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Die unbegründete Wohlstandsangst - zur Debatte um „Sozialtourismus“ in der EU


Foto: dpaDie rechtspopulistische Partei UKIP warnt im britischen Wahlkampf, die "unkontrollierte" Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren sei "katastrophal" für Großbritannien. Angelika Schenk (JEF Europe) sieht keinen Grund zur Panik. Im Gegenteil. Bild: UKIP-Chef Nigel Farage. Foto: dpa

Bei der Freizügigkeit innerhalb Europas klaffen Realität und Wahrnehmung weit auseinander, meint Angelika Schenk. Sie stellt die Forderung der Jungen Europäischen Föderalisten zur Diskussion, die Mobilität in der EU zu fördern...


Ein Beitrag von Angelika Schenk (JEF Europe)

Zum Unwort des Jahres 2013 wurde „Sozialtourismus“ gewählt – nicht zuletzt aufgrund der Ängste, die im Zuge des Wegfalls der Personenfreizügigkeitsbeschränkungen für Rumänien und Bulgarien zum 1. Januar 2014 geschürt wurden. So sandte beispielsweise der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zusammen mit seinen Kollegen aus Großbritannien, Österreich und den Niederlanden im März 2013 einen Brief an die Europäische Kommission, in welchem sie den Missbrauch von Sozialleistungen durch Bürger aus mittel- und osteuropäischen Ländern anprangerten und von der EU ein schärferes Vorgehen gegen diese „Armutseinwanderung“ forderten.

Entsprechende Gesetzesänderungen ließen nicht lange auf sich warten: in Deutschland wurden Ende November vergangenen Jahres mit einer Änderung des EU-Freizügigkeitsgesetzes befristete Wiedereinreisesperren verabschiedet sowie unter anderem eine strengere Prüfung von Kindergeldanträgen und eine Befristung des Aufenthaltsrechts für Arbeitssuchende auf sechs Monate.

Auch Großbritanniens Premier David Cameron hat – fast taggleich mit der deutschen Gesetzesverabschiedung – eine Einschränkung von Freizügigkeitsrechten für in Großbritannien lebende EU-Bürger angekündigt. In seine Vorschlägen ist ebenfalls die genannte Sechsmonatsbeschränkung für Arbeitssuchende enthalten. Die knapp zwei Wochen davor gefallene EuGH-Entscheidung in der Sache Dano kam diesen Mitgliedstaaten dabei sehr gelegen: hier wurde entschieden, dass nicht-erwerbstätigen EU-Bürgern, die nicht auf Jobsuche sind, in der großen Mehrheit der Fälle der Bezug von Sozialleistungen verwehrt werden kann. (1)

Zulauf für Rechtspopulisten

Die Sorge vor „Armutszuwanderung“ blieb hinter der Realität zurück Es zeigt jedoch auch über ein Jahr nach Wegfall der letzten Personenfreizügigkeitsbeschränkungen, dass keiner dieser Mitgliedstaaten die Befürchtungen in konkreten Zahlen nachweisen kann. Im Gegenteil: die Mobilitätsraten in der EU (durchschnittlich 2,8%) zeigen, dass die absolute Zahl der Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat leben, sehr niedrig ist (14,1 Millionen). (2) Darüber hinaus haben diverse Studien herausgefunden, dass eingewanderte EU-Bürger im Schnitt sowohl eher berufstätig sind (61% im Vergleich zu 52%) (3) als auch seltener Sozialleistungen in Anspruch nehmen als ihre Mitbürger. (4)

In der allgemeinen Öffentlichkeit kommt dies jedoch kaum an, was sich nicht zuletzt am deutlichen Stimmenzuwachs nationalistischer und rechtspopulistischer Parteien bei der letzten Europawahl und weiteren nationalen Wahlen ablesen lässt. Laut aktuellster Umfragen könnte UKIP im Mai 15 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen gewinnen; Marine Le Pen und ihr Front National kämen nach momentanem Stand bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gar auf rund 30 Prozent der Stimmen – und läge damit deutlich vor allen anderen Kandidaten.

Freizügigkeit stärken

Es wird schnell deutlich, dass Realität und Wahrnehmung der Bürger zum Ausmaß der Freizügigkeit in Europa weit auseinanderklafft. Somit wird das Thema der „Armutseinwanderung“ trotz allem so bald nicht vom tagespolitischen Tableau verschwinden. Daher hat die JEF Europe Anfang November 2014 die Resolution „Genuine Free Movement for All – Advancing Citizenship and Welfare Rights across all EU Member States“ verabschiedet. Hierin fordern wir unter anderem:

  • die Zurücknahme der genannten Gesetzinitiativen zur Einschränkung von Freizügigkeitsrechten in Mitgliedstaaten wie Deutschland oder Großbritannien

  • eine verbesserte Verbreitung von Informationen zu Freizügigkeitsrechten an EU-Bürger

  • eine vereinfachte gegenseitige Anerkennung von Berufs- und Bildungsabschlüssen

  • die Förderung von Fremdsprachenunterricht, sowie

  • die Schaffung eines Europäischen Mobilitätsfonds – damit Personenfreizügigkeit in der EU zukünftig ein Gewinn für jeden sein wird.

Ich möchte von euch wissen: Wie bewertet ihr die Personen- und Arbeitnehmer-Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union? Muss sie gestärkt oder eingeschränkt werden?


Anmerkungen:

(1) Wie die Rechtslage bezüglich arbeitssuchender EU-Bürger aussieht, bleibt bis zur EuGH-Entscheidung im Alimanovic-Fall noch offen – hiermit wird sich auch die Rechtmäßigkeit der deutschen wie britischen Initiative zur sechsmonatigen Aufenthaltsbeschränkung für Arbeitssuchende klären.

(2) European Commission (Hrsg., 2013): Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of Regions. Free movement of EU citizens and their families: Five actions to make a difference. COM(2013) 837 final. Brussels: European Commission.*

(3) ICF GHK und Milieu Ltd (Hrsg., 2013): A fact finding analysis on the impact on the Member States’ social security systems of the entitlements of non-active intra-EU migrants to special non-contributory cash benefits and healthcare granted on the basis of residence. Final report submitted for DG Employment, Social Affairs and Inclusion, European Commission, S. 19.

(4) Eger, Thomas und Hans-Bernd Schäfer (2012): Research Handbook on the Economics of European Union Law. Cheltenham, UK: Edward Elgar Publishing, S. 173-7.


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Kommentare

  • Stephan Mayer MdB, CSU
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    Für Deutschland stellt die Grundfreiheit auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union einen wesentlichen Grundpfeiler dar, auf dem die EU beruht. Aber mit dem Grundrecht auf Freizügigkeit ist nicht das Recht geschützt, in die sozialen Sicherungssysteme einzuwandern. Das Freizügigkeitsrecht in der EU gilt im Grundsatz für die wirtschaftlich Aktiven – also für Arbeitsnehmer und Selbstständige. Es gibt in Europa kein Recht, sich das vorteilhafteste Sozialsystem auszusuchen. Auch deshalb haben wir mit der Änderung des deutschen EU-Freizügigkeitsgesetzes im vergangenen Jahr wichtige Weichen gestellt. So haben wir klargestellt, dass sich jeder EU-Ausländer grundsätzlich sechs Monate in Deutschland aufhalten darf, um eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit zu finden und mit den Einreisesperren bei Missbrauch ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung geschaffen.

    Für die europäische Einigung ist es wesentlich, die Akzeptanz für die Freizügigkeit in der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten zu erhalten. Deshalb ist es richtig, Missbrauch konsequent zu unterbinden. Hierzu sind möglicherweise auch Anpassungen im EU-Sekundärrecht nötig.

  • Ich bin ganz einverstanden, was die Stärkung der Mobilität angeht.

    Die genannten gesetzlichen Neuregelungen in Deutschland und Großbritannien halte ich allerdings für nicht sehr gravierend. Solange sich die Nationalstaaten innerhalb des EU-Rechts bewegen, und prinzipiell an der Freizügigkeit festhalten, sollen sie ihre nationalen Gestaltungsräume je nach den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen ruhig nutzen!

    Unsere "heilige europäische Kuh", nämlich die fabelhafte, atemberauende, weltweit einmalige Freizügigkeit bleibt davon doch unangetastet.

    Über den Blödsinn "Sozialtourismus" kann nicht genug aufgeklärt werden. Vielen Dank dafür!

    P.S: UKIP will ja gar nichts reformieren oder ändern. UKIP will die EU verlassen. Punkt aus Ende. Da sind die Möglichkeiten einer konstruktiven Debatte doch sehr begrenzt.

    • Titus Lienen Mitglied JEB ist dagegen
      +2

      Liebe jkippenberg, das Problem ist, dass die gesetzlichen Neuregelungen in ihrer Unionsrechtskonformität zumindest fragwürdig sind: Die Freizügigkeit eines Unionsbürgers kann grundsätzlich nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit von den Mitgliedstaaten eingeschränkt werden ( Art. 15 der Freizügigkeitsrichtlinie). Nach dem neuen Freizügigkeitsgesetz kann Unionsbürgern die Wiedereinreise verboten werden, wenn sie falsche Nachweise für die Einreiseberechtigung liefern. Es ist zweifelhaft, ob das bereits eine erhebliche Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellt, die eine derartige Beschränkung rechtfertigen könnte. Ist es jedoch keine, ist sie unionsrechtswidrig, weil die Aufzählung des Art. 15 in dieser Frage abschließend ist. Unter anderem ein Gutachten zum Änderungsgesetz vom Oktober letzten Jahres des Fachbereichs Europa des Bundestags kommt zum Ergebnis, dass hier die Grenzen des Art. 15 überschritten sind. Darüber hinaus entbehrt diese Regelung jedoch auch jeder statistisch begründeten Notwendigkeit (siehe Angelikas Beitrag). Deutschland nutzt hier nicht mehr seinen nationalen Gestaltungsspielraum, sondern der Gesetzgeber gibt in seiner parlamentarischen Vier-Fünftel-Mehrheit rechtspopulistischen Parolen einer Koalitionspartei neuen Aufschwung und schürt Ängste, indem er die Freizügigkeit fälschlicherweise mit "Sozialmissbrauch" in Verbindung bringt.

      • Hallo Titus Leinen, ich habe dieses Gutachten leider nicht gelesen. Wenn es so ist, wie Sie schreiben. Geht die EU-Kommission dann gegen Deutschland vor?