+1

"Sozialtourismus" - Wie beeinflusst die Sprache unser Bild von Rumänen und Bulgaren?


Ein Beitrag von ClaraHerdeanu

„Sozialtourismus“ – die Wahl zum Unwort des Jahres 2013 legt den Finger in die Wunder der aktuellen und teils sehr plakativ betriebenen Debatte zur sogenannten „Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien“.

Sprache perspektiviert unsere Wahrnehmung von Welt. Massenmedien beeinflussen uns durch ihre Themenauswahl und die Art und Weise der Versprachlichungen, die von ihnen gewählt werden. Deshalb macht es einen großen Unterschied, ob über „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ (z.B. ZEIT.de 09.01.2014), die „drohende Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ (BILD.de 30.12.2013) oder „die wachsende Zahl von Armutsflüchtlingen aus Osteuropa“ (BILD.de 30.12.2013) gesprochen wird. Der Linguist spricht hier von Semantischen Kämpfen durch verschiedene Bezeichnungsvarianten. Und mit diesen Bezeichnungskonkurrenzen – also z.B. „Sozialbetrüger“ oder „Neue Nachbarn“ – wird um Deutungshoheiten im Diskurs gerungen: Wem es gelingt, bestimmte Ausdrücke in einem Diskurs durchzusetzen, hat somit Einfluss darauf, wie die Welt wahrgenommen wird!

Welche Wörter und/oder Formulierungen sind für euch besonders auffällig und bezeichnend in diesem Diskurs? Welche Wörter und/oder Formulierungen sind abwertend oder sogar verletzend? Wo seht Ihr Semantische Kämpfe? Welche Tendenzen werden durch die Wortwahl der Medien aufgezeigt?

Einige weitere Beispiele sind im ausführlicheren Beitrag auf dem Blog der Deutschlandstiftung Integration zu finden.


Kommentare

  • Also mir ging es ja so, dass ich das Wort Sozialtourismus zum ersten Mal gehört habe, als ich einen Bericht über die Wahl zum Unwort des Jahres gelesen habe. Dieser Rhetorik wird also durch solch eine Wahl Prominenz verschafft.

    • Liebe Sarara,

      natürlich erlangt das Wort "Sozialtourismus" durch die Wahl zum Unwort des Jahres eine gewisse mediale Prominenz. Allerdings wurde es durchaus bereits zuvor im Zusammenhang mit dieser Debatte verwendet. Darüber hinaus zielt solch eine Wahl und Thematisierung in erster Linie darauf ab, für Sprachgebrauch zu sensibilisieren. Denn es kann gut möglich sein, dass dieses Wort zwar verwendet wurde, es einem zuvor aber überhaupt nicht aufgefallen ist. Durch die Wahl zum Unwort des Jahres wurde die Aufmerksamkeit für dieses Wort und weitere Formulierungen, die mit der ganzen Debatte über die sogenannte "Armutszuwanderung" verknüpft sind, geweckt. Wünschenswert wäre es, wenn dies zu einem reflektierterem Umgang mit Sprache beitragen würde.

    • Obwohl ich das Wort schon vorher kannte, stimme ich dir zu dass auch für Worte (und insbesondere für Unworte) gilt: Es gibt keine schlechte Presse!

  • Liebe Clara Herdeanu,

    danke für diesen Beitrag. Die Sprache ist in dieser Debatte wirklich der zentrale Punkt. Vielleicht hätte es sie ohne den Spruch "Wer betrügt, der fliegt" gar nicht gegeben, weil sich bei genauerem Hinsehen alle recht einig sind (Koalitionsvertrag, überparteiliches Problembewusstein auf kommunaler und Landesebene).

    Ein Wort finde ich in der Debatte besonders übel. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer warnt, Deutschland werde zum "Selbstbedienungsladen" Europas. Ich stelle mir da vor, wie eine riesige Zuwanderungswelle nach Deutschland schwappt (viel schlimmer noch als die Oderflut), wie Hundertausende 'unsere' Sozialkassen "plündern" (wenn sie nicht gleich brandschatzend und marodierend durch die Lande ziehen), wie sie sich ganz ungeniert die Taschen vollmachen. Sie werden nicht von irgendwelchen Arge-Mitarbeitern mit 100 Seiten Bürokraten-Formular-Deutsch behelligt, oder müssen um jeden Cent Kleidergeld zittern, geschweige denn vorher gearbeitet haben (wie es das deutsche Recht vorschreibt). Nein. Sie "bedienen" sich einfach, und zwar SELBST!

    Das ist echt eine Ur-Angst, vor der Invasion, vor dem völligen Kontrollverlust. Offen bleibt für mich, ob Politiker taktisch "in Angst machen", oder ob sie sich mit dieser Wortwahl selbst aus der (paranoiden) Seele sprechen - dann müssten wohl viele mal zur Therapie. Herr Scheuer wäre wirklich skrupellos, wenn er sich bewusst, entgegen der Fakten- und Rechtslage, für das Wort "Selbstbedienungsladen" entscheidet. Zutrauen tue ich es ihm, er muss sich als "bissiger Bluthund" der CSU erst noch beweisen (wollte auch mal ein sprachliches Foul begehen).

    Eher 'verräterisch' ist - glaube ich - diese Schlagzeile der Online-Redaktion von heute.de: "Es kommen nicht nur Roma, es kommen auch Akademiker". Ähh ja. Das Beispiel habe ich übrigens vom Antiziganismus-Forscher Markus End.

    Es lohnt sich in dieser Debatte wirklich über jedes Wort nachzudenken. Dann kommt man dem Problem wirklich näher (vielleicht liegt es ja im eigenen Kopf).

    • Lieber Bachmann,

      vielen Dank für das Beispiel "Es kommen nicht nur Roma, es kommen auch Akademiker". Auch dies ist ein hervorragendes Beispiel für den Einfluss der Sprache auf unsere Weltbilder. Es zeigt auf, wie weit sich die durch Sprache geprägten Weltbilder bereits verfestigt haben. Der von Ihnen zitierte Markus End beschreibt dies nicht umsonst so passend: "Hochqualifizierte Roma, die es selbstverständlich auch gibt, kennt die Debatte nicht, weil sie nicht ins Bild passen.".

      Das Beispiel ist in dieser Form allerdings nicht mehr auf der heute.de-Seite zu finden.

      Wie ich bereits in meinem Beitrag geschrieben habe, ist die Reflexion über den Sprachgebrauch nicht unbedingt selbstverständlich - und das gilt sowohl für den Sprachrezipienten als auch den Sprachproduzenten. Über die eigentlichen Intentionen von Sprachverwendern lässt sich deshalb ab einem gewissen Punkt auch nur noch mutmaßen.

      Aber unabhängig von eventuellen Intentionen hat Sprachgebrauch eben Auswirkungen auf "die Sicht der Dinge", wie die gegenwärtige Debatte mehr als deutlich aufzeigt.