nemo ist dagegen
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AN EINEN ECHTEN VOLLBLUTLINKEN

Hallo Sören, Dein Essay ist eigentlich zu lang, um bei meiner eingeschränkten Zeit für’s Bloggen ausführlich und angemessen zu antworten und Deiner Argumentation gerecht zu werden. Deshalb hier nur kurz einige Anmerkungen:

Wenn ich Dich nach dreimaligem Lesen richtig verstanden habe, ergibt sich für Dich folgende Diagnose: Die Linke, lassen wir das mal so pauschal stehen, instrumentalisiert unreflektiert für ihren Kampf gegen das Gespenst oder den Scheinriesen Neoliberalismus die kryptofaschistische Rechte und ihre Position. Sozusagen der Hitler-Stalin-Pakt 2.0. Das erinnert mich fatal an die Argumentation der großbürgerlichen Eliten und die politischen Parteien des Zentrums in der Weimarer Republik, die Links und Rechts angeekelt „in einen Topf warfen“ und dann vergebens versuchten den Deckel zuzuhalten. Das Ergebnis ist ja bekannt.

Sarah Wagenknecht Arm in Arm mit Marine Le Pen und Wolfgang Streeck bei einem Glas Lager in einem Londoner Pub mit Nigel Farage? Das finde ich eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung. Der Linke Streeck , immerhin Direktor an einem Max-Plank-Institut (= Spitzenforschung, oder?) gibt in seinem jüngsten Buch Buying Time, Gekaufte Zeit auf den letzten Seiten einen zugegeben pessimistischen Ausblick auf die Zukunft des demokratischen Kapitalismus wie wir ihm bisher kannten und bringt dabei auch die Rechts- und Verfassungssysteme der noch bestehenden Nationalstaaten, insbesondere in der EU ins Gespräch. Er mutiert damit für Dich zum Nationalisten, zum Grenzenzieher und Ausgrenzer.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es geht bei diesem Grenzenziehen nicht darum Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen, andere Ethnien oder Arbeitsimmigranten draußen (!) zu halten, sondern darum innerhalb (!) des (noch) bestehenden nationalstaatlichen rechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmens eines demokratisch organisierten und durch freie Wahlen legitimierten Staates die Möglichkeit für gestaltende Politik ( Bei Streeck vor allem: Sozial-, Gesellschaft- und Wirtschaftspolitik) zumindest offen zu halten.

Die Politik schafft sich selbst ab

Die weitere Entgrenzung, von Dir als Globalisierung und Europäisierung hochgelobt, allerdings ohne diese - vordergründig unbestritten positive besetzten - Begriffe wissenschaftlich zu definieren oder zu hinterfragen, wird mit TTIP und CETA und dem darin enthaltenen Investorenschutz trotz vermeintlicher Reformen in diesem Bereich ein weiteres Stück Rechtsstaatlichkeit auslöschen und gestaltende, vorausschauende und noch wichtiger auch korrigierende Politik ( Atomausstieg, Energiewende) fast unmöglich machen. Siehe Vattenfall vs. Bundesrepublik Deutschland, Streitwert fast 5 Milliarden EURO. Ich habe versucht an anderer Stelle auf publixphere Wie die Politik sich selbst abschafft etwas zu dieser Diskussion beizutragen.

Du beklagst zudem: „Die Neigung, den „Neoliberalismus“ zu überhöhen, entspringt letztlich dem schon von Marx formulierten Glauben, dass die Ökonomie die „Basis“, der alles beherrschende Kern von Gesellschaft und Politik sei. Die „Ökonomisierung“ der Gesellschaft, die viele Linke für das angebliche Zeitalter des Neoliberalismus konstatieren, das in den 80er Jahren angebrochen sei, hat insofern weniger mit tatsächlich beobachtbaren Entwicklungen zu tun als mit ihren eigenen theoretischen Vorannahmen … „

CHAPEAU! Ein formidabler Rundumschlag! Zum einen machst Du hier etwas unvermittelt das Fass mit dem Dialektischen Materialismus und dem von Marx „vom Kopf auf die Füße“ gestellten Hegel auf. Es spricht zwar einiges für die Marx’sche These, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber ausdiskutieren können wir das hier leider nicht. Zum anderen wird in dem Zitat mit dem Beklagen der Ökonomisierung auch wieder eine typisch deutsche großbürgerliche Haltung der Vernachlässigung und Geringschätzung, ja Verachtung von Politik und Ökonomie gegenüber der höherwertigen Kultur deutlich. Eine Tradition, die vom wilhelminischen Deutschland bis ins Jahr 1933 reicht und die Wolf Lepenies in seinem Buch The Seduction of Culture in German History , Kultur und Politik: Deutsche Geschichten so glänzend analysiert hat.

Im Übrigen ist der Neoliberalismus, die Vorstellung von Markteffiziens und Selbstregulierung als derzeitige Erscheinungsform des Kapitalismus kein Gespenst, wie Du in Anspielung auf das Kommunistische Manifest paraphrasierend feststellst, sondern die brutale Realität für Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Dass er kein reales Machtzentrum hat, über keine ausformulierte Ideologie verfügt, sich selbst informell organisiert macht ihn nicht weniger wirkungsmächtig. Und zwar mit oder ohne „Anführungsstrichen“.

(Neo)Liberalismus und Freihandel

Auch Deine Trennung von Liberalismus und Neoliberalismus halte ich für wissenschaftlich nicht haltbar. Du beklagst ja selbst die „seltsamen Rechtsneigung von ‚Liberalen‘ wie eben Hayek, Friedman oder auch Westerwelle“. Es sind in den letzten drei Jahren einige Studien zur Ideengeschichte von Liberalismus und Neoliberalismus erschienen, die einen durchaus anderen Schluss zulassen. Eine Literaturliste reiche ich auf Wunsch gern nach.

Es führt eine direkte Linie von Adam Smiths Invisible Hand, über David Ricardo zu Ludwig von Mieses, Friedrich von Hayek und Milton Friedman. Die drei letzteren bekennende Nicht-Demokraten und politisch damit für heutige Verhältnisse ausgesprochene Rechtsausleger. Nicht-Demokrat meint hier natürlich nicht Gewaltherrschaft durch eine autokratische Clique oder einen Alleinherrscher, sondern die Verhinderung jeden Einflusses der demokratisch legitimierten Politik auf das ungestörte Funktionieren der Märkte. Und Markt ist für Neoliberale idealerweise alles von der Geburt in einer Privatklinik, über die selbstfinanzierte Ausbildung an Schule und Hochschule, die private Kranken- und Altersvorsorge bis zum Tod im privat finanzierten Seniorenheim. Restlos alles hat für den Neoliberalismus Warencharakter, unterliegt den Gesetzen des Marktes und bietet die Chance zu Investitionen und Profiten. Auch alles was bisher zumindest in Europa unter den Begriff der staatlichen Daseinsfürsorge fiel. Übrigens gehört auch sie bei den TTIP-Verhandlungen zur Verhandlungsmasse.

Wo der kulturelle Liberalismus, den Du vom wirtschaftlichen Liberalismus trennst, indes in den politischen Raum trat, hat er in der Geschichte stets die Interessen des weitgehend unreglementierten Marktes vertreten, ob nun national- oder freidemokratisch garniert. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch die historische Verbindung zwischen dem Liberalismus und Anhängern des Freihandels (besonders typisch in England und den USA) als einer frühen Form der Globalisierung. Weißt Du wie viele entsetzliche Kriege seit der frühen Neuzeit unter dem Mantel des Freihandels (sprich ungehinderten Marktzugangs) geführt wurden? Völkermord inbegriffen. Soviel zum Liberalismus und seinen historischen Meriten.

Ich gebe ja zu, zu Zeiten von Adam Smith und David Ricardo machte der Liberalismus, damals verstanden als Kampf der Bürger gegen den ungehinderten Zugriff des Staates (in Form des autokratischen Souveräns) auf die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Existenz (Markt, Handel, Produktion) durchaus Sinn. Nun ist aber inzwischen in der demokratischen Welt das Volk der Souverän. Warum sollten diese Bürger mit dem Neoliberalismus heute den großen Konzernen, den Banken und den, in einer riesigen Schattenwirtschaft agierenden, großen Investmentfonds den ungehinderten und unregulierten Zugriff auf seine materiellen, wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen erlauben?

Der Markt als Wahrheitsmaschine

Dass der Neoliberalismus heute so effektiv unsere Märkte, unsere Gesellschaft und damit unser Leben beherrschen kann, liegt auch an den völlig neuen Machtmechanismen über die er verfügt. Hier hast Du mit Michel Foucault (kein Marxist und eigentlich auch kein Linker!) gleich einen der wichtigsten Denker der letzten Jahrzehnte entsorgt, als „Antimodernisten“ diffamiert und in Deine Verschwörungskiste des „Neoliberalismus in Anführungsstrichen“ gepackt. Wäre das so würden einige Regalmeter auch in der Bibliothek Deiner Alma Mater frei, weil die entsprechende auf Foucault aufbauende Forschungsliteratur in den Müll-Container wandern könnte. Neben Foucault wären Namen wie Negri, Hardt, Marazzi, Agamben, Juvin, Zizek, Deleuze etc. unter diesen „Verschwörunsgtheoretikern“. Auch hier reiche ich eine komplette Liste gern nach.

Foucault hat sein ganzes wissenschaftliches Leben, eigentlich schon seit The History of Sexuality, Sexualität und Wahrheit dem Machtdiskurs gewidmet. Dies erklärt auch sein späteres Interesse an Thema Gouvernementalität, sprich einer Wissenschaft des Herrschens und der Macht- und Zwangsausübung als Regierungsform seit Machiavelli. Diesem Thema hat er - vor seinem viel zu frühen Tod - auch die letzten Vorlesungen am College de France gewidmet. Biopolitik ist der Begriff, den er dabei zum ersten Mal in die Diskussion eingeführt hat. Biopolitik meint die Herrschaft über jeden einzelnen Menschen und im Rahmen des Neoliberalismus des kleinste Einheit jenes allumfassenden Marktes, der in der Theorie immer effizient ist weil er in Echtzeit für jedes Produkt, jede Dienstleistung, jede Arbeit den richtigen Preis anzeigt. Der ultimative und unfehlbare Prozessor von Informationen aller Art, mithin eigentlich eine Wahrheitsmaschine.

Neue Machttechniken

Entscheidend geholfen hat dabei die Entwicklung des Internets. Gadgets aller Art erleichtern diese Kontrolle und Steuerung. Siehe dazu von mir Nützliche Gadgets oder (Selbst)Kontrolle 24/7 Noch einen Schritt weiter geht der bei Dir in Berlin lehrende Philosophieprofessor Byung-Chul Han u.a. in seinen Buch Psychopolitik-Neoliberalismus und neue Machtechniken oder seinem Essay Die Müdigkeitsgesellschaft. Alles harte wissenschaftliche Denkarbeit. Nix mit Gespenstern und Verschwörungstheorien!

PS. Byung-Chul Han lehrt übrigens an der Universität der Künste Berlin. Die ist 3 Stationen mit der S75 ab Bahnhof Friedrichstraße und dann fünf Minuten zu Fuß vom Campus der Humboldt Universität entfernt. Schafft man leicht in 40 Minuten. Umweltfreundlich mit dem Rad geht’s noch schneller. Durch den Tiergarten bei frischer Luft, da bekommt man den Kopf auch frei. Empfehle Dir mal einen Hörsaalwechsel , um neue Perspektiven zu bekommen. Bei uns „Grummelopas“ (siehe mein Profil) war das übrigens absolut üblich! Ich meine das mit den neuen Perspektiven und dem Hörsaalwechsel.

Geschrieben und hochgeladen zur Geisterstunde am 16.12.2014.