#Brexit - Was machen wir jetzt?
Das Netzwerk Unsere Zeit und Publixphere riefen spontan dazu auf, den Brexit auf dem Kreuzberg in Berlin zu diskutieren. Wir waren zu elft und es ging bis in die Nacht. Foto: Mirko Lux
Was für ein Erwachen am Freitag, was für ein Schock. Es wird dauern, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu verarbeiten. Bei einem Treffen von Politik-Interessierten auf dem Kreuzberg in Berlin diskutierten wir, was jetzt zu tun ist. Hier ein paar persönliche Beobachtungen...
Von Alexander Wragge
Eine neue Zeit des Gestaltens
Es war schon in den vergangenen Monaten zu spüren. Bei vielen Menschen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis wird das Gefühl stärker, dass etwas “nicht stimmt” mit unserer europäischen Gesellschaft. Viele wollen die politischen Entwicklungen nicht länger nur beobachten und einfach so hinnehmen. Wir merken es selbst bei unseren Treffen und online. Das Interesse wächst, sich zu vernetzen und gemeinsam politisch einzubringen: mit Empathie, Kritik, Ideen, Gesprächen, Aktionen. Der Brexit zeigt uns jetzt: die über Jahre so erstarrt und alternativlos wirkende EU ist über Nacht änderbar. Gestalten wir sie nicht selbst in unserem Sinne, vollenden Marine Le Pen, Geert Wilders und Co. ihr Zerstörungswerk auf Kosten unserer Generation.
Der Generationenkonflikt
Es lässt sich lange analysieren, wer warum den Brexit gewählt hat. Wir diskutierten zahlreiche Beweggründe, vom Hass vieler Briten auf Polit- und Bildungseliten bis zu den Demokratie-Defiziten der EU.
Klar ist: den Brexit haben die über 65-Jährigen zu verantworten. Die Jüngeren wünschten sich eine Zukunft in der EU. Von den unter 24-Jährigen wollten laut einer Umfrage vor der Wahl nur 24 Prozent für Leave stimmen. Wir dürfen die jüngeren Bremain-WählerInnen jetzt nicht allein lassen. Auch das gehört dazu, eine europäische Generation zu sein.
Unsere Forderung: gebt allen BritÍnnen, die dies wünschen, einen EU-Pass, im Schnellverfahren (das wäre rechtlich möglich). Sie sollten nicht dafür büßen müssen, was die Älteren angerichtet haben. Gemeinsame europäische Programme wie Erasmus sind auch nach dem Brexit fortzuführen. Und auch wenn es lange dauern kann: eine europäische ‘Wiedervereinigung’ muss möglich bleiben. Ein Teilnehmer unserer Runde spitzte es so zu: “Ihr könnt zurückkommen, wenn Oma tot ist”. Bis dahin rufen wir EU-BürgerInnen auf: Marry a brit.
Die Kommunikation kann so nicht weitergehen
Seit Jahrzehnten haben britische Boulevardmedien und Akteure wie Nigel Farage das europäische Projekt in den Dreck gezogen. Es gibt viele Hinweise darauf, das weite Teile der Bevölkerung nie wirklich verstanden haben, wie Entscheidungen in der EU bislang gefällt wurden, nämlich unter maßgeblicher Mitwirkung der britischen Regierung, britischer Beamter in der EU-Kommission und der britischen Abgeordneten im EU-Parlament. Es gelang in all den Jahrzehnten ganz offensichtlich nicht, in Großbritannien eine breite Identifikation mit dem EU-System zu stiften. Die EU wurde als das Fremde, nicht als das Eigene erlebt.
Nun können wir sagen, die Brexit-Populisten haben im Wahlkampf gnadenlos vereinfacht, verdummt und unverschämt gelogen. Wir können sagen, die Briten wussten gar nicht was sie tun. Sie dachten, sie befreien sich von einer “Brüsseler Diktatur”, von einem grotesken Zerrbild europäischer Zusammenarbeit, das ihnen Demagogen über Jahrzehnte eingetrichtert hatten. Erst nach der Entscheidung fingen Viele an zu googeln, was diese Europäische Union überhaupt ist und wie sie funktioniert.
Doch wenn wir die Brexit-Mehrheit für mehr oder minder unzurechnungsfähig erklären, nicht ernst nehmen, dann drücken wir uns vor vielen wichtigen Debatten, die nun zu führen sind. Eine grundsätzliche Frage lautet: Warum fällt es so vielen Menschen so schwer, die eigenen Interessen und das (europäische) Gemeinwohl durch die EU-Insitutionen, durch Rat, Kommission und Parlament vertreten zu sehen?
Eine neue Kultur der Zurechenbarkeit und Verantwortung
Wir können es uns hier leicht machen und sagen: die EU funktioniert eigentlich gut, sie hat nur ein Vermittlungsproblem. Aber selbst dann muss sich nun etwas grundlegend ändern, nämlich die Kommunikation unserer gemeinsamen EU-Politik. Wann antworten nationale PolitikerInnen zum Beispiel endlich auf den ewigen Vorwurf der Brüsseler Regulierungswut? Wann sagen sie endlich, dass es natürlich Sinn macht, in einem gemeinsamen Markt einheitliche EU-Standards für Kopfkissen, Glühbirnen und Duschköpfe zu definieren, statt 27 verschiedene? Wann machen sie das nationale Mitwirken an diesen EU-Standards endlich transparent, genauso wie den Einfluss zahlreicher Interessengruppen? Der Grundsatz-Konflikt Regulierung vs. Deregulierung gehört am Ende eigentlich ins Europäische Parlament und ist politisch zu entscheiden. Wer ein Problem mit Vorschriften hat, zum Beispiel mit Stromspar-Vorgaben für Staubsauger, kann seine europäischen VolksvertrerInnen entsprechend wählen und bearbeiten. Sie/Er muss dafür nicht gleich die ganze EU infrage stellen und den Austritt anstreben. Und es wird spannend zu sehen, ob Großbritannien jetzt, wo es die “EU-Diktatur” losgeworden ist, auf Produktvorschriften ganz verzichtet.
Die Kommunikation von Politik muss künftig endlich die entscheidenden Fragen klären. Wer trägt für was die politische Verwantwortung? Welcher politische Wettbewerb findet um die EU-Gesetzgebung statt? Es reicht offensichtlich nicht mehr, Politikergebnisse wie die gedeckelten Roaming-Gebühren und europäische Errungenschaften wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit den BürgerInnen zu "verkaufen". Stattdessen könnten diese souveränen EU-BürgerInnen endlich selbst ins Zentrum der gesamten Debatte (Medien, Institutionen) rücken. Wissen sollte ich als EU-BürgerIn, wie ich meine Interessen rechtzeitig vertrete und vertreten lasse, nicht nur im EU-Parlament oder durch meine nationale Regierung, sondern zum Beispiel auch durch meine regionalen VertreterInnen, die immerhin die EU-Fördermittel für meine Region beantragen. Im besten Fall realisieren wir auch unseren Einfluss als europäische Zivilgesellschaft, die jederzeit frei ist, sich europäisch zu vernetzen, sich mit Forderungen und Protesten einzumischen.
In welcher EU wollen wir leben?
Nun kam in unserer Runde auch Skepsis auf, ob eine neue Vermittlung wirklich die Probleme löst. Reicht es aus, einfach unser EU-Bürgertum zu entdecken und stark zu reden? Wecken wir damit nicht bei uns und anderen Teilhabe-Erwartungen, die von dieser EU gar nicht einzulösen sind? Die Demokratiedefizite der EU sind schließlich keine Erfindung von Populisten. Sie füllen seit Jahrzehnten Regale in den Bibliotheken. Demokratie funktioniert in dieser EU immer noch maßgeblich über die nationale Wahl von nationalen Regierungsmitgliedern in den Rat. Viele Ideen, Interessen und Gegenargumente bleiben so bei der europäischen Entscheidungsfindung auf der Strecke. Gemeinsame grenzüberschreitende Anliegen (zum Beispiel die der jungen Generation Europas) werden kaum sichtbar. Sie sind nur schwer zu mobilisieren und zu vertreten. Doch was folgt aus der Erkenntnis, dass diese EU noch nicht perfekt ist und noch lange nicht fertig?
Aus Angst vor reaktionärem Rechts-Populismus, Nationalismus und Chauvinismus in der EU werden nun sicher einige PolitikerInnen einen Rückbau oder die reine Verteidigung des Status quo fordern. Beides sind für Viele von uns keine verlockenden Optionen. Rückbau wohin? In den nationalen Mief, den uns AfD, FPÖ und Front National als Zukunft verkaufen? In einen losen Staatenbund, dessen Grundrechte-Charta zum Papiertiger verkommt, der auch global gesehen jeden Einfluss verliert? In einen reinen Binnenmarkt, der keine sozialen oder ökologischen Ziele und kein europäisches Gemeinwohl kennt?
Aktuell im Umlauf sind zahlreiche Reformideen für Europa (beispielsweise die Utopie einer Europäische Republik von Ulrike Guérot). Als Europas junge Generation können wir uns diese Zukunftsideen zumindest anschauen, sie kritisch diskutieren, eigene Vorstellungen entwickeln, und probieren, diese Zeitenwende (mit Aktionen) selbst zu gestalten. Und vielleicht gibt es ja gemeinsam noch ein paar EU-Referenden zu gewinnen, in den Niederlanden, in Frankreich...
P.S. Wer Lust hat, sich zu vernetzen und zu diskutieren melde sich bei: redaktion@publixphere.net.. Das nächste Treffen auf dem Kreuzberg findet am 25. Juli statt.
Links
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Ludger Wortmann: Sieben Fehler, die Proeuropäer machen
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Josi Bär: Sind wir die Guten? Über die Sache und die Rettung Europas
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Publixphere: Europa neu geträumt- unsere Diskussionen im Überblick
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Publixphere: Jung und mächtig - unsere Diskussionen im Überblick
Doro
Hallo Alexander,
ich frage mich, ob es rechtlich gesehen, überhaupt zulässig sein sollte, über eine solch wichtige, nicht nur national, sondern international entscheidende Frage wie die Zugehörigkeit zur EU eine Volksabstimmung in einem einzelnen EU-Land durchführen und entscheiden zu lassen.
Leider gibt es noch keine EU-Verfassung. Sie ist dringend notwendig. Verfassungsrechtler müssen sich Gedanken machen über die Bedingungen eines Beitritts und eines Austritts. Volksentscheidungen sind gut und schön. Aber das Volk ist manipulierbar. Wofür haben wir Parteien, Parlamente, Regierungen (die das Volk selbst ge wählt hat!)? Sicher, es gibt populistische Parteien im Aufwind in fast allen EU-Ländern inzwischen. Aber ihnen zu folgen, bedeutet für das Volk doch ein bisschen mehr Nachdenken als eine rein emotionale, aus dem Augenblick heraus geführte Stimmabgabe bei einer Volksabstimmung.
Ich sehe in Volksabstimmungen über weitreichende internationale politische Dimensionen eine Gefahr. Emotionalität und Unkenntnis entscheiden möglicherweise über die Vernunft und gegen die Vernunft. Die direkte Demokratie hat ihre Grenzen. In einem Dorf oder einer Kleinstadt mag sie funktionieren, aber nicht mehr in einem größeren (globalen, internationalen) Kontext.
Ich möchte keine Volksabstimmung in Deutschland über den Verbleib Deutschlands in der EU!