Sind wir die Guten? Über die Sache und die Rettung Europas.
Foto: politicomments.com
Um mehr zu erreichen als die "Bespaßung eines bildungsbürgerlichen Salons", fordert Josie Bär gemeinsam für die europäische Sache einzutreten. Hat sie Recht?
Ein Beitrag von JosBaer
Wir träumen von einer anderen Welt; von einem besseren Europa. Wir kämpfen täglich für eine wahre politische Union. Die Zukunft der EU ist unser Thema, den Europäischen Bundesstaat, dafür steht die große, übergroße Mehrheit von uns ein. Wir sind die Guten, oder nicht?
Die typische Woche der europabegeisterten Berliner*innen sieht in der Regel so aus:
Montag - Uni/Arbeit - abends Veranstaltung bei Institution oder Vertretung von XY anschließend Empfang
Dienstag - Uni/Arbeit - abends Kinobesuch oder Vernissage zu großer Kunst mit politischer Metaebene, anschließend Kneipe des Vertrauens
Mittwoch - (ausschlafen) Uni/Arbeit - abends Veranstaltung des Vereins/der Organisation/der Partei, schnell losmüssen, weil komplett übermüdet
Donnerstag - Uni/Arbeit - Diskussion zu xy von neuer Organisation, welche man sich schon seit 2 Monaten mal anschauen wollte.
Freitag - Uni/Arbeit - WG-Party
Samstag - ab und zu einen Workshop/Seminar/Tagung/Kongress von Gewerkschaft, Bildungsforum XY
Sonntag - Mutti anrufen nicht vergessen und die nächste Woche vorbereiten
So oder so ähnlich sehen eure Kalender aus. Ich weiß das, ich verfolg das auf Facebook (und Instagram... und Twitter). Es geht mir ja genau so.
Wir diskutieren also, ob die Osteuropaweiterung zu früh war, ob die Türkei was in der EU zu suchen hat, wies eigentlich mit unserem Geld aussieht, was bei TTIP los ist, wer die EU-Ratspräsidentschaft inne hat und was dort wesentliches verändert wird und momentan kann man dazu auch noch täglich mehrere Veranstaltungen zur Asylpolitik besuchen. Hinzu kommen Jubiläen, Lesungen, Veranstaltungen die noch kein Thema haben, weil alles offen, alles neu und so kommunikativ ist. Stammtische, Planungstreffen und Basisversammlungen bilden die Konstanten in unserem Leben.
Ich bin froh dieses Leben zu führen. Ich bin dankbar in dieser absolut politischen Stadt, die so unfassbar lebens- und liebenswert ist, meine Gegenwart und Zukunft verbringen zu können.
Aber die Weltrevolution, Weltreformation, Weltverbesserung erreichen wir mit diesem Leben nicht.
Wo sind die Menschen für die gute Sache?
Es ist Fluch und Segen in Berlin (und übrigens auch anderen großen Städten - und damit mein ich nicht nur Brüssel), dass es alles gibt was das politische Herz begehrt. Es gibt Parteien, für jung und alt, gut zu erreichen und aktiv. Es gibt gemeinnützige, überparteiliche, aber keineswegs unpolitische Vereine, Verbände und Organisationen. Ob nun reisen, diskutieren, kochen oder doch eher Aktivismus und Unterschriften sammeln - alles ist möglich. Und das nicht nur in doppelter oder dreifacher Ausführung, sondern wahrscheinlich in 30facher. Und das ist wunderbar, ein tolles Statement - es gibt nur ein Problem: die Menschen sind die Gleichen. Es wäre umwerfend, wenn wir die Mitgliedszahlen der proeuropäischen Verbände einfach addieren könnten und wir hätten die Anzahl der engagierten Proeuropäer*innen. Aber so ist es nicht, weil die große Mehrheit von uns in 3 oder mehr Vereinen engagiert ist oder zumindest Mitglied. Und am besten in allen Vereinen auch noch zum gleichen Thema arbeitet.
Alleine im Jahr 2015 habe ich mehrere Manifeste über ein anderes Europa, mehrere Bücher, Aufsätze und Aufrufe an unsere Generation (also die junge, europäische Generation), zahlreiche „Kein weiter so!“-Plädoyers und unzählige „Wenn nicht jetzt, wann dann?“-Streitschriften gelesen.
Alles in Ordnung, alles richtig - ich will hier gar kein Engagement herunterspielen. Nicht im geringsten. Ich würde mich gerne bei jeder Person selbst bedanken, die sich für unseren Traum von Europa einsetzt. Egal wie und sei es die 23.869 Petition online zu unterschreiben. Wir sind die Minderheit. Wir sind so unfassbar wichtig für die Zukunft einer gesamten Gesellschaft, einer europäischen Gesellschaft. Und wir vergeuden unser Potential.
Wir, die die Zügel in der Hand haben, uns geht es darum, dass unsere eigenen „Marken“, unsere Babies, unsere Vereine wachsen, bekannter werden, Presse kriegen. Wir profitieren gerne von den Reichweiten anderer, aber so richtig teilen wollen wir nicht. Wir machen gerne mal was in Kooperation, uns ist es aber wichtig, dass jemand MIT UNS kooperiert. Auf wie vielen Veranstaltungen und Planungstreffen ich in den letzten drei Jahren war und hören musste „Klar kannst du mit Verein xy mitmachen, aber uns ist schon wichtig, dass das unsere Veranstaltung ist - wir haben da schließlich Geld reingesteckt.“
Okay. Punkt verstanden. Die Förderer wollen Aufmerksamkeit. Das versteh ich. Aber seien wir doch mal ehrlich, schonungslos, auch ich selbst muss mich da ins Visier nehmen. Was wir machen ist - im wesentlichen und mit einigen Ausnahmen - nichts weiteres als die Bespaßung eines bildungsbürgerlichen Salons - und das ist in so weit auch erstmal okay! Schließlich waren die meisten Menschen an die wir uns heute erinnern, Bildungsbürger*innen von damals… aber dann lasst uns nicht so scheinheilig sein und uns darstellen als ob wir alle vertreten würden.
„Du bist nur ein Wassertropfen, kannst nichts ändern hier auf Erden. Doch aus vielen Wassertropfen, können Wasserfälle werden.“
Dieses eine Zitat, eines meiner Lieblingszitate, beschreibt so gut was ich mir wünsche. Was wir hier grad machen ist Pfützen fabrizieren. Keinen See, keine Überschwemmung, geschweige denn einen Monsun. Wir machen Pfützchen. Dafür hat jeder seine eigene Pfütze und manchmal, manchmal werden wir so groß, dass zwei oder drei Pfützen zusammenlaufen, aber das trocknet dann auch schnell wieder ein.
Ich bin bereit für den Wasserfall!
Ich sehne mich danach, dass wir uns alle vereinigen und für das große Ganze gemeinsam einstehen. Die STOP TTIP & CETA Initiative ist so allumfassend groß geworden, weil alle Gegner*innen des transatlantischen Freihandelsabkommens unter einem Dach für ihre Überzeugung einstehen. Wir sind für den Grenzabbau und ziehen in unserer eigenen Arbeit Grenzen auf.
Wir brauchen einen großen, allumfassenden #Aufschrei zur aktuellen Schengenpolitik. Wir, die Europäerinnen und Europäer müssen jetzt alle zusammen unseren Appell der Jugend an die Entscheidungstragenden übermitteln. Mitgliederwerbung darf hier nicht erste Priorität sein, sondern politische Entschlossenheit und den festen Glauben gemeinsam mit Zivilgesellschaft und politischen Akteur*innen etwas zu verändern. Wieso unterschreibe ich 7 Petitionen statt einer? Alle proeuropäischen, demokratischen Kräfte müssen JETZT das Richtige tun.
Ich bitte euch, liebe Europäer*innen, es geht hier um unsere Zukunft, verdammt! Lasst uns endlich zusammenarbeiten, auf eigene Egoismen scheißen und das tun was das Beste ist - für die Sache - nicht für die eigene Marke. Lasst uns unsere Kompetenzen zusammenwerfen, unsere Qualitäten und Kontakte gemeinsam nutzen.
Vaclav Havel sagte:
„Hoffnung ist eben nicht Optismismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat - ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“
Meine ganze Hoffnung liegt bei euch. Wenn wir die EU nicht stützen, dann tut es niemand.
Gemeinsam für eine europäische Öffentlichkeit, eine europäische Identität, einen europäischen Staat - gemeinsam für das Gute!
In Liebe,
Josie
P.S: Ich bin Mitglied in drei überparteilichen Vereinen/Verbänden, einer Partei, einer Strömung, einer Partei-AG und einem Schulförderverein.
Foto: Manchester University
-
Publixphere: Jung und mächtig? Die laufenden Diskussionen im Überblick
-
Unsere Zeit: Was jetzt zu tun ist
-
Publixphere: EURemix: Die laufenden EU-Refom-Diskussionen im Überblick
-
European Republic: Europa: Eine neue Version ist verfügbar
Alexander Wragge
Raus aus der Bubble - nur wie?
Liebe Josie! Kann ich alles so unterschreiben! Zur "Bespaßung eines bildungsbürgerlichen Salons". Wir hatten diesen Vorwurf in verschiedenen Gewändern bei PXP-Abenden (und auch online) immer wieder. Er lässt sich ungefähr so wiedergeben:
Ich nehme an, da ist was dran (allein schon, weil diese Beobachtung so oft kommt).
Nur: was ist die Antwort darauf? Alle unsere Angebote (egal von welcher NGO) sind öffentlich, und wir laden immer alle ein. Und dann kommen doch wieder die üblichen Verdächtigen (+x). Müssen wir also noch aktiver die andere Meinung suchen? Sollen wir mal einen gemeinsamen Europa-Abend in Heidenau oder Tröglitz machen, die Welten zusammenführen? Ich würde das sehr gerne tun, und ich glaube, dass junge Menschen - egal wo - auch gar nicht soooooo unterschiedlich ticken, wenn wir uns bei unserem gemeinsamen Bedürfnis nach einer gelingenden Gesellschaft abholen.
Gestalten wir Demokratie zusammen
Jedenfalls kann ich persönlich das große Lamento über den aktuellen Medien- und Online-Diskurs einfach nicht mehr hören, jüngst ausformuliert von Georg Diez auf Spiegel Online. Wenn es so schlecht steht um alles, um das böse Internet, um die kaputte Talkshow-Republik, auch um den Umgang mit dem Europäischen Projekt - ja gut, dann gebt doch den Bürgerinnen und der organisierten Zivilgesellschaft sowohl die Aufmerksamkeit als auch die Räume und Ressourcen um es besser zu machen, um ins gemeinsame Diskutieren und ins positive Gestalten zu kommen.
Und dann seht diese Gespräche und Projekte nicht mehr als Selbstzweck einer durchsubventionierten Partizipations-Branche, sondern als echte, gelebte Demokratie und seid auch viel stolzer darauf. Ich glaube wir müssen mal etwas aufwachen und uns die Echtheit unseres Handelns bewusst machen. Wir müssen uns viel bewusster werden, dass die BürgerInnen den europäischen Politik-Spielraum selbst (über den Diskurs, aber auch über Aktionen) abstecken. Wenn wir unsere europäischen Interessen nicht artikulieren, können PolitikerInnen sich auch nicht zu unseren Anwälten machen, dann lassen sie sich von anderen Lobbys vor sich hertreiben.
Eine deutsche Europa-Bubble?
Ich weiß, viele NGOs wie die JEF oder die European Alternatives organisieren sich längst und auch erfolgreich europäisch. Trotzdem muss für mich noch viel sichtbarer werden, dass hier junge EuropäerInnen gemeinsame Interessen teilen. Vieles wirkt paradoxerweise doch arg deutsch am deutschen Europa-Diskurs. Wir haben die digitalen Möglichkeiten - von der transnationalen Facebook-Kampagne bis zum transnationalen Webinar und Google-Hang-Out - lass uns sie noch viel konsequenter nutzen. Ein Beispiel: Wenn in Polen die Hölle los ist, muss es möglich sein, dass eine europäische Zivilgesellschaft (inklusive 'polnischen' EuropäerInnen) darauf reagiert und sich in die nationalen Debatten einmischt. Was wir in solchen Fällen bisher sehen, ist die Rückkehr der Oldschool-Diplomatie (inklusive Botschafter einbestellen, so als lebten wir im 19. Jahrhundert, am Besten wir schicken noch Depeschen mit Brieftauben los). Das können wir längst besser. Das Gleiche gilt für den Griechenland-Diskurs. Es muss hinzubekommen sein, dass wir die Euro-Rettung als Eurozonen-BewohnerInnen diskutieren und gestalten, und uns nicht in ressentiment-geladenen Boulevard-Blättern übereinander reden sehen.
Okay, soweit erstmal. Liebe Grüße, Alex