We don't need another hero?
Kann es getrost bis 2021 so weitergehen? Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD). Foto: picture alliance / Sven Simon.
Angela Merkel ist eine gute Kanzlerin - sagt der SPD-Politiker Torsten Albig. Seht ihr das auch so? Oder braucht Deutschland einen Politikwechsel? Die Gedanken sind frei...
Ein Beitrag von Redaktion
Der politische Wettbewerb scheint aktuell wie eingefroren. Und das liegt offenbar nicht nur am Sommerloch. Seit fast schon 2 Jahren stagnieren die Umfragewerte der Parteien. Die Union kommt auf rund 40 Prozent, die SPD auf etwa 25. Grüne und Linke pendeln sich bei 10 Prozent ein. "Deutschland steht still - und fühlt sich pudelwohl" überschreibt Spiegel Online einen Gastbeitrag des Politikwissenschaftlers Ulrich von Alemann (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).
Schleswig-Holsteins SPD-Ministerpräsident Torsten Albig stellt sogar schon infrage, ob seine Partei vor der kommenden Bundstagswahl 2017 einen eigenen Kanzlerkandidaten (oder eine Kandidatin) ins Rennen schicken soll. Merkel mache das "ganz ausgezeichnet", so Albig im NDR-Interview. "Sie ist eine Kanzlerin, wie sie die Deutschen offensichtlich mögen. Ich glaube, es ist schwer, gegen diese Kanzlerin eine Wahl zu gewinnen."
Ist Kanzlerin Merkel alternativlos?
Dieses Stimmungsbild mag manche überraschen. An Streitpunkten für den politischen Wettbewerb scheint kein Mangel. Allein auf Publixphere ringen Politik-Interessierte beispielsweise um die deutsche Euro- und Griechenlandpolitik, Europas Umgang mit Flüchtlingen, christliche Werte in der Familienpolitik und den Überwachungskomplex.
Auch um als Redaktion euren Fragen nachzugehen und andere Politik-Interessierte in unsere gemeinsame Debatte zu holen, möchten wir an dieser Stelle wissen:
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Wie zufrieden seid ihr mit der Politik der Bundesregierung (Große Koalition mit Angela Merkel an der Spitze)?
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Welche Fragen wären für euch echte Streitpunkte für den Bundestagswahlkampf ? Welche Positionen und Profile wünscht ihr euch von den Parteien?
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Sollte die SPD auf eine Kanzlerkandidatin / einen Kanzlerkandidaten verzichten? Ist Angela Merkel als Kanzlerin alternativlos? Oder kann ihr jemand das Wasser reichen?
P.S: Publixphere ist überparteilich. Alle eure verschiedenen Sichtweisen sind im Sinne des gemeinsamen, offenen Austauschs willkommen (Grundlage ist natürlich die Netiquette).
nemo
DIE BLEIERNE ZEIT
„Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ Friedrich Hölderlin: Der Gang aufs Land
Danke Redaktion für die Anregung zu dieser Diskussion. Im Jahr 2021 wird Angela Merkel mit hoher Wahrscheinlichkeit ununterbrochen vier Legislaturperioden – davon die letzte mit absoluter Mehrheit - hindurch im Amt gewesen sein, um sich dann vielleicht nach 16 Jahren (wenn ihre Partei sie denn lässt) aus der aktiven Politik zu verabschieden. Es könnte aber auch sein, dass sie ihren einstigen Mentor Helmut Kohl mit 17 Jahren Amtszeit zu übertrumpfen sucht.
DAS POLITISCHE ERBE
Beide, Kohl und Merkel, werden ein mächtiges und überragend bedeutungsvolles politisches Erbe für Deutschland und Europa hinterlassen, jeder für sich und in der längeren historischen Perspektive auch beide zusammen. Ein Fakt, der häufig übersehen wird.
Der Name Helmut Kohls wird in den Geschichtsbüchern für immer mit der deutschen Wiedervereinigung verbunden sein, der Name Angela Merkels mit der Verankerung des Neoliberalismus als Grundlage in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland und Europa, letztlich durch die Schaffung einer marktkonformen Demokratie nach US-Vorbild.
DER CDU-STAAT
Beide zusammen haben zudem Deutschland erfolgreich in einen CDU-Staat verwandelt. Das Parteiprogramm der CDU und die dahinter stehenden gesellschaftspolitischen Vorstellungen und die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit lassen sich schon jetzt im Deutschland des Jahres 2015 nicht mehr auseinanderhalten. Merkel hat Kohls „geistig-moralische Wende“ weiter- und zu Ende geführt.
2021 werden es dann 40 Jahre sein, in denen die CDU entweder selbst die gesellschaftliche Realität nach ihren Ideen in Deutschland geformt hat oder diese Arbeit sogar von anderen (Gerhard Schröder 1998-2005) erledigen lassen konnte. Es wird dann also 40zigjährige geben, die von realpolitischen Alternativen zu diesem CDU-Staat kaum je etwas gehört haben. Eine ganze Generation, die nie erfahren hat, dass z.B. der Begriff „Reform“ einmal einen völlig anderen Inhalt hatte als heute. Eine Generation die nie vom emanzipatorischen Impetus dieses Begriffes gehört und erfahren hat, dass „Reformen“ die Lebenssituation jedes Einzelnen verbessern kann. Eine Generation, die dies folgerichtig auch nie einfordern wird. Sie und wir alle leben in einer bleiernen Zeit.
Hinzu kommt, dass insbesondere Angela Merkel es geschafft hat Parteien wie die FDP oder die SPD, deren Werte tief geprägt waren von Krieg und Nachkriegszeit, völlig obsolet erscheinen zu lassen, um dann deren Verunsicherung für ihre eigene politische Agenda zu nutzen. Das in den Ländern und Großstädten diese Parteien vorerst noch eine wichtige Rolle spielen ist letztlich für sie unerheblich, da in Deutschland traditionell „top down“ regiert wird. Wo die Musik spielt bestimmt letztlich der Bund.
Der politische Diskurs im Deutschland Angela Merkels ist ein geschlossener, hermetischer Diskurs in den nichts mehr von außen eindringt. Angefüllt mit lauter „endgültigen Wahrheiten“ (von der Rationalität der Märkte, von deutscher Überlegenheit & deutscher Verantwortung in der ganzen Welt etc.) führt er sich als Diskurs so ad absurdum. Es ist nur noch eine Spirale der Machterhaltung, in der jedes Element nur sich selbst und alle Elemente sich gegenseitig verstärken. CDU (Merkel)-Politik wird von den Medien positiv vermittelt, dominiert die öffentliche Meinung, führt zu Wahlentscheidungen, die wiederum die CDU (Merkel)-Politik stärken.
MACHIAVELLI
All das wäre eines echten Machiavelli würdig („Merkiavelli“, so der im letzten Jahr verstorbene Soziologe Ulrich Beck) und ringt selbst politischen Gegnern (wir mir) ein gewisses Maß an Bewunderung ab. (Aber ich muss hier zu meiner Schande gestehen, dass ich es auch genial fand wie der damalige Deutsche Bank Chef „Joe“ Ackermann 2008 um die 50 Milliarden (!) an US-Schrottpapieren durch eine einziges Telefonat mit Angela Merkel noch kurz vor deren Zusammenbruch bei der öffentlich-rechtlichen IKB unterbrachte. Ich wünschte wir Linke würden gelegentlich so eine Chuzpe aufbringen.)
Das alles bleibt aber natürlich politisch völlig unbefriedigend. Für Deutschland und für Europa. Die bleierne Zeit, die sich mit dem Beginn der Kanzlerschaft Merkels über dieses Land legte hat zur Folge, dass keines der Zukunftsprobleme Deutschlands oder Europas nachhaltig gelöst wurde.
In Deutschland geht die Einkommens- und Vermögensschere immer weiter auseinander, Arbeitnehmerrechte und Sozialsysteme werden schleichend demontiert, Altersarmut für weite Teile der Bevölkerung ist vorprogrammiert und die Energiewende z,B. lässt sich Merkel von den privaten Stromkunden bezahlen.
DIE TOTENGRÄBERIN
Noch wichtiger aber: das große Friedensprojekt Europa (Nobelpreis) und die Wertegemeinschaft Europa sind klinisch tot und Angela Merkel hat diesen Exitus bewusst in Kauf genommen, um ihre Agenda einer neoliberalen USA 2.0 in die Realität umzusetzen. Die einmalige historische Chance eines friedlichen, vereinten gemeinsamen Europa auf einem jahrhundertelang vom Krieg zerrissenen Kontinent geopfert zu haben, wird in den Geschichtsbüchern der Zukunft untrennbar mit dem Namen Angela Merkel verbunden sein. Leider und das macht es nicht besser mit der großen Unterstützung der bundesdeutschen öffentlichen Meinung.
DER ALGORITHMUS DER MACHT
Es wäre aber richtig jetzt trotzdem zu sagen: „Yeah man, we do need another hero!“, jemanden, der bereit wäre Pragmatismus über Ideologie zu stellen, der bereit wäre auf fachlichen Rat zu hören, jemanden der bereit wäre alle gesellschaftlichen Gruppen mit in die gesellschaftspolitische Zukunft zu nehmen, jemanden für den Empathie kein Begriff aus der klinischen Psychologie ist und der Mensch nicht nur eine statistische Größe im Algorithmus ihres Machterhalts, schließlich jemanden, der gelegentlich auch das Gespräch sucht mit relevanten Sozialwissenschaftlern oder Philosophen, wie es Willy Brandt oder Gerhard Schröder noch getan haben. Ein Herfried Münkler ist ja wahrlich nicht der Nabel der sozialwissenschaftlichen Welt.
Wo diese Person herkommen soll, weiß ich letztlich auch nicht. Ich weiß nur: sie heißt nicht Sigmar Gabriel.
Nachtrag heute 12:10 h
Mea Culpa
Der oben beschriebene Zustand unserer Republik ist natürlich auch ein eklatantes Versagen meiner Generation! Irgendwann Ende der 70er Jahre hatten wir keine Lust mehr auf die Straße zu gehen, haben uns um Familie & Beruf gekümmert ohne zu sehen, dass wir dieser Gesellschaft auch aktives politisches Engagement schulden. Stattdessen sind wir theorieverliebt in unseren privaten Bibliotheken hocken geblieben. Auch ich. Me Culpa. Macht es besser!