JA zum Tempelhofer Feld - NEIN zur Initiative 100%
Foto & Teaser: jurjen_nl CC BY-NC-ND 2.0
Ein Beitrag von Severin
Ich wohne seit mehreren Jahren wenige hundert Meter vom Feld entfernt und beobachte mit Faszination, wie dieser Ort sich zu einem sozialen Treffpunkt für Menschen aus der näheren Umgebung entwickelt hat. Mindestens einmal in der Woche besuche ich das Feld, um dort zu Laufen, zu Grillen oder einfach um Auszuspannen und die Weite zu genießen. Ginge es bei der Debatte über die Entwicklung des Tempelhofer Felds nur um mich: Ich würde mich für 100 Prozent entscheiden. Aber es geht eben nicht nur um mich.
Mieten und Stadtentwicklung sind in Berlin mittlerweile die zentralen Themen auf der politischen Agenda. Die Berliner Politik steckt dabei in einem Dilemma: Der Raum für den Bau öffentlich geförderter Wohnungen ist begrenzt. Irgendwo muss aber gebaut werden. Der Großteil des "Verdichtungspotenzials" ist in privater Hand und wird entsprechend für privaten Wohnungsbau genutzt werden - mit den entsprechenden Preisen. Wenn es dann doch Flächen im Besitz des Landes gibt, so werden diese derzeit meist noch anderweitig genutzt. Kleingartenkolonien sind hier ein gutes Beispiel: Der Liegenschaftsfond des Landes sieht sich aufgrund der Nachfrage nach Wohnraum zunehmend gezwungen, Kleingärtner - seit Jahrzehnten ansässig - von ihren Siedlungen zu vertreiben. Immer mit dem Argument: Berlin braucht Wohnraum. Und daran zweifelt ja auch niemand. Nur stellt sich der Laubenpieper berechtigterweise die Frage: Warum muss meine Hütte mit den Erinnerungen an viele schöne Sommertage weichen. Die Inlineskater, Radfahrer und Wiesengenießer auf ihren rund 300 Hektar Flughafengelände sollen keinen Beitrag leisten? Darauf gibt mir die Initiative ehrlich gesagt keine gute Antwort.
Und damit sind wir bereits am zentralen Punkt, um den es bei der Debatte eigentlich geht: Wie viel Gemeinwohlinteresse steckt noch in der individuelle Entscheidung jedes Einzelnen von uns? Wenn das Tempelhofer Feld so bleibt, wie es ist, wird der Druck auf die Mietpreise in Berlin weiter steigen. Eine Randbebauung löst das Problem natürlich nicht alleine. Sie kann aber zumindest einen kleinen und vor allem symbolisch wichtigen Beitrag dazu leisten. Ganz besonders in den attraktiven Randlagen des Feldes, zum Beispiel dem Schillerkiez, wird bei einem Erfolg der Initiative der Anstieg der Mieten steil nach oben gehen. Mich wundert es daher kein bisschen, dass CDU und FDP sich beim Volksentscheid nicht aktiv einbringen. Wenn die Initiative gewinnt, profitiert die Wohnungswirtschaft durch höhere Renditen bei Mieten und privatem Wohnungsbau außerhalb des Feldes.
Nur wenn die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften die Verantwortung für Wohnungsbau an den Rändern des Feldes bekommen, kann auch meinen zukünftigen Nachbarn mit niedrigeren Einkommen eine Wohnungen in Innenstadtnähe in Aussicht gestellt werden. Insofern halte ich das Bauen durch landeseigene Unternehmen für einen der wenigen echten Hebel, den der Staat bei der sozialen Abfederung der Mietenproblematik in dieser Stadt besitzt. Gleichzeitig ist damit auch die Solidarität zwischen den heutigen Bewohnerinnen und Bewohnern Berlins gegenüber denen, die in kommenden Jahren zuziehen werden, angesprochen. Nicht ohne Grund werben Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände für eine Ablehnung der Initiative Aktionsbündnis. Wenn der Staat seine öffentliche Aufgabe in der Wohnungspolitik noch wahrnehmen soll, dann muss ihm der Raum dafür geboten werden.
Was mich aber am meisten stört, ist die Radikalität und Kompromisslosigkeit, mit der die Initiative ihr Anliegen vorbringt. Tritt das 100% THF-Gesetz in Kraft, gibt es keinen Spielraum mehr für die Gestaltung des Feldes. Insofern ist Antje Kapek mit ihrem Wunsch nach einem "Dritten Weg" nicht ehrlich gegenüber den Lesern. Wird der Entwurf der Initiative Gesetz, dann wäre es zutiefst undemokratisch, wenn man kurz darauf versuchen würde, Änderungen an diesem Bürgergesetz vorzunehmen. Auch nur so zu tun, als sei das 100%-THF-Gesetz lediglich eine Entscheidung gegen den Senat und nicht eine grundsätzliche gesellschaftliche Überlegung zur Zukunft dieser Stadt, halte ich für gefährlichen Opportunismus. Ginge es Grünen, Linken und Piraten tatsächlich um eine ernsthafte Debatte über die Zukunft des Tempelhofer Felds und nicht um Wählergewinnung, würden sie die Initiative und den Masterplan des Senats ablehnen. Da letzterer am Sonntag aber nicht auf dem Wahlzettel steht, bliebe nur die Ablehnung der Initiative oder die Enthaltung.
Im Gegensatz dazu, ist es keineswegs so, dass der Entwurf des Abgeordnetenhauses den Masterplan des Senats in Gesetzesform gießt. Stattdessen wird die innere Freifläche gesichert. Zu den Formen der Randbebauung steht kein Wort im Gesetz. Das ist auch richtig so, denn dies sollte weiterhin Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung sein und in den kommenden Monaten im Rahmen von ganz normalen Bebauungsplanverfahren mit Bürgerbeteiligung und Parlamentsbeschluss erarbeitet werden. Alternative Vorschläge können jederzeit eingebracht werden, spätestens über die politischen Programme der Parteien bei der Abgeordnetenhauswahl 2016. Im Gegensatz zur 100%-Lösung der Initiative ist der Masterplan schließlich kein Gesetz! Und über die Zentrale Landesbibliothek werden wir mit Sicherheit noch viele Jahre diskutieren können. Und das mit gutem Recht...
Unsere Demokratie hat es in den vergangenen 60 Jahren geschafft, immer wieder aufs Neue einen Ausgleich von Interessen zu erreichen. Die Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Interesse des Gemeinwohls muss immer wieder hinterfragt werden. Auch an bei der Entscheidung über das Tempelhofer Feld. Wir akzeptieren, dass wir von unserem Lohn einen Teil an Steuern für Zwecke bezahlen, die wir nur indirekt beeinflussen können. Wir unterstützen unser Sozialsystem auch dann, wenn wir es nicht in Anspruch nehmen. Nur mit dem Tempelhofer Feld, da sollen es plötzlich 100% sein? Kein Ausgleich von Interessen? Kein Kompromiss? Das erschließt sich mir nicht. Deswegen werde ich am Sonntag gegen den Entwurf der Initiative stimmen und danach mit gutem Gewissen über das Tempelhofer Feld laufen.
Severin
Zu Emil: Ja, ich stimme zu. Die "Ökonomisierung" dieser Frage führt in die falsche Richtung. Dennoch halte ich daran fest, dass es um einen Interessenausgleich zwischen den heutigen und den zukünftigen Berlinnerinnen und Berlinern geht und da fehlt mir schon oft ein bisschen die Perspektive. Und ob sich das Image Berlins am Rand des Tempelhofer Felds festmachen lässt, da bin ich mir nicht so sicher. Mir persönlich gefällt das "Wohnraum statt Stillstand"-Argument auch nicht. Aber vermutlich hat man sich darum bemüht, hier zu polarisieren. Und die 100%-Haltung der Initiative ist eben auch so radikal, dass man von Stillstand sprechen kann. "Beteiligung statt Stillstand" hätte ich besser gefunden. Da wäre dann gleich eine Botschaft rausgegangen, wie es weitergehen soll. Das führt mich direkt zum nächsten Punkt: Der Senat hat ja in vielen Punkten aufgrund der Bürgerforen und Diskussionen seine Konzepte schon geändert. Heute ist viel weniger Gestaltung des Innenraums (Bäume, Bänke) vorgesehen, als noch vor einem Jahr. Auch die Nordseite des Feldes wird heute anders geplant. Ich glaube immernoch daran, dass man durch Engagement hier Einfluss üben kann und nicht nur über radikal formulierte Volksentscheide. Abgesehen davon, wäre das auch ein trauriges Demokratieverständnis, wenn demokratische Entscheidungsprozesse nur alle fünf Jahre vollzogen werden würden. Dein letztes Argument finde ich allerdings wenig stichhaltig: Die Verknüpfung zwischen BER und Tempelhof leuchtet mir überhaupt nicht ein. Abgesehn davon, dass an ersterem ja auch Brandenburg und der Bund beteiligt waren, ist die Randbebauung des Feldes ja eben kein Großprojekt, sondern soll von unterschiedlichen Akteuren inkrementell gestaltet werden. Da muss dann auch kein "Eröffnungsdatum" etc. geben. Außerdem handelt es sich ja nicht um ein Verkehrsinfrastrukturprojekt sondern bietet den Wohnungsbaugesellschaften vielmehr die Chance, zu zeigen, was funktionales, modernes und soziales Bauen an unterschiedlichen Teilen des Feldes heute bedeuten kann. Bruno Taut und Walter Gropius haben diese Chance im vergangenen Jahrhundert bekommen und damit eine ganze Epoche mitgeprägt!
Zu Doro: Demokratien haben nun mal die schöne Eigenschaft, dass immer wieder aufs Neue entschieden werden darf und man aus Fehlern (in welche Richtung auch immer) gelernt werden kann. Aber zumindest 15 Jahre wird danach mit Sicherheit Ruhe sein.
Zu moseni: Die Entspannung bemisst sich ja nicht daran, dass es günstiger wird, sondern dass es nicht teurer wird. Das ist immer schwer zu messen. Aber wenn, wie in den vergangenen Jahren, jährlich 50.000 Menschen nach Berlin ziehen und der Wohnungsleerstand in Berlin gegen Null geht, dann muss man kein großer Mathematiker sein, um zu verstehen, dass ein Riesenproblem auf uns zukommt.