Lassen sich EU-Staaten zur Flüchtlingsaufnahme zwingen? (Bürgerdialog Augsburg)
"In der EU braucht jeder einmal den anderen", so der CSU-Europapolitiker Markus Ferber beim Bürgerdialog in Augsburg. Doch klappt der klassisch europäische Interessenausgleich auch in der Flüchtlingsfrage? Foto: Guido Köninger
Wie erreicht die EU eine gerechte Verteilung von Asylsuchenden? Das war eine der vielen Fragen bei unserem Bürgerdialog in Augsburg. Online stellen wir die aktuellen Pläne der EU-Kommission zur offenen Diskussion – und fragen nach der Umsetzbarkeit.
Ein Beitrag von Moderation Bürgerdialoge Europa-Union Deutschland
Unbestritten ist: die EU-Staaten sind sich derzeit noch nicht einig, wer künftig nach welchem Verfahren Asylsuchende aufnimmt. Osteuropäische Länder wie Ungarn, die Slowakei und Polen sind vor allem skeptisch, wenn es um Asylsuchende muslimischen Glaubens geht. Eine dauerhafte Verteilungs-Quote lehnen sie bisher ab.
Schon die Notfall-Regelung von 2015, mit der 120.000 Menschen auf mehrere EU-Staaten verteilt werden sollen, stößt auf großen Widerstand. Die Slowakei klagt vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gegen den Beschluss, wonach es 802 Asylbewerber aufnehmen soll. Bei der Entscheidung waren die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Rumänien überstimmt worden. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico spricht von einem “Diktat” aus Brüssel. Ungarns Regierung will ein Referendum zur Verteilung nach Quoten abhalten lassen. .
Der Fairness-Mechanismus – eine gute Idee?
Anfang Mai hat die EU-Kommission nun einen Kompromiss-Vorschlag für die künftige Flüchtlingsaufnahme vorgelegt. Statt feste Verteilungsquoten einzuführen, soll die bisherige Regelung (Dublin-System) im Kern erhalten bleiben. Demnach beantragen Menschen in dem Land Asyl, in dem sie erstmals den Boden der EU betreten.
Allerdings soll eine Umverteilung in dem Moment stattfinden, in dem die Aufnahmeländer unter besonderen Druck geraten. Hierzu wird für jedes EU-Land abhängig von der Größe und der Wirtschaftskraft die verkraftbare Menge an Asylanträgen festgelegt. Wenn die Asylbewerberzahl auf mehr als 150 Prozent der Referenzzahl steigt, soll der neue “Fairness-Mechanismus” greifen. Das heißt: andere EU-Staaten übernehmen alle weiteren neuen Asylbewerber – solange bis das Asylbewerberaufkommen wieder unter den betreffenden Schwellenwert gesunken ist.
Den Vorschlägen zufolge kann sich ein EU-Staat aber auch weigern, Asylbewerber über den Fairness-Mechanismus aufzunehmen. In diesem Fall muss er allerdings einen "Solidarbeitrag" von 250.000 Euro pro Person an das Mitgliedsland zahlen, das die Asylsuchenden an seiner Stelle aufnimmt.
Wie ist eine europäische Asylpolitik durchsetzbar?
Auch dieser Reform müssen die Regierungen der EU-Länder erst mehrheitlich zustimmen. Bei unserem Bürgerdialog kam aus dem Publikum die Frage, was passiert, wenn sich manche EU-Länder den Plänen verweigern. Welchen Anreiz sollten etwa Ungarn oder Polen haben, sich auf den Fairness-Mechanismus einzulassen oder etwaige Solidarbeiträge in Kauf zu nehmen? Wie nachhaltig wäre eine Reform, bei der einige EU-Länder überstimmt werden?
Diesen Fragenkomplex wollen wir hier online vertiefen:
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Nutzen in der Asylfrage moralische Appelle an die europäische Solidarität?
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Mit welchem Argumenten lassen sich EU-Länder überzeugen, die Aufnahme europäisch zu regeln? Wäre es zum Beispiel gerechtfertigt, künftige EU-Zahlungen von der Aufnahmebereitschaft bestimmter Länder abhängig zu machen?
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Oder ist schlicht zu akzeptieren, wenn manche Länder keine europäisch geregelte Flüchtlingsaufnahme wollen?
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Moderation Bürgerdialoge: Europa in der Dauerkrise - Sehen wir auch die Chancen? (Bürgerdialog Erfurt)
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Felix Thoma: Ein Vorschlag zur befristeten Verteilung von Asylberechtigten innerhalb der EU
Felix Thoma ist dafür
Eher nicht. Die osteuropäischen Länder sehen sich in ihrer Bevölkerungszusammensetzung langfristig bedroht - da helfen wohl keine moralischen Appelle. Die westeuropäischen Länder haben gerade mit erheblichen innenpolitischen Problemen zu kämpfen (Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien, Terrorismus, Brexit-Referendum, Überforderung der Kommunen bei der Flüchtlingsaufnahme). Langfristig dürfte es sich aber auszahlen, wenn unabhängig von der aktuellen Tagespolitik immer wieder auf die moralische Verpflichtung Europas verwiesen wird, da die Menschenrechte gerade in Westeuropa schon seit vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität sind - vor allem in Frankreich!
Nein, das auch wieder nicht. Damit riskieren wir nämlich eine endgültige gesellschaftspolitische Spaltung der Europäischen Union in multikulturelle Mitgliedsländer und klassische Nationalstaaten, die sich auch in ferner Zukunft noch gegen die Flüchlingsaufnahme und die Zuwanderung wehren.
Wie oben kurz erklärt, ist es gesellschaftspolitisch kontraproduktiv, wenn sich Länder von der Flüchtlingsaufnahme freikaufen können.
Ich sehe aber auch die Beibehaltung des in der Praxis gescheiterten Dublin-Systems sehr kritisch. Im Falle Griechenlands funktioniert das Dublin-Prinzip, dass ein Flüchtling entweder einen Asylantrag im Ankunftsland stellen oder die EU wieder verlassen muss, nur aus dem Grund, dass eine Weiterreise der Flüchtlinge nach Mitteleuropa mittlerweile verhindert werden kann (wegen der Bootsfahrt aufs Festland, dem Zaun an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien und einer weiteren Schengen-Außengrenze) und eine Rückführung in die Türkei zumindest theoretisch möglich ist. Wie MisterEde erläutert hat, sinkt durch den Fairness-Mechanismus der Anreiz Griechenlands zum Schutz der eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu Griechenland bzw. der Türkei hat Italien mehrere Schengen-Innengrenzen und Libyen ist kein sicheres Aufnahmeland. Italien kann also ankommende Flüchtlinge ohne Registrierung nach Deutschland durchleiten und hat auch weiterhin einen Anreiz zu diesem europarechtswidrigen Verhalten, da nur wenige Asylbewerber ihren Asylantrag in Italien stellen wollen und der Fairness-Mechanismus erst ab einer gewissen Grenze greift.
Gut ist, dass die Aufnahmefähigkeit nach der Größe und Wirtschaftskraft und Zeit festgelegt werden soll. Das halte ich auch für die drei entscheidenden Kriterien, wobei die Betrachtung der Wirtschaftskraft durch die Arbeitslosenquote und die Struktur der Wirtschaftssektoren verfeinert werden kann.
In der derzeitigen Lage der EU wenig nachhaltig, weil die Mitglieder die Reform ausführen müssen.
Ja. Schließlich profitieren ausgerechnet die osteuropäischen Staaten sehr stark von den Zahlungen der EU. Einen Wegfall der Förderung müssten die Regierungen ihrer Bevölkerung erklären. Allerdings erschweren angedrohte Kürzungen natürlich erstmal die Mehrheitsbildung unter den Regierungen der Mitgliedsstaaten.
Der Erhalt von EU-Zahlungen und der Verbleib im Schengen-Raum wäre schon ein starker Anreiz, sofern der Entzug glaubhaft angedroht wird. Allerdings würden Ungarn und Polen im Zweifel die Solidarbeiträge in Kauf nehmen, denn für die gesellschaftliche Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen reichen wirtschaftliche Gründe nicht.
Die Flüchtlingsaufnahme wird eigentlich von kaum einen Land aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt. Gesellschaftspolitische Bedenken können jedoch nur mit gesellschaftspolitischen Zugeständnissen entkräftet werden. Eine langfristige Strategie zur Lösung der Flüchtlingskrise erfordert ein Bündel von sinnvoll aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Einen denkbaren Ansatz habe ich in meinem eigenen Beitrag auf Publixphere beschrieben: https://publixphere.net/i/publixphere-de/proposal/2400-Ein_Vorschlag_zur_befristeten_Verteilung