Inwiefern können das Verhandlungsmandat und die Inhalte von TTIP demokratisch problematisch sein?
Vorlesung im Fachbereich Europarecht an der Freien Universität Berlin. Foto: Europäischer Salon
Am 20.10.2014 diskutierte der Europäische Salon zusammen mit Studierenden des Schwerpunkts Europarecht an der Freien Universität Berlin die Frage “Inwiefern können das Verhandlungsmandat und die Inhalte von TTIP demokratisch problematisch sein?”. Dabei wurden von den Studierenden folgende Thesen aufgeworfen und Standpunkte vertreten:
Unproblematisch:
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Es mache einen Unterschied, ob man am Ende nur die Möglichkeit habe, dem Abkommen nicht zuzustimmen oder ob man das Abkommen vorher selbst mitgestalten kann.
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TTIP sei demokratisch noch nicht problematisch, weil bislang noch kein Text des Abkommens vorliege. Das bedeute eben auch nicht, dass die USA am längeren Hebel säßen.
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TTIP sei demokratisch nicht problematischer als andere völkerrechtliche Verträge.
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TTIP sei aufgrund des Verhandlungsmandats der Kommission nicht demokratisch problematisch, vielmehr finde bloße Panikmache statt.
Problematisch:
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Aufgrund der geringen Wahlbeteiligung, des Einflusses eurokritischer Parteien und der Tatsache, dass sich viele Unionsbürger nicht richtig vertreten fühlen, sei es schwierig, dass die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfänden.
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TTIP sei auch ohne Vorliegen des genauen Inhalts problematisch, insbesondere bzgl. des Investitionsschutzes, wie man gerade am Beispiel von Vattenfall sehen könne.
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Problematisch sei, dass man sich nun einmal für die repräsentative Demokratie entschieden habe. Dann könne man in gewissen Bereichen, die einem gerade passen, nicht auf einmal direkte Demokratie verlangen.
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Sollte ein solch wichtiges Abkommen, das eingehalten werden muss (pacta sunt servanda), nicht partizipativer sein?
Wurden alle Aspekte erwähnt?
David Krappitz Mitglied JEB
Demokratie ist die politische Form kollektiver Selbstbestimmung, in welcher ein wie auch immer definiertes "Staatsvolk" die Regeln des gemeinsamen Lebens definiert. Es stellt daher ein Grundproblem des Abschlusses internationaler Verträge dar, dass sie zwischen mehrere demokratischen Legitimationssubjekten ("Staatsvölkern") geschlossen werden.
Die Selbstbestimmung jedes einzelnen Legitimationssubjektes reduziert sich somit auf die Bereitschaft der anderen Legitimationssubjekte, die eigenen Vorstellungen mitzutragen. Beim Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages werden die eigenen Vorstellungen dadurch gewahrt, dass der Vertrag nach seiner Unterzeichnung ratifizert wird (oder eben nicht). Im Vergleich zu rein nationaler Entscheidungsfindung reduziert sich damit natürlicherweise nicht nur der Umfang möglicher Selbstbestimmung, sondern auch das Gestaltungsverfahren.
Üblicherweise scheint diese Tatsache als unproblematisch wahrgenommen zu werden, da sie in den wenigsten Fällen thematisiert wird. TTIP hat jedoch eine mediale Aufmerksamkeit erzeugt, die für diese Problematik sensibilisiert hat, und zwar in mehrerlei Hinsicht:
Erstmals wurde im jetzigen Umfang die Geheimhaltung der Verhandlungsdokumente kritisiert. Damit wird vor allem das oben erwähnte aus demokratietheoretischer Sicht reduzierte Gestaltungsverfahren angegangen: Wenn schon am Ende die Volksvertretung (europäisches Parlament + ggfs. nationale Parlamente) sich einer "Friss oder stirb"-Entscheidung ausgesetzt sieht, besteht dann nicht zumindest ein demokratischer Anspruch darauf, die Verhandlungsinhalte frühzeitig zu kennen, um seine Ansicht dazu zum Ausdruck bringen zu können? Überwiegt in der Hinsicht tatsächlich das Geheimhaltungsinteresse der Verhandlungsführer, um ihre eigene Position gegenüber dem Verhandlungsgegner zu stärken? Oder ist der demokratische Kollateralschaden, den eine solche Geheimhaltung erzeugt, nicht viel gewichtiger? Haben die Grünen im Europaparlament nicht letztlich die europäische Demokratie gerettet, indem sie das Mandat gegen den Willen des Rates veröffentlicht haben?
Darüber hinaus umfasst TTIP eine Problematik, die aus der Geschichte der europäischen Integration eigentlich bereits bekannt sein sollte: Wenn wir einen gemeinsamen Markt mit anderen Staaten schaffen, dann impliziert das gemeinsame Regeln. Diese Regeln werden gemeinsamen mit den anderen Staaten beschlossen (vgl. oben erwähnte Reduzierung der selbstbestimmten Regelfindung). Diese Regelfindung fand im Beispiel der EU nicht nur im Abschluss völkerrechtlicher Verträger (z.B. EWG-Vertrag) statt; vielmehr hat die EU Organe eingerichtet, die über den Vertragsschluss hinaus eine gemeinsame Regelfindung vornimmt. (Diese Regelfindung sollte ursprünglich rein technischer Art sein, also die Harmonisierung bestehender nationaler Regelungen, hat sich aber mit der Verdichtung des Regelnetzes immer weiter politisiert (Fragen des Umwelt- oder Verbraucherschutzes, Datenschutz, Schutz kultureller Errungenschaften etc.)).
Die EU hat versucht, diese nationale Selbstbestimmung so lange wie möglich dadurch aufrecht zu erhalten, dass das beschließende Organ, der Rat, zur Beschlussfassung eine Einstimmigkeit erforderte. Dies ähnelt der völkerrechtlichen Vertragsschließung; auf diesem Wege kann kein Staat zu etwas verpflichtet werden, was er nicht zuvor (meist im Wege der Kompromissfindung) selbst unterschrieben hat. Seit dem Fall des Einstimmigkeitsprinzips durch die Einheitliche Europäische Akte (1986) kann ein EU-Mitgliedstaat bei der europäischen Entscheidungsfindung überstimmt werden, und seit den Maastricht- und Lissabon-Reformen ist das Europäische Parlament als gleichwertiger Co-Gesetzgeber an die Seite des Rates getreten.
Im Ergebnis kann heute kein europäischer Staat mehr die europäische Gesetzgebung im Alleingang bestimmen. Die nationalen Rechtsordnung haben sich für das europäische Recht geöffnet (Permeabilität der Rechtsordnungen) und der Wächter auf der Brücke in die deutsche Rechtsordnung besteht nur noch in den Vorstellungen einiger Verfassungsrichter.
Wo liegt der Bezug zu TTIP? Im Gegensatz zu den europäischen Verträgen wird TTIP sehr viel mehr technische Details enthalten, als dies etwa der Vertrag von Lissabon tut. TTIP wird damit vergleichbar mit einem riesigen Gesetzgebungspaket, das zu ganz vielen handelsrelevanten Fragen Entscheidungen trifft und Regeln festlegt. Was in der EU Rat und Parlament im Laufe der Jahrzehnte an gemeinsamen Regeln geschaffen haben, soll TTIP nach detaillierter Aushandlung im Wege eines Vertragsschlusses schaffen.
Diese geballte Setzung materiellen Rechts im Wege eines einzigen Rechtsaktes stiftet Verwirrung: Wo ansonsten im Parlament und zwischen den Staaten monate- oder jahrelang über einzelne Themen diskutiert wird, die letztendlich individuell beschlossen oder zurückgewiesen werden, soll jetzt über einen völkerrechtlichen Vertrag dieser ganze Diskussionsprozess umgangen werden? Und das womöglich ohne die Möglichkeit, (verfassungs-)gerichtlich gegen einen solchen Vertrag vorzugehen (auch internationale pacta sunt servanda)?
Selbst wenn also theoretisch durch die Ratifikation (oder Nichtratifikation) die individuellen Interessen der Vertragspartner gewahrt werden könnten: Wird das Europäische Parlament denn tatsächlich ein so umfangreiches Regelwerk ablehnen, wenn ihm (bzw. der Bevölkerung) daran einzelne gravierende Aspekte nicht gefallen? Sollte nicht lieber im Vorfeld MIT den Bürgern geklärt werden, welche Inhalte sie im Abkommen überhaupt wiederfinden wollen und welche nicht? Ist damit nicht das herkömmliche Verfahren zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge vollkommen überholt, insbesondere wenn sie einen derartigen Umfang annehmen?
Und mal einen Schritt weitergedacht: Die hier entworfene Idee des transatlantischen Freihandels - was trennt diese Idee eigentlich von der Vorstellung, die die europäischen Staaten in den 50er-Jahren entwickelt haben, die eines gemeinsamen Marktes? Wenn man die Sache schon angeht, will man sie nicht richtig angehen? Will man nicht anstelle eines riesigen undurchsichtigen Regelpakets transatlantische Gremien schaffen, die sich dieser Regelsetzung im Einzelnen und mit demokratischer Öffentlichkeit und gemeinsamer Beschlussfassung annehmen? Hoppla, sprechen wir hier nicht plötzlich von einem transatlantischen Ministerrat, vllt sogar einem transatlantischen Parlament?
Es klingt verwegen, solche Gedanken zu äußern. Aber seien wir mal ehrlich: Fällt euch eine demokratischere Variante ein, um einen transatlantischen Markt zu verwirklichen? Klar, man könnte es einfach sein lassen. Willkommen im 21. Jahrhundert.