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Adrian Barfuss: Vom richtigen Leben im Falschen


Foto: Anthony DELANOIXDie Sache mit der Freiheit... Foto: Anthony DELANOIX (CC0 1.0)

Leben wir in einem totalitären kapitalistischen System, in dem wir uns selbst zwanghaft ausbeuten und zugrunde richten? Ewig unzufrieden in der Müdigkeitsgesellschaft? Adrian Barfuss Unsere Zeit hinterfragt den aktuellen Pessimismus mancher Kulturkritiker. Ist unsere Freiheit eben auch eine Zumutung?


Ein Beitrag von Adrian Barfuss Unsere Zeit , erstmals erschienen auf dem Blog: Unsere Zeit - Gedanken zur Gegenwart


In der deutschen Medienlandschaft stößt man in letzter Zeit immer wieder auf WissenschaftlerInnen und Intellektuelle, die unter dem Label „Kulturkritik“ Analysen vorlegen, nach denen man erstmal eine Folge South Park braucht, um wieder entspannt lachen zu können. Die bekanntesten Namen unter diesen Pessimisten sind wohl Hartmut Rosa und Byung-Chul Han, die in verschiedensten Formaten ihre Thesen von einer schlechten Gesellschaft zum Besten geben, die uns Individuen den Weg zum Lebensglück versperrt. Die individuelle Überzeugung und Unzufriedenheit Rosas, Hans und vieler anderer Menschen kann ich kaum kritisieren, ich will hier aber darlegen, warum ich glaube, dass man auch anders an das Problem individueller Unzufriedenheit herangehen kann. Und ich bin der Meinung, dass man damit näher an die Ursache und zumindest mein individuelles Erleben herankommt.

Scheinfreiheit

Als Beispiel möchte ich die Perspektive Byung-Chul Hans wählen. Han zeichnet ein sehr düsteres Bild unserer Gesellschaft: Diese ist von der Ideologie des Neoliberalismus durchdrungen, der die Ursache dafür ist, dass man sich an dieser Welt nicht mehr freuen kann. Die Menschen sind nur noch „Unternehmer ihrer Selbst“ und als solche beuten sie auch ihre Psyche und ihren Körper in kapitalistischer Manier aus, um sich stetig selbst zu optimieren und immer produktiver zu werden. Für Entspannung, Genuss oder gar Glücksempfindungen ist demnach kein Platz mehr, wenn das Fitnessarmband anzeigt, dass man heute noch 1000 Schritte zu tun hat, während der nächste Arbeitsauftrag per Mail auf das Smartphone gesendet wird:

„Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.“

Dieses Zitat stammt aus einem Interview mit Han und verdeutlicht, dass er die äußere Freiheit als einen Euphemismus für einen Zwang zur Selbstausbeutung sieht, dem man sich nicht entziehen kann, sondern der Teil des Systems (bzw. der Gesellschaft) ist: Er sieht in der heutigen Gesellschaft ein totalitäres kapitalistisches System, dessen psychologische Herrschaftstechnik so ausgefeilt ist, dass sich seine Mitglieder selbst an ihrer Arbeit zugrunde richten und sich jeder Freude berauben. Wir wollen immer produktiver werden. Widerstand ist zwecklos, denn man ist nun beides zugleich – Lehnsherr und Knecht seiner selbst – und hat daher kein Gegenüber mehr, gegen welches man Widerstand leisten könnte. In seinem Essay Müdigkeitsgesellschaft wählt Han gar die drastische Metapher eines „Arbeitslagers“, das jeder moderne Mensch mit sich selbst herumtrage und dessen Insasse und Aufseher er zugleich sei. Der Zusammenbruch dieses Systems ist der einzig verbliebene Hoffnungsschimmer, auch wenn dieser durch den bitteren Beigeschmack der eigenen Bedeutungslosigkeit in diesem Prozess nahezu ungenießbar wird. Ganz offensichtlich ist Han selbst von dieser Perspektive absolut überzeugt, denn er gibt im Interview auch an, dass er sich in dieser Welt nicht mehr freuen könne.

Als sicheren Indikator dafür, dass diese Analyse zutrifft, zitiert Han Phänomene wie Burnout, die steigende Zahl von Depressionen und den Anstieg des individuell wahrgenommenen Stresslevels. Diese seien Ausdruck des goldenen Käfigs, der sich „Leistungsgesellschaft“ nenne und das Individuum solange zur Selbstausbeutung dressiere, bis es schließlich erschöpft und depressiv zusammenbricht.

Eine Betaversion von Freiheit?

Ich habe meine Probleme mit Hans Analyse. Zum einen denke ich, dass sich der nicht-depressive Großteil der Bevölkerung Deutschlands und anderer reicher Staaten kaum in ihr wiederfinden wird. Insofern hat diese Analyse eine beschränkte Reichweite. Hinzu kommt, dass sie eine recht polemische Sprache wählt, denn die These, dass man heutzutage sein privates „Arbeitslager“ mit sich herumtrage, ist nur als Dramatisierung zu rechtfertigen und hat wohl kein angemessenes Pendant in der Wirklichkeit. Schließlich glaube ich – und das ist der wichtigste Punkt – dass Han und andere Kulturkritiker es sich zu leicht machen, wenn sie die Freiheit des Individuums einfach negieren und daraus einen „Zwang“ machen. Diese Betrachtung hat nämlich zwei entscheidende Probleme: Sie zwingt dazu, das Problem individueller Zufriedenheit als rein strukturell bedingt (und daher auch nur strukturell lösbar) zu betrachten und zeichnet gleichzeitig ein viel zu romantisches Bild der Freiheit. Denn gerade in der objektiven Freiheit vermute ich den Grund, warum dann doch viele Menschen (mich nicht ausgenommen) durch selbstgemachten Stress unzufrieden werden: Wir können nicht nein sagen zu den vielen Möglichkeiten, die wir haben.

Betrachtet man die historische Entwicklung, so ging es den Menschen auf dieser Welt materiell noch nie so gut wie heute. Dies gilt insbesondere für die entwickelten Industriestaaten, die man vornehmlich in Nordamerika und Nordeuropa findet. Unter diesen reichsten Ländern der Welt ist Deutschland sicherlich noch eines der positivsten Beispiele. Den Einwohnern und Einwohnerinnen dieses reichsten Teils der Erde geht es im historischen und im globalen Vergleich ungemein gut: Sie leben länger und gesünder, genießen viele politische und individuelle Freiheiten sowie eine sehr gute und günstige Bildung – Dinge, die nicht nur vor 100 Jahren, sondern auch heute in vielen Regionen der Erde Mangelware sind.

In ökonomischer Hinsicht gehört das durchschnittliche europäische Einkommen in die absolute Spitzengruppe (hier selber nachprüfen): Ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt nach wie vor von bis zu zwei Dollar am Tag (1,76 €). Die betroffenen Menschen müssen nahezu all ihr Geld für Essen aufbringen, während in Deutschland durchschnittlich nur ca. 14 Prozent des Einkommens für Essen aufgewendet werden (1950 waren es noch ca. 40 Prozent) – rechnet man die durchschnittlichen 35 Prozent heraus, die für Wohnen und Energie aufgewendet werden, dann bleiben noch immer sagenhafte 50 Prozent des Durchschnittseinkommens übrig, die nicht zur Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnisse aufgewendet werden.

Nimmt man dieses Bild zusammen, dann wird deutlich, dass die materiellen Voraussetzungen dafür, sein individuelles Leben frei von Leid und materieller Not zu führen, in Deutschland und anderen reichen Ländern der Erde historisch und global gesehen kaum besser waren bzw. sein könnten. Denn das hohe Maß an materieller Unabhängigkeit, Bildungsmöglichkeiten und gesundheitlicher und sozialer Versorgung schafft ein großes Maß an Freiheit, um sein ganz individuelles Leben zu führen. Die Tücke dieser Freiheit liegt jedoch darin, dass man erst lernen muss, damit umzugehen. Für Han ist dieser Punkt einfach geklärt: Da wir unterbewusst ideologisch indoktriniert sind, können wir nicht anders, als uns beim Schaufeln des Grabes für unser Wohlbefinden kaputtzuarbeiten.

In meinen Augen ist diese Perspektive geradezu absurd, denn wenn es in den heutigen entwickelten Volkswirtschaften nicht für einen großen Teil der Bevölkerung möglich sein sollte, ein zufriedenes Leben zu führen, dann bin ich mir relativ sicher, dass es nirgendwo und zu keiner Zeit bisher möglich war. Wenn das wiederum stimmen sollte, dann ist die „bessere Welt“, die Hans negative Analyse – zumindest als implizite Kontrastfolie – mitführt, eine reine Utopie. Es ist ein fiktiver Idealzustand, aus dem wir nur deshalb herauskatapultiert wurden, weil wir in den sauren Apfel der Erkenntnis gebissen haben, dass man diese Welt mit einer pessimistischen Brille analysieren kann. Ähnlich wie in der christlichen Theologie folgt auch bei Han aus der Kontrastierung der Welt mit einem fiktiven Idealzustand eine Falschheit dieser Welt, die so grundsätzlich ist, dass sie nur durch die Apokalypse zu beheben ist. Was das Bild Hans gegenüber dem biblischen noch verschärft, ist dabei die Tatsache, dass wir heute gar nicht mehr „richtig“ handeln können, weil wir Opfer unseres Unterbewusstseins sind – die Bibel verheißt wenigstens den frommen Menschen im Ernstfall noch ein Ticket ins Paradies und definiert, was „fromm“ bedeutet. Insofern ist Hans Analyse eine sehr plausible Anleitung zum Unglücklichsein, die genau deshalb funktioniert, weil er negiert, dass man die Welt auch anders betrachten kann.

Die Analyse Hans beginnt und endet also mit der Negation der Freiheit: Sie baut auf der Annahme auf, dass man die Welt nur pessimistisch betrachten könne und schließt damit, dass die Menschen unfrei sind. Wenn man diese Annahme infrage stellt, dann wird eine sehr viel weniger deterministische Lesart der Welt möglich, die wahrscheinlich näher am individuellen Erleben ist. Denn indem Han die Freiheit, sich einen Fitbit zu kaufen, einfach „Zwang“ nennt, kommt er binnen einer Zeile von den westlichen Konsumgesellschaften in ein „fiktives Arbeitslager“. Die eher mäßigen Amazon-Rezensionen von Fitnessarmbändern legen zwar wirklich nahe, dass diese nicht unmittelbar zufrieden machen, bei einem Interview würden die meisten Menschen aber wohl angeben, dass sie das Armband freiwillig bestellt haben. Wenn man Freiheit und Freiwilligkeit nicht als Begriffe definiert, die nur Intellektuellen in ihrer „wahren“ Natur zugänglich sind, während sich das gemeine Volk mit der massenmedial verbreiteten Betaversion zufrieden gibt, dann stößt Hans Perspektive einer unfreien Gesellschaft also recht schnell an die Grenze ihrer empirischen Reichweite.

Freiheit als Zumutung

Freiheit, oder zumindest „wahre Freiheit“, ist aber der Kern von Hans positiver Utopie, mit der er unsere heutige „Leistungs-“ bzw. „Aktivgesellschaft“ kontrastiert. Es ist jedoch alles andere als klar, dass Freiheit dazu führt, dass man sich einfach entspannt und zufrieden zurückzulehnen und die Dinge ihrem Lauf überlassen kann. Denn Freiheit besteht im wesentlichen darin, zu etwas nein sagen zu können, ohne sich dafür vor jemandem anderes als sich selbst verantworten zu müssen. Und damit bedeutet mehr Freiheit auch immer, sich entscheiden zu müssen, wo man es vorher nicht musste. Man muss sich entscheiden, was man anzieht, was man studiert, wo man arbeitet, was man isst, welches Handy man kauft, was für Musik man hört, ... und man erlebt immer wieder, dass einem andere Menschen dieses Verhalten als Entscheidung zurechnen, obwohl man es selbst nicht notwendig als eine solche erlebt hat. Das geschieht dann, wenn man sich over- oder underdressed fühlt, oder wenn man ganz selbstverständlich eine Flasche Wein mitbringt, ohne überhaupt zu wissen, dass dieser vegan oder nicht vegan sein könnte: Man „tut einfach“ und plötzlich kommt jemand und macht einen darauf aufmerksam, dass man auch anders hätte tun können und fordert eine Begründung für diese „Entscheidung“.

Das Internet verschärft diesen Rechtfertigungsdruck noch. Die Selbstdarstellungen von Facebook-Freunden (die manchmal etwas glatter erscheinen als die Realtität) werden einem in der Timeline permanent vor Augen gehalten. So sehe ich die Fotos von Leuten, die an renommierten Universitäten studieren, um die Welt reisen, Langstreckenläufe absolvieren und Abschlussarbeiten abgeben. Und jedes Mal könnte man sich fragen, ob das, was man da sieht, nicht viel erstrebenswerter wäre und einen selbst viel zufriedener machen würde, als das, was man im Moment tut. Und wenn man an einem schlechten Tag mal zu dem Schluss kommt, dass man hier und da wirklich etwas anderes hätte machen können, dann erscheint es umso anstrengender, wenn man das nächste Mal gefragt wird, warum man denn immer noch in einer relativ unspektakulär klingenden Großstadt in Ostwestfalen-Lippe wohnt und nicht zumindest schon das Ticket nach New York gebucht hat.

Das kann unzufrieden machen. Und es macht mich zuweilen auch unzufrieden. Doch ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Weise hilft, die Benutzung von Facebook, das Tragen eines Fitbits oder das Buchen einer Interkontinentalreise deswegen als moralische Kategorien aufzufassen. Im Zweifelsfall sitzt am anderen Ende des Glasfasernetzes ein Mensch, der ebenso mit der Freiheit ringt und nun einfach mal ausprobiert, ob man in drei Monaten Indien glücklich wird. Der Soziologe Dirk Baecker hat in einem Interview einmal gesagt, es ginge in der Psychotherapie darum, eine „lose Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft“ zu erreichen: Einen Modus, indem man das, was man in diesem Leben sozial erreichen kann, und das, was man in diesem Leben erreichen will, überein bringt und nicht ständig damit beschäftigt ist, sich an der Utopie eines glücklichen Ichs zu messen, das dreisprachig aufgewachsen ist und nun im Unternehmen XY eine viel besser dotierte Stelle hat als man selbst.

Wenn man also nicht darauf bauen kann, dass wir unfrei sind, dann muss man sich der Freiheit stellen. Han hat insofern Recht, als dass sie eine Zumutung sein kann und dass es für einen selbst, wenn man gerade mit einer kurz- oder langfristigen negativen Verstimmung zu kämpfen hat, kaum angenehm ist, wenn man davon ausgeht, dass es in der eignen Verantwortung liegt, aus diesem Loch wieder herauszukommen. Es ist aber anerkanntes Prinzip jeder Therapie, dass der betroffene Mensch ein Problem erst als sein eigenes Problem annehmen muss, um es bearbeiten zu können.


Links zu ähnlichen Fragen


Kommentare

  • Glück ist subjektiv! Es gibt glückliche Arme und unglückliche Reiche! Das war meine Totschlag-Binse zum Thema :)

    P.S: Aber es ist aufregend das alles zu lesen, die verlinkten Artikel und den hier. Macht glücklich :)

    • Adrian Barfuss Unsere Zeit ist dafür
      +1

      Hallo sahrasahara,

      freut mich, dass dich der Beitrag glücklich macht. Meine Intention war eigentlich auch, die Subjektivität des individuellen Glücksempfindens herauszustellen. Die objektiv wirklich sehr günstigen Bedingungen in den modernen entwickelten Gesellschaften unterstützen diese These m. E. in der Hinsicht, dass sie zeigen, dass Glück nicht mehr an diesen Bedingungen scheitert – sondern an unserem Umgang mit ihnen.

  • FelixP ist dafür
    +2

    Hallo Adrian, vielen Dank für deinen ausgezeichneten Beitrag! Ich hab die Links und die Tiefgründigkeit sehr genossen. Es ist nur vielleicht ein bisschen lang!... Aber das ist nicht schlimm.

    Ich bin mit dir einverstanden: der Sturz des Systems als "einziger Hoffnungsschimmer" zu sehen ist zu pessimistisch! Das ist natürlich eine mögliche Lösung, aber im System viele kleine Alternativen zur Selbstausbeutung zu shcaffen ist auch eine glaubwürdige Option. Das bietet sich natürlich zuerst für Gutverdienende an, weil sie den Luxus haben, nicht die ganze Zeit arbeiten zu müssen. Da spreche ich aus eigene Erfahrung: ich arbeite nur in Teilzeit, und verdiene aber damit genug, dass ich in der restlichen Zeit viel Anderes machen kann.

    Aber diese Lebensweise ist letztendlich für eine große Anzahl an Leute sogar hier in Deutschland möglich. Viele in Deutschland sind Studenten, oder arbeiten wenig aus verschiedenen Gründen. Sie können zum Beispiel kostenfreie Leistungen in einem e.V. anbieten, wie in der Berliner Obdachlosenhilfe, oder durch Crowdfunding und Mitgliederbeitrag Initiativen unterstützen, die nicht an Wachstum und Ergebnisse arbeiten wie Publixphere und Abgeordnetenwatch. Das sprichst du selber zu Recht an.

    Genauso sehe ich das, dass wir in einer Kultur leben, wo die Arbeit sehr hoch angesehen wird, und in diesem Sinne "indoktriniert" sind. Man muss lernen, und ich inklusive, damit umzugehen. Ich habe dass Gefühl, dass du aus eigener Erfahrung sprichst, stimmt das?

    Und ja, wir können uns wirklich auf unsere Epoche freuen, wo es im Vergleich recht einfach ist, gut zu leben. Das ist auch die Botschaft der Refugees, die das Stück The Situation im Gorki Theater aufführen. Sie sind damit übrigens sehr erfolgreich :) und die Shows sind bis Mitte Januar ausgebucht.

    Viele Grüße, FelixP

    • Sind wir wirklich alle reich?

      Lieber Felix, das ist ein schöner Ausblick. Bis aber alle den Luxus haben, sich zu verwirklichen, ist es noch ein weiter Weg.

      Ein wenig stören mich bei Adrian die Durchschnittszahlen. Sicher im Durchschnitt ist Deutschland sehr reich. Aber einige horten die Milliarden. Wenn Du Dich als urbaner Penner im Urheber-Prekariat durchwurstelst wirst Du irgendwann einen Schreck bekommen, wenn Du Post von der Rentenversicherung bekommst. Da steht dann: Wenn Sie so weitermachen, haben Sie Anspruch auf 300 Euro Rente im Monat. Dann denkst Du, ach wäre ich doch Arzt, Polizist oder Busfahrer geworden. Es sei denn Du hast reiche Eltern und kannst Dir das alles leisten.

      • Adrian Barfuss Unsere Zeit ist dagegen
        +2

        Hallo Katta,

        die Kritik mit den Durchschnittszahlen akzeptiere ich gern: Schließlich sagen sie nicht nur etwas aus, sondern verdecken auch eine Menge. Aber ich glaube, dass der von dir zitierte 300€-Renten-Fall noch viel weniger repräsentativ und aussagekräftig ist, als meine Durchschnitte. Denn auch wenn man den Wohlstand demographisch noch weiter Aufschlüsselt wird klar, dass Menschen in Deutschland verdammt reich sind: ca. 70% der Individuen verfügen über ein Nettoäquivalenzeinkommen von mehr als 1250 € monatlich Netto. Das ist nicht die Welt, aber global gesehen eine Menge. Meine Überzeugung ist demnach, dass (und hierzu könnte man den neuen Post auf Unsere Zeit lesen) die Diskussion über soziale Ungleichheit stark national gerahmt ist. Eine globale Perspektive ist in der heutigen Zeit m. E. aber die angemessenste. Um materielle Not weiterhin im Blick zu behalten ist die Kategorie "absolute Armut" dann besser geeignet als "soziale Ungeleichheit": wer zu wenig zum Leben hat, der kann schwer zufrieden sein. Arm ist man aber nicht, wenn man einen billigeren Wagen als jemand anders fahren muss, oder nur ein mal im Jahr ans Mittelmeer fliegen kann. Eine Frage, die sich an meinen Post anschließen könnte – die jedoch jeder Mensch für sich beantworten muss – ist: (warum) brauchen wir heute in Deutschland so viel, oder: wieviel von unserem unverzichtbaren Konsum ist unverzichtbar?

        Das heißt nicht, dass soziale Ungleichheit kein Problem ist und dass es nicht auch in Deutschland und der EU viele Menschen gibt, die um ihr ökonomisches Überleben kämpfen. Das Problem mit dieser Ungleichheit besteht m. E. jedoch in ihrer national(istisch)en Politisierung. Laut bpb ist die Einkommensverteilung in den letzten 25 Jahren auch gar nicht so instabil gewesen. Trotzdem taugt sie zur Mobilmachung gegen Flüchtlinge und "Superreiche" – was weder die eigene Zufriedenheit noch die der so bezeichneten Menschen steigert. Und sie verdeckt, dass auch eine gleiche Verteilung des Reichtums in Deutschland einen global gesehen kaum zu rechtfertigenden (Klimawandel, Hunger) Reichtum darstellte.

        Gruß, Adrian

        • Ja das stimmt :). Aber was meinst Du mit Mobiliserung gegen Superreiche? Ich finde Superreichtum macht gar keinen Sinn, weder national noch global betrachtet. Niemand braucht 2 statt 1 Millarde Euro, echt nicht. Also kann es einen Cut geben um die Ressourcen und Lebenschancen, die sich hinter dem Nullen auf dem Schweizer Konto verbergen freizusetzen. Es ist schon unerträglich wenn der eine die Ressourcen zum Überleben braucht, aber nicht hat, der andere nicht weiß wohin damit. Noch einen Rolls Royce? Gibts den Trüffel nicht noch teurer? Polemik over.

          • Hallo ihr beide,

            Wo wir gerade bei der globalen Verteilungsgerechtigkeit sind. Thorsten Wiesmann (der hier nebenan jüngst zur Post-Postmoderne geschrieben hat), macht uns auf ein Interview mit dem Nachhaltigkeitsforscher Reinhard Loske aufmerksam. Spiegel Online fasst es so zusammen:

            Loske sieht das Ende der globalen Wachstumspolitik gekommen. Er prophezeit, dass künftig allein der Klimawandel Hunderte Millionen Menschen in die Flucht treiben wird. Um den Planeten zu retten, müsse die globale Wirtschaft daher schnellstmöglich neu ausgerichtet werden: Nur noch Entwicklungsländer sollten wachsen dürfen, zudem müsse der CO2-Ausstoß radikal gesenkt werden.

            Liebe Grüße! Alex

  • Geehrter Herr Barfuss,

    Ihr Beitrag ist anspruchsvoll zu lesen, regt aber zum Nachdenken an.

    Nur einen Punkt will ich herausgreifen: Ich glaube nicht, dass "die christliche Theologie...aus der Kontrastierung der Welt mit einem fiktiven Idealzustand eine Falschheit dieser Welt, die so grundsätzlich ist, dass sie nur durch eine Apokalypse zu beheben ist", konstruiert.

    Hingegen: Das "verlorene Paradies" leuchtet durch. "Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch" Lukas 17,21 Im Glauben: Gottes Schöpfung ist grundsätzlich gut (1. Mose 1,31) In der Liebe als geglückte Beziehung (I. Kor. 13) In der Hoffnung: Hoffnungszeichen wie Frieden, Versöhnung punktuell wieder hergestellt zu haben, lassen positiv denken und positiv auf die Zukunft hinarbeiten. Davon gibt es unzählige Geschichten im Alten und im Neuen Testament.

    Die Apokalypse als letztes Buch der Bibel ist nicht die Mitte der Schrift und ist nicht Ausdruck ihres Lebensgefühls. Bis heute ist strittig, ob sie überhaupt in den Kanon gehören dürfte.

    Im Judentum wie im Christentum: der Mensch soll und darf jetzt schon glücklich sein.

    • Adrian Barfuss Unsere Zeit
      +1

      Hallo Doro,

      diese Interpretation der Bibel will ich gar nicht bestreiten. Schließlich hat jeder Mensch das Recht, seine ganz eigene Interpretation und sein ganz eigenes Lebensgefühl daraus zu ziehen. Traditionell beinhalten aber die "institutionalisierten" theologischen Deutungen in vielen christlichen Glaubensströmungen eigene Ideen der Erwartung eines besseren "Jenseits" (Eschatologie). Daran kann und darf man natürlich glauben – oder nicht. Ich persönlich empfinde die Idee einer unendlich hohen Messlatte für das "Diesseits" als ziemlich deprimierend, denn gerecht werden wir dieser Messlatte wohl nie.

      • Hallo Adrian Barfuss,

        Mir geht es genau so. Auch "ich empfinde die Idee einer unendlich hohen Messlatte für das "Diesseits" als ziemlich deprimierend, denn gerecht werden wir dieser Messlatte wohl nie."

        Nein, gerecht werden wir ihr nie. Aber gerade im Protestantismus wird sie uns permanent angelegt. Jeder Text des Alten und Neuen Testaments wird ethisch ausgelegt. In Richtung Nächstenliebe. Im "notleidenden" Nächsten begegnet uns Gott bzw. der Gekreuzigte. Das höhlt aus.

        Sich geliebt fühlen von Gott bedeutet doch zunächst einmal, dass die eigene verkrustete Seele aufgebrochen wird für den Mut, authentische positive Gefühle zu zeigen und zu leben.

        In einer gebrochenen Welt. Es geht gar nicht anders, als dass man sich schuldig macht. Auch das weiß Gott. Luthers Erkenntnis des "simul justus et pectator" ist sehr tief. "Sündige tapfer, glaube tapferer".

        Das Leben im Hier und Jetzt ist schön. Aber das Glück ist nicht ohne das Gegenteil zu haben. Christen haben einen wirklich barmherzigen Gott.

        Mit freundlichen Grüßen! Doro

    • Danke Doro für diese frohe Botschaft!

      Ich bin sehr für eine lebensbejahende Einstellung. Auch ein philiophisches Miesmachen und Nihilismus können einem ständig den Tag versauen. Aber wozu? Das Leben ist zu kurz um immer Trübsal zu blasen!

      • Liebe sahrasahara,

        Ja, das finde ich auch!

        Dennoch kann einem ein Beitrag wie der von Herrn Barfuss natürlich helfen zu sagen, das will ich nicht, diese Depression will ich nicht, und die Augen zu öffnen: "Das Leben ist (trotz allem) schön!"

        Gruß! Doro