Im Rahmen des Europäischen Salons zur Migrationspolitik trafen wir uns am 18. März zum Community-Abend im in Berlin. Zunächst fragten wir uns, aus welchen Gründen wir selbst fliehen oder auswandern würden. Foto: Publixphere
Wie sehen wir Menschen, die nach Deutschland fliehen? Als Mitmenschen? Als Fremde? Als “Objekte des Systems”? Das und mehr beschäftigte uns beim Community-Abend zur Flucht- und Asylpolitik. Ein Überblick...
Ein Beitrag von Redaktion (Publixphere)
Zunächst eine Vorbemerkung: Die Debatte um die europäische Flüchtlingspolitik ist nicht einfach zu führen. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld, das auch am Community-Abend zu spüren war. Auf der einen Seite geht es um den einzelnen Menschen, der unter vielen verschiedenen Umständen nach Europa kommt, seinen ganz eigenen Lebensweg, sein 'Schicksal'. Auf der anderen Seite geht es um ein Aufnahme-System, das von der konkreten Person abstrahierend versucht, allgemeine Regeln aufzustellen und durchzusetzen. Regeln, die zwischen Flüchtlingsschutz, gewollter und ungewollter Zuwanderung unterscheiden.
Zugleich ist die Debatte emotional aufgeladen. Mancherorts artikuliert sich Angst vor ‘Überfremdung’ und Kontrollverlust - man denke nur an bezeichnende Metaphern wie “Flüchtlingsstrom” oder “Asylantenschwemme”. Andernorts herrschen Betroffenheit und Wut angesichts der wiederkehrenden Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer. 20.000 Menschen ertranken dort in den vergangenen 15 Jahren bei der Überfahrt, schätzen internationale Organisationen.
Unser gemeinsames Gespräch am Community-Abend konnte der ganzen Vielschichtigkeit der Asyl- und Flüchtlingspolitik natürlich nicht gerecht werden. Es war unser erstes Treffen im Rahmen des #pxp_themas Europäische Migrationspolitik, das wir online und offline zusammen mit dem Europäischen Salon diskutieren. Die TeilnehmerInnen setzten per Abstimmung selbst den Schwerpunkt des Abends: Zusammenleben (in Deutschland). Einige Punkte seien hier skizziert...
Jedes Fluchtschicksal ist anders
Evi Gülzow, Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte, schilderte eingangs die Lebenswege zweier sogenannter “Lampedusa-Flüchtlinge”, mit deren Beratung die Diakonie betraut ist. Aus Ländern südlich der Sahara stammend waren sie aus wirtschaftlichen Gründen nach Libyen ausgewandert, hatten dort eine Arbeit gefunden. Im Zuge des libyschen Bürgerkriegs und des NATO-Einsatzes wurden die Männer zur Flucht nach Italien gezwungen. Es sind Schilderungen von Misshandlungen, widrigen Umständen und seelischen Traumata, die bis heute nachwirken. Die Zustände in dem italienischen Aufnahme-Zentrum beschreiben die beiden als menschenunwürdig. Man legte ihnen schließlich nahe, nach Deutschland zu gehen - wie 'offiziell' dieser Rat erfolgt, ist nicht ganz klar.
In Deutschland bleibt der rechtliche Status der beiden bis heute ungeklärt- wie bei vielen der ‘Lampedusa’-Flüchtlinge, die ebenfalls auf dem Berliner Oranienplatz eine Bleibe fanden. Sollen sie - gemäß dem EU-Asylverfahren (Dublin III) - zurück nach Italien? In Anbetracht der dortigen Mängel im Aufnahmeverfahren wäre die Abschiebung unter Umständen illegal (Siehe hierzu: Abschiebung nach Italien nur unter Auflagen). Oder finden Politik und Behörden doch noch eine Lösung, die ihnen in Deutschland eine Perspektive aufzeigt? Der ‘Rückweg’ nach Libyen oder die Herkunftsländer südlich der Sahara scheint ausgeschlossen. Beide Männer sind um die 20 Jahre alt, wollen arbeiten und - wie wir alle - ein selbstbestimmtes Leben führen.
Die Berichte halfen uns, uns einen Moment in die (Zukunfts-)Perspektive von Flüchtlingen hineinzuversetzen. Auch zeigen sie, wie schnell die deutsche und europäische Asyl-Bürokratie ins Schlingern gerät.
Wie sehen wir Flüchtlinge?
In der offenen Runde ging es viel darum, wie wir Menschen wahrnehmen, die aus verschiedenen Gründen nach Europa kommen. Sehen Behörden und Gesellschaft selbstbestimmte Individuen "auf Augenhöhe", Fremde, Bittsteller oder “Objekte des Systems”? Hier gibt es ganz unterschiedliche Erfahrungen. Berichtet wurde von "selbstverständlichen" Beziehungen zu Flüchtlingen auf lokaler Ebene einerseits, aber auch von latent fremdenfeindlichen Anwohnerprotesten gegen überraschend eingerichtete Flüchtlingsheime andererseits.
Die Bürokratie des Aufnahmeverfahrens scheint vielerorts wie ein Damokles-Schwert über dem Zusammenleben zu schweben. Berichtet wurde von jahrelangelangen Asyl-Verfahren, die Asylsuchende in einem ungewissen und oft frustrierenden Warte-Modus belassen. Wenn jemand nach jahrelangem Warten den Flüchtlingstatus schließlich nicht erlangt, droht das neu aufgebaute (Zusammen-)Leben von einen Tag auf den anderen vorbei zu sein. Denn in diesem Fall ist es nicht einfach, mal eben das "System" zu wechseln und als Arbeitsmigrant zu bleiben, wovon ein Teilnehmer berichtete. Seinem Arbeitskollegen war es so ergangen. Denn die Hürden der Arbeitsmigration (im Unterschied zu Flucht und Asyl) sind hoch. Für eine “Blaue Karte EU” müssen Zuwanderer in der Regel mindestens 48.400 Euro im Jahr verdienen.
Paternalismus? Fremdheit?
Kritisch hinterfragt wurde in der Runde ein latent "paternalistischer Blick" auf Flüchtlinge, der sie eben nicht als gleichberechtigte, selbstbestimmte Individuen wahrnimmt, sondern nur als Hilfsbedürftige. Zugleich tauchte die Frage auf, inwieweit "Fremdbestimmung" im Aufnahme-Verfahren unvermeidlich ist. Muss der Staat beispielsweise Asylsuchenden den Aufenthaltsort (Bundesland) und die Unterkunft schon aus organisatorischen Gründen vorschreiben? Wie weit kann die Selbstbestimmung von Flüchtlingen gehen, bevor sie dauerhaft aufenthaltsberechtigt sind?
Wir konnten diese Diskussion nicht abschließend führen. Hingewiesen sei jedoch darauf, dass sich hier politisch viel tut. Deutschland hat Anfang 2015 die Residenzpflicht gelockert. Nach drei Monaten dürfen sich Asylsuchende nun frei im Bundesgebiet bewegen. Auch soll für sie die Arbeitsaufnahme erleichtert werden. Die Perspektive der Behörden scheint zumindest im Wandel begriffen, weg von einer Kultur der Abschottung, welche Flüchtlinge und Migranten vorrangig als Bittsteller und Störfall ansieht.
Auch unsere eigenen "Fremdheitsgefühle" scheinen vielschichtig. Die Grunderfahrung, keinen Platz in einer Gesellschaft zu finden, teilen in der Tendenz auch viele jüngere Menschen in Europa, so eine Teilnehmerin. Nähe hängt demnach nicht unbedingt von der Herkunft ab, sondern von der gemeinsamen Situation, den gemeinsamen Erfahrungen und Wünschen an das Leben. Klar scheint, dass die persönliche Begegnung vieles ändert, so manche "Fremdheitskonstruktion" in sich zusammen fallen lässt, und echte Empathie vielleicht erst möglich macht.
Wie reden wir über die Herkunftsländer?
Zum Schluss noch ein Nebenstrang unseres Gesprächs, der uns vom Schwerpunkt Zusammenleben wegführte.
Es ist die Frage, inwieweit die Politik der Herkunftsländer in eine Debatte um Flucht und Asyl gehört. Hier gab es einen kleinen Disput. Ist es beispielsweise legitim zu fordern, bestimmte afrikanische Staaten müssten endlich selbst auf den "grünen Zweig kommen" - in Punkto Demokratie, Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung? Oder ist die Frage zu stellen, ob eine “unbegrenzte” Aufnahmebereitschaft Europas die Herkunftsländer schwächen würde, wenn dort diejenigen fehlen, die funktionierende Rechtsstaaten aufbauen könnten ("Braindrain")? Oder wäre das eine erneut paternalistische und eurozentrische Sicht, die unterschwellig eine europäische Abschottungs-Politik legitimieren soll? Und welche Verantwortung trägt Europa eigentlich selbst für Armut, Kriege, Flucht- und Vertreibung in der Welt?
Das sind viele Fragen auf einmal. Wir konnten sie am Community-Abend nicht ausdiskutieren. Deshalb zum Schluss die herzliche Einladung an alle TeilnehmerInnen und alle Interessierten (die nicht dabei sein konnten), die Debatte hier online fortzuführen: mit Kommentaren unter diesem Bericht, mit neuen Diskussions-Anstößen oder mit Thesen, Fragen, Ideen zu...
Europäischer Salon: Entzieht sich die EU ihrer Verantwortung zum Schutz von Flüchtlingen?
Angenendt (SWP): Legale Zugangswege für Flüchtlinge und Migranten in die EU schaffen
Niesmann: Von Grenzen, die verwischen und solchen, die sich verfestigen
P.S: Die Impulse aus der Online-Debatte tragen wir weiter zum nächsten Offline-Treffen, dem Europäischen Salon am 27. April in Berlin, unter anderem mit Kanzleramtschef Peter Altmaier
Presse
Spiegel Online: Berliner Flüchtlingsproteste: Was wurde aus den Aktivisten vom Oranienplatz? Von Carolin Wiedemann, 22. April 2015