossene Grenzen vor. Grundsatzfragen, die dadurch aufgeworfen werden: Brauchen wir in einer Zeit der virtuellen Realität überhaupt noch Territorien? (Ernstgemeinte Frage! (https://docs.google.com/document/d/1CFh9Y0ACGMeW5naHG3R-txnyv2ikTevSa7bP5P_oVrI/edit)[Hier z.B. ein paar Gedanken von Kathrin Passig dazu.]) Oder, etwas weniger radikal: Wenn es offene Grenzen gibt (wirkliche offene Grenzen, nicht das, was wir im letzten Sommer hatten), bedeutet das, dass es pro Jahr 3 Millionen Flüchtlinge geben wird? (Diese Zahl geisterte letzten September/Oktober kurzzeitig durch die Medien und wohl auch die Planungsstäbe, ein weiteres Zeichen dafür, dass die Situation eine echte Chance war.) Und wenn ja: Warum sollte das schlecht bzw. was könnte daran gut sein?

          Es gibt bereits einige Ökonomen und Philosophen, die über diese Fragen nachdenken, z.B. Jonathan W. Moses. Irgendwie muss man es doch schaffen, solche Ideen soweit bekannt zu machen, dass nicht automatisch auch linke Politiker "So ein Quatsch!" denken, wenn sie davon hören, dass Staaten auch ohne Grenztote funktionieren könnten...

          • Lieber Herr Brandes,

            ich bin ein Freund des Machbaren und ich denke, die Aufnahme von Schutzsuchenden über humanitäre Kontingente aus der Türkei oder mehr Engagement für Schutzsuchende vor Ort sind realistische Forderungen. Deshalb würde ich mich in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingspolitik eher darauf konzentrieren als auf eine Debatte über Staatlichkeit im Allgemeinen oder auch die von Ihnen genannte Richtlinie.

            Gleichwohl sind das natürlich interessante Ansätze für das künftige Zusammenleben in dieser einen Welt.

            Beste Grüße,
            Mister Ede

            • Sören Brandes Unsere Zeit
              +2

              Völlig richtig – jedes Menschenleben, das gerettet wird, ist wichtig! Und dafür braucht es einen Einsatz für das Machbare. Ich möchte nur dafür plädoyieren, über dem alltäglich Machbaren das prinzipiell Mögliche nicht zu vergessen. Denn alle derzeit diskutierten flüchtlingspolitischen Modelle rechnen - teils sehr gezielt - mit dem Tod von Menschen. So kann es nicht bleiben!

              • Lieber Herr Brandes,

                dem kann ich mich vollständig anschließen. Würde es bereits humanitäre Kontingente in einer angemessenen Größenordnung geben oder andere Wege, um das Sterben im Mittelmeer zu reduzieren, wäre eine solche Debatte aus meiner Sicht folgerichtige. Ein Ansatz wäre für mich dabei, die EU weiter wachsen zu lassen und den Schengen-Raum auf diese Weise auszudehnen.

                Beste Grüße, Mister Ede