Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus - Historie

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  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux Hier geht's zum ganzen Album.

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen für Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'European Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. Zehn UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (Gelangweilt hat (Langweilig wurde uns das Thema auf jeden Fall nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Vollständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie muss reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch auszudiskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Kraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen EU-System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt sich in Verschwörungstheorien zu verlieren? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen Sonntagsreden über Europa erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses leichte Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich am Ende so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Warum Europa? Warum Politik? Warum Wirtschaft?

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur den eigenen Vorteil suchen. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...

    P.S: Das Gegenstück zur Utopie, unser Europa-Schreckens-Szenario haben wir im September in Berlin diskutiert. Einen Bericht findest Du hier. Im November haben sich StudentInnen in Lüneburg Gedanken zur Zukunft Europas gemacht.


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux Hier geht's zum ganzen Album.

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen für Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'European Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. Zehn UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (Langweilig wurde uns das Thema auf jeden Fall nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Vollständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie muss reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch auszudiskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Kraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen EU-System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt sich in Verschwörungstheorien zu verlieren? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen Sonntagsreden über Europa erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses leichte Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich am Ende so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Warum Europa? Warum Politik? Warum Wirtschaft?

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur den eigenen Vorteil suchen. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...

    P.S: Das Gegenstück zur Utopie, unser Europa-Schreckens-Szenario haben wir im September in Berlin diskutiert. Einen Bericht findest Du hier. Im November haben sich StudentInnen in Lüneburg Gedanken zur Zukunft Europas gemacht.


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux Hier geht's zum ganzen Album Link: https://www.facebook.com/media/set/?set=a.660536477422095.1073741854.196929410449473&type=3 .

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen für Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'European Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. Zehn UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (Langweilig wurde uns das Thema auf jeden Fall nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Vollständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie muss reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch auszudiskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Kraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen EU-System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5 5t

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt sich in Verschwörungstheorien zu verlieren? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen Sonntagsreden über Europa erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses leichte Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich am Ende so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Warum Europa? Warum Politik? Warum Wirtschaft?

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur den eigenen Vorteil suchen. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...

    P.S: Das Gegenstück zur Utopie, unser Europa-Schreckens-Szenario haben wir im September in Berlin diskutiert. Einen Bericht findest Du hier Link: https://publixphere.net/d/2218 . Im November haben sich StudentInnen in Lüneburg Gedanken zur Zukunft Europas Link: https://publixphere.net/i/publixphere-de/milestone/405 gemacht.


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen für von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'European Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. Zehn UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (Langweilig wurde uns das Thema auf jeden Fall auf jeden fall nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Vollständigkeit... Volständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie muss reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, Mitgliedländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch auszudiskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Kraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen EU-System System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5t

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt sich in Verschwörungstheorien zu verlieren? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen Sonntagsreden über Europa erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses leichte Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich am Ende so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Warum Europa? Warum Politik? Warum Wirtschaft?

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur den eigenen Vorteil suchen. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'European Dream Link: https://publixphere.net/d/2255 ' 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. Zehn 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (Langweilig (langweilig wurde uns auf jeden fall nicht!). nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Volständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie muss musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den Mitgliedländern, denMitgliedländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch auszudiskutieren. zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Kraft Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5t 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt sich in Verschwörungstheorien zu verlieren? in Verschwörungstheorien abzugleiten? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen Sonntagsreden über Europa europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses leichte kleine Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich am Ende so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Warum Europa? Warum Politik? Warum Wirtschaft?

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil suchen. aus sind. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Schurken Bösewicht aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang statt den geplanten drei (langweilig wurde uns auf jeden fall nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben also ohne Anspruch auf Volständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen denMitgliedländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt in Verschwörungstheorien abzugleiten? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses kleine Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil aus sind. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Foto: Mirko LuxNachts in der Uni Cottbus: UtopistInnen bei der Arbeit. Foto: Mirko Lux Link: http://mirkolux.de/

    An Krisen mangelt es aktuell nicht. Doch gibt es auch eine schöne Utopie von Europa, auf die wir hinarbeiten wollen? Wie wäre es mit möglichst mündigen und aufgeklärten BürgerInnen? Alex schildert seine Eindrücke von "EUTOPIA: Share your visions dude!" in Cottbus...


    Ein Beitrag von Alexander Wragge


    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Bösewicht aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er dauerte fünf Stunden lang ging fünf Stunden statt den geplanten drei (langweilig wurde uns auf jeden fall nicht!). (langweilig wurde uns nicht!). Die folgenden Eindrücke bleiben sind also ohne Anspruch auf Volständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen denMitgliedländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt in Verschwörungstheorien abzugleiten? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses kleine Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil aus sind. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...


    Weiterführende Links rund um's Thema

  • Mensch statt Maschine - Ein Unser utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Ein Beitrag von Alexander Wragge

    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Bösewicht aus Star Wars auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er ging fünf Stunden statt den geplanten drei (langweilig wurde uns nicht!). Die folgenden Eindrücke sind also ohne Anspruch auf Volständigkeit...

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Unsere Utopie musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen denMitgliedländern, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert?

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU aktuell zurückbauen wollen?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem ersten Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere...

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind wir da zu übergriffig und diktatorisch? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und in Vorurteile und Hass umschlägt? aggresiv macht?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt in Verschwörungstheorien abzugleiten? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten).

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sich als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses kleine Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil aus sind. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht hier zur freien Diskussion...


    Weiterführende Links rund um's Thema


    Links rund ums Thema

  • Mensch statt Maschine - Unser utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Ein Beitrag von Alexander Wragge

    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Bösewicht aus Star Wars Lord des dunklen Imperiums auf unsere Visionswand geklebt, samt schwarzem Helm und unheimlicher Helm und schwarzer Atemmaske. Utopist Mirko sollte erraten warum. versuchte sich an einer Interpretation. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist diese Botschaft dieses Bildchen noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken wollen, rücken, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Wie kamen wir zu so tiefsinnigen wie komischen Gesprächen? Was ist hier passiert? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive der Jungen Europäische Bewegung Berlin-Brandenburg, des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg Link: https://www.facebook.com/jeb.de/timeline , Cottbus, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community Link: https://publixphere.net/i/publixphere-de/user . Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Interessierte Europa-Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen zu europäischen Fragen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir ganz neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er ging natürlich wieder fünf Stunden statt den geplanten drei (langweilig wurde uns nicht!). drei. Die folgenden Eindrücke sind also ohne Anspruch auf Volständigkeit... sehr selektiv, geteilt seien sie trotzdem.

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetracht Anbetrachtet der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung: Bedingung. Unsere Utopie musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Gefahr? Kriege und Elend in Europas Nachbarschaft? Terror-Krise? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn er vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen der EU. Schwächen. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen denMitgliedländern, den EU-Staaten, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerät gerate im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Republik. Wäre das die Lösung? Ein europäischer Staat, in dem Reüublik, in denen ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert? kontrolliert.

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit durchlebt. Der gewohnte erlebt. Der Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Speziell wenn erstarkende Nationalisten, Souveränisten und Identitäre die EU zurückbauen wollen? Worauf arbeiten wir hin?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die das sowas für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht? Muss es jetzt eher um System-Verteidigung gehen statt um Reformdebatten?

    Unsere Nr. 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten sie/ihn also einfach Nr. 5. ihn also einfach „Nr. 5“.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Sie/er Er/Sie ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Sie/er Er/Sie ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen, der Gesellschaft und fremden Argumenten gegenüber. Nr. 5 Menschen und der Gesellschaft gegenüber. Nr.5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Sie/er ist in der Lage, Er/sie kann die Kategorien kritisch zu hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Muslimen Flüchtlingen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Sie/er Er/sie denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Sie/er Er/sie kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Sie/er Er/sie lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere... andere.

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder sind denken wir da zu übergriffig und diktatorisch? eng? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände gänzlich verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und aggresiv macht?

    Auch bei der Frage des Wissens und der Informiertheit hingen wir etwas fest. Müssen alle BürgerInnen in der Gesellschaft alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Indem sie vernünftig recherchieren, statt in Verschwörungstheorien abzugleiten? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Wertvorstellungen Altbekannte Werte – reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen, versiert im Umgang mit Informationen ... offen... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäisch geprägten europäischen Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst dafür tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die uns unser utopischer Abend allen LeserInnen dieses Textes beschert hat (im beschert hat ('im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten). Antworten').

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa.

    Viele unserer Botschaften werden an die üblichen europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sich sie als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hat, hatte, nach vielen Stunden der Diskussion auf (altbekannte) Diskussion auf diese altbekannten (europäischen) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken diese sie gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Dieses kleine Glücksgefühl habe ich zumindest empfunden, als ich so auf unsere Utopie-Wand guckte. Ein paar unserer Wünsche für Europa Nebenbei: das macht Spaß.Ein paar unser Wertvorstellungen für das Europa der Zukunft seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen.

    Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' nicht vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil aus sind. denken. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologisierende psychologische Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich einfach so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei partizipativen Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, sie befähigen und glücklich machen. Darin darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht nun hier zur freien Diskussion...


    Links rund ums Thema

  • Mensch statt Maschine - Unser utopischer Abend in Cottbus

    von Alexander Wragge, angelegt

    Ein Beitrag von Alexander Wragge

    Was hat Darth Vader in unserer Europa-Utopie verloren? Das fragten wir uns irgendwann spät abends in der ansonsten menschenleeren Uni Cottbus. Utopist Jan hatte den Lord des dunklen Imperiums auf unsere Visionswand geklebt, samt Helm und schwarzer Atemmaske. Utopist Mirko versuchte sich an einer Interpretation. Das Böse gehört in unserem Wunsch-Europa auch dazu? Wir können die dunkle Seite der Macht selbst in einer perfekten Welt nicht einfach ausschließen, sondern müssen damit leben? Oder vielleicht ist dieses Bildchen noch hintersinniger. Immerhin ist Darth Vader überraschender Weise der Vater von Luke Skywalker. Vielleicht sollten wir uns als EuropäerInnen mal mit unserer Herkunft befassen, auch mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, zum Beispiel mit dem Kolonialismus...

    Schließlich erklärte Jan selbst, warum er das Darth-Vader-Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufkgeklebt hatte. Der Grund war die Bildunterschrift. Dort stand: „Mensch statt Maschine.“ Und das hatte Jan aus unseren vorangegangen Diskussionen mitgenommen. Dass wir den Menschen in den Mittelpunkt rücken, nicht das Abstrakte, Technische, Systemische.

    Aber von Anfang an. Was ist hier passiert? Anfang Dezember waren wir in Cottbus. Wir, das waren Aktive der Jungen Europäische Bewegung Berlin-Brandenburg, des Fachschaftsrats Kultur und Technik der Uni Cottbus, sowie Mirko und ich von der Publixphere-Community. Der Titel des öffentlichen Diskussions-Abends: "EUTOPIA - Share your visions, dude!". Der Plan: ein offenes, öffentliches Gespräch über unsere Wunschvorstellungen von Europa.

    Warum haben wir das gemacht? Weil wir mal raus wollten aus der Berlin-Europa-Bubble. Weil sich Europa-Interessierte in Cottbus mehr Veranstaltungen wünschen. Weil die technisch-gestalterisch talentierten Studentinnen in Cottbus vielleicht einen anderen Blick haben, auf das Europa der Zukunft. Weil die Europa-Debatte aktuell eine Multi-Dauer-Krisen-Debatte ist, und die Frage 'Was erträumen wir uns eigentlich?' fast verschüttet und vergessen scheint. Haben wir überhaupt einen 'Europea Dream' oder nehmen wir den Zustand und die Zukunft Europas eher leidenschaftslos zur Kenntnis? Also es war ein Experiment. 10 UtopistInnen bastelten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Vorstellung von Europa. Mitmachen konnten alle. UtopistIn ist kein Ausbildungsberuf oder so. Auch über Europa muss ich nicht viel wissen, wenn ich es mir neu ausdenken kann.

    Ich habe kein Protokoll des Abends geführt und er ging natürlich wieder fünf Stunden statt den geplanten drei. Die folgenden Eindrücke sind also sehr selektiv, geteilt seien sie trotzdem.

    Mensch oder System: Wo liegt das Problem?

    Theoretisch hätten wir uns natürlich alles Mögliche für das Europa im Jahr 2070 ausmalen können. Fliegende Autos, ein Leben in der Matrix, im Hirn implantierte SIM-Karten... In Anbetrachtet der völligen Gedankenfreiheit blieben unsere Phantasien allerdings recht bodenständig. Das lag wohl auch an der Ausgangslage. Wir waren zwar frei, uns für Europa zu wünschen was wir wollen, doch gab es eine Bedingung. Unsere Utopie musste reale Probleme überwinden, die wir heute haben.

    Welches Problem ist also aktuell das Dringlichste? Die Klimakrise? Die Eurokrise? Die Flüchtlingskrise? Die Überbevölkerung und die Armut auf der Welt? Die Umwelt-Zerstörung? Die Demokratie-Krise? Die Vertrauens-Krise? Die Terror-Krise? Die VW-Krise? Die FIFA-Krise?...

    Die vielen Krisen spielten in unseren Überlegungen natürlich eine Rolle. Auffällig war aber, dass wir schnell beim einzelnen Menschen landeten. Der hat im Europa unserer Tage einiges auszuhalten, wenn vor dem Bildschirm sitzt. Und er kann schnell in Schwierigkeiten geraten. Er kann hilflos, ohnmächtig, apathisch und unmündig werden, in Ängsten und Vorurteilen (gegenüber Fremden) versinken, keine Identität mehr finden, sich ungerecht behandelt fühlen, ohne Kontakt zu den MitbürgerInnen vereinzeln, Halbwahrheiten und falschen Informationen aufsitzen, am Egoismus in der Gesellschaft verzweifeln und an der Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung ('Unten vs. Drunter'). Am Ende droht die Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung, die Dominanz irrationaler Ängste und Aggressionen.

    Was kann unser Europa da machen?

    Zunächst diskutierten wir ein paar aktuelle Schwächen. Es fehlt an Einigkeit und Solidarität zwischen den EU-Staaten, so ein Eindruck. Man denke nur an die Zerstrittenheit bei der Flüchtlingsaufnahme. Auch die Demokratie gerate im heutigen Europa unter Druck - wenn zum Beispiel griechische BürgerInnen vergeblich versuchen, eine verhasste Sparpolitik abzuwählen.

    Eine These: Wir haben immer noch ein 'Europa der nationalen Regierungen', nicht ein Europa der Menschen. Um die einzelnen europäischen BürgerInnen stark zu machen, müsste also ihre europäische Volksvertretung stärker werden. Da schimmerten sie also am Horizont kurz auf, die Vereinigten Staaten von Europa oder die Europäische Reüublik, in denen ein europäisches Parlament eine gemeinsame europäische Regierung kontrolliert.

    Nun liegt diese Utopie seit vielen Jahrzehnten in der Schublade, aber wir kamen nicht dazu, sie kritisch zu diskutieren. Recht einig waren wir uns erstmal in der Beobachtung, dass Europa aktuell eine ungewohnte Ziellosigkeit erlebt. Der Gedanke, dass es immer weiter geht mit dem Zusammenwachsen, mit der Vertiefung der Europäischen Union, hat offenbar an Strahlkraft verloren. Aber was ist dann unsere Erzählung von Europas Zukunft? Worauf arbeiten wir hin?

    Utopistin Claudia mahnte zur Gelassenheit. Für sie ist die Ungeduld mit Europa selbst ein Problem. Denn historisch betrachtet entwickele sich die Europäische Union rasend schnell. Offene Grenzen, gemeinsame Gesetze, eine gemeinsame Währung. Noch im frühen 20. Jahrhundert hätte man alle als UtopistInnen verlacht, die sowas für möglich hielten. Noch Claudias Vater hätte sich das alles in seiner Jugend vor dem Mauerfall kaum vorstellen können. Blicken wir also manchmal überkritisch auf das heutige EU-System, obwohl es prinzipiell gute Arbeit für die Menschen leistet? Besteht die eigentliche Aufgabe darin, die BürgerInnen mit dem bestehenden politischen System auszusöhnen, von denen nicht mal die Hälfte zur Europawahl geht?

    Unsere Nr. 5 für das Europa der Zukunft

    UtopistInnen sind frei. Sie können für alles Änderungen vorschlagen. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das politische System... Uns interessierte erstmal der Mensch in unserem Wunsch-Europa. Also sammelten wir mal Ideen, wie wir uns diese/n BewohnerIn unserer Utopie idealerweise vorstellen. Mit dem Arbeitstitel „Der perfekte Mensch“ hatten wir zurecht Probleme. Den haben sich schon viele Ideologen ausgemalt, mit katastrophalen Folgen. Wir nannten ihn also einfach „Nr. 5“.

    Nr. 5 lebt in unserer Utopie. Er/Sie ist: aufgeklärt, mündig, handlungsfähig, selbstbewusst, kompromissbereit, vorurteilsfrei (so weit das möglich ist), medienkompetent. Er/Sie ist aufgeschlossen und zugänglich, anderen Menschen und der Gesellschaft gegenüber. Nr.5 ist sich der eigenen Möglichkeiten bewusst und hat mit den anderen EuropäerInnen eine gemeinsame Sprache gefunden (ohne die eigene aufzugeben). Er/sie kann die Kategorien kritisch hinterfagen, in denen wir denken (wenn zum Beispiel von „den“ Flüchtlingen die Rede ist, oder von „den“ Griechen und „den“ Deutschen). Er/sie denkt nicht schwarz-weiß, sondern differenziert. Er/sie kann die nationalen Grenzen auch mal wegdenken, auf das europäische Gemeinwohl blicken. Er/sie lebt gut. Nr. 5 sucht den Kontakt, den Austausch, redet lieber mit anderen statt über andere.

    An manchen Punkten mussten wir etwas überlegen. Müssen unsere Wunsch-EuropäerInnen optimistisch, spontan und neugierig sein? Idealistisch aber realistisch? Oder denken wir da zu eng? Wie langweilig wäre unser Europa eigentlich, wenn darin gemeinhin als negativ erachtete menschliche Eigenschaften und Zustände verschwunden wären? Zum Beispiel unsere Angst. Ist sie nur schlecht? Hätten wir zum Beispiel keine Angst vor dem Klimawandel – würden wir dann noch am Klimaschutz arbeiten? Oder ist Angst nur dann schlecht, wenn sie uns lähmt und aggresiv macht?

    Auch bei der Frage des Wissens hingen wir etwas fest. Müssen alle in der Gesellschaft alles wissen? Oder reicht es, wenn alle in der Lage sind, Problemstellungen selbstständig zu bewältigen, in dem sie sich je nach Bedarf das nötige Wissen aneignen? Müssen wir einfach das Lernen gelernt haben? Das Welt-Bewältigen? Kann ja jede/r mal selbst für sich beantworten.

    Altbekannte Werte – reloaded

    An unserem Abend hatten wir also eine Nr. 5 zusammen: empowert, kompetent, mündig, souverän, offen... So in etwa haben sich das die VertreterInnen der europäischen Aufklärung vielleicht auch schon vorgestellt.

    Die Antwort auf die Frage, wie wir die Bedingungen herstellen, damit wir alle Nr. 5 sein können, blieben wir zugegebenermaßen schuldig. Wie müßten der Staat und die Gesellschaft hierfür beschaffen sein? Was können wir selbst dafür tun? Wir vermerken das mal auf der 'To-Answer-Liste', die uns unser utopischer Abend beschert hat ('im Forum unten ist unendlich viel Platz für Deine Antworten').

    Am Ende gestalteten wir gemeinsam unsere utopische Wand. Alle konnten sie bekleben – mit Zeitungsauschnitten, eigenen Zeichnungen, Postkarten, Zeugs. Das Ziel: Starke Botschaften schaffen für unser Traum-Europa. Viele Botschaften werden an die üblichen europäischen Sonntagsreden erinnern. Aber wenn man sie als gemischte Gruppe, die sich größtenteils gerade erst kennengelernt hatte, nach vielen Stunden Diskussion auf diese altbekannten (europäischen) Wertvorstellungen verständigen kann, dann wirken sie gleich wieder etwas kräftiger und glänzender. Nebenbei: das macht Spaß.

    Ein paar unser Wertvorstellungen für das Europa der Zukunft seien hier aufgezählt: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit, Vielfalt, Solidarität, Nachhaltigkeit, Buntheit und Diversität, Fairness und Gerechtigkeit, Vertrauen. Wichtig war uns UtopistInnen auch, dass wir Europa nicht exklusiv und 'eurozentristisch' denken, uns also mit unserem 'European Dream' vom Rest der Welt abkoppeln, und nur an den eigenen Vorteil denken. Man könnte auch noch weiter gehen und fragen, ob Europa das richtige Spielfeld für unsere Erwägungen ist. Müssten wir nicht gleich über globale Utopien reden? Macht es Sinn, eine europäische Gemeinschaft zu konstruieren, wo wir doch auch als WeltbürgerInnen viele Sorgen, Wünsche und Werte teilen?

    Also es war ein Gedankengewitter und eine Materialschlacht. Manches mag etwas naiv oder unterkomplex wirken. Wir hätten auch über die juristischen Feinheiten des EU-Vertrags reden können oder Alternativen zur Markwirtschaft. Der eher psychologische Blick auf den einzelnen Menschen und das Zusammenleben ergab sich so an diesem Abend, er war nicht vorgegeben, so ist das bei partizipativen Experimenten. Der Mensch stand im Mittelpunkt unseres Europas. Das politische und ökonomische System sollte unserer Nr. 5 dienen, darin waren wir uns einig. Wie das am besten klappt, und ob Nr. 5 wirklich eine gute Idee ist, steht nun hier zur freien Diskussion...


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