+5

Toleranz ist die falsche Utopie


Foto: dpaMacht die ARD einen Denkfehler, wenn sie sich eine Woche lang dem Thema Toleranz widmet? Im Bild: Eines der Kampagnenmotive der ARD-Themenwoche. Bild: BR/Thomas Leidig


Ein Beitrag von Johanna Braun

Toleranz: ein Begriff, der immer wieder auftaucht, im Zusammenhang mit Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfen, Sexualität, Behinderungen und Menschen, die nicht aussehen, wie Biodeutsche. Die ARD veranstaltet derzeit eine ganze Woche zu diesem Thema. Bereits im Vorfeld ist das Konzept an einigen Stellen umstritten, hier eine Stellungnahme der ARD. Gleichzeitig widmet auch die Süddeutsche Zeitung dem Thema ein eigenes Rechercheprojekt.

Toleranz tritt als etwas Positives auf, in Abgrenzung zu Intoleranz. Aber nicht nur das: Toleranz wird auch als Gegenstück zu Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung verkauft – und hier liegt der Denkfehler.

Toleranz hat nichts mit geschätzter Vielfalt zu tun, nichts mit einer offenen Gesellschaft, nichts mit gelebter Pluralität, Respekt und Akzeptanz. Im Gegenteil, das Wort Toleranz kommt von lateinischen „tolerare“, „ertragen“, „erdulden“, „aushalten“. Toleranz impliziert, dass es eine allgemein akzeptierte Norm gäbe und dass es Abweichungen davon gäbe, die von den Mitgliedern der Gesellschaft ertragen werden müssen. Toleranz reduziert Menschen auf das, was sie von der Norm unterscheidet. Menschen, die im Laufe ihres Lebens auf einmal ein solches, nicht der Norm entsprechendes, Merkmal hinzugewinnen, merken dies besonders deutlich.

Beispiel: Zunächst sind sie einfach Frau X oder Herr Y, von manchen Menschen gemocht, von anderen nicht, aus unterschiedlichen Gründen. Dann ist da auf einmal Frau X, die nach einem Autounfall körperlich sehr eingeschränkt ist und froh sein kann, dass sie immer noch Teil der Gesellschaft sein darf, obwohl es ihren Mitmenschen immer wieder Toleranz abverlangt, geduldig zu warten, bis sie mit ihrem Rollstuhl vor ihnen aus der U-Bahn gekommen ist. Oder da ist dann Herr Y, der Mitte 40 ein Coming-out als bisexueller Mann hatte, aber dennoch von Bekannten weiterhin auch als fairer Sportler, fleißiger Facharbeiter und guter Vater gesehen wird. Letzteres wird von nun an jedoch extra betont.

So impliziert Toleranz, dass der oder die Tolerierte dankbar sein müsste, trotz seines oder ihres zu tolerierenden Merkmals nicht völlig ausgegrenzt, sondern großzügig von der normgerechten Mehrheit erduldet oder gar angenommen und akzeptiert, zu werden. Wer tolerant ist, signalisiert dabei auch, dass er oder sie sich von dem zu tolerierenden Attribut distanziert. Toleranz weist daher auch immer auf ein ungleiches Mächteverhältnis hin, wobei jene, die der Norm entsprechen, sich über die anderen stellen und somit vermeintlich die Machtposition inne haben. All dies bedeutet, dass Toleranz an sich bereits Ausgrenzung beinhaltet.

Toleranz ist zwar besser als Intoleranz aber auch nicht viel mehr. Medien und Meinungsführende sollten damit aufhören, diesen Begriff und das was er bedeutet als große Errungenschaft unserer Gesellschaft zu loben oder als erstrebenswertes Ziel hochzuhalten. Sie sollten mehr wollen und weiter gehen, denn eine tolerante Welt ist die falsche Utopie. Nach Ausgrenzung, Diskriminierung und Intoleranz dürfen wir nicht bei Toleranz stehen bleiben. Ziel muss es sein, eine Gesellschaft zu kreieren, in der alle Menschen einen Platz haben, ungeachtet irgendwelcher Merkmale, die als Makel angesehen werden. Es wird Zeit, den nächsten Schritt zu gehen, hin zu Respekt jeden Individuums, zu selbstverständlicher Akzeptanz aller und zu kompromissloser rechtlicher Gleichstellung. Erst wenn Toleranz überflüssig ist, ist diese Gesellschaft das, wofür sie sich jetzt schon lobt: offen, vielfältig und vorurteilsfrei.


Dieser Text erschien zunächst auf GRÜN IST LILA


Kommentare

  • Danke für diesen wichtigen Beitrag! 'Aushalten' ist das Stichwort, nichts weiter passiert innerhalb der Normgesellschaft Deutschland. Wir mögen glauben an einigen Stellen fortschrittlich zu sein, ich glaube das ist vorgeschoben. Sexismus und Rassismus liegen schrecklich nah beieinander und prägen für mich die deutsche Mehrheitsgesellschaft, wenngleich unterschwellig, nie laut herausgetönt liegen exklusive Ressentiments so vielen unter der Haut. Heut Abende diskutiert Frank Plasberg zum einhundertsten Mal ob der Islam zu Deutschland gehört, angekündigt wie folgt: "Ob IS-Terror in Syrien oder radikale Salafisten in unseren Städten: Der Islam erscheint vielen Deutschen fremd und bedrohlich. Aber darf man von islamischen Extremisten auf die ganze Religion schließen? Oder ist der Islam ein Glaube wie jeder andere?" So viele Suggestivfragen habe ich lang nicht aneinander gereiht gesehen, die Fragestellung allein reicht aus deutlich zu zeigen wie eng wir alle noch immer den Blick halten. Mehr als Intoleranz zeugt diese Haltung von Respektlosigkeit und bodenloser Dummheit.

    • Hallo Moseni! Ich hoffe, Du hast auch vor drei Tagen Hart aber Fair gesehen zum Thema "„Deutschland und der Islam – wie passt das zusammen?“ - ISIS, Kopftuch, alles eins. Diese Art von "Diskussion" ist für mich die Konstruktion von Fremdheit, das Schüren 'deutscher' Kleinbürger-Kontakt-Angst (die dann auch via 'Gästebuch' brav artikuliert und vorgelesen wurde). Hat die ARD ein Ressentiment-Problem?

      Ganz generell zum Thema: Neben der beschriebenen Akzeptanz (Johanna Braun) und der schlichten Rechtslage, was nicht verboten ist, ist erlaubt (MisterEde) würde mich eine Diskussion über Verständnis und Empathie interessieren.

      ISIS-Kämpfer lassen sich zum Beispiel mit der Verheißung anwerben, Rache an muslimischen Opfern des Westens zu üben. Ich finde, dieser Debatte könnte man sich auch mal stellen, indem wir uns einmal in diese Gedankenwelt hineinversetzen, statt sie nur zu 'verbieten' zu wollen, Was wäre denn, wenn iranische Truppen neben dem Vatikan stationiert wären (analog zu amerikanischen neben Mekka)? Die wirtschaftliche, politische und militärische Dominanz des Westens ist uns so selbstverständlich, dass wir sie überhaupt nicht reflektieren, nicht mal im Ansatz, schon gar nicht in der ARD.

      • Hallo Bachmann. Ich muss das hier 'mal loswerden, auch wenn dieser Thread hier dann vielleicht ein wenig aus dem Ruder läuft. Die ARD-Sendung, die Du angesprochen hast war der schreiende Gegensatz zu allem was man unter Toleranz, Respekt oder vielleicht sogar Empathie verstehen kann. Eine journalistische Unverschämtheit auf BILD-Niveau! Dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland Aiman A. Mazyek, Sohn einer Deutschen, eines gebürtigen Rheinländers mit syrischem Vater, den verbalen Unsinn eines Recep Erdogan in Sachen „Rolle der Frau in der Gesellschaft“ vorzuhalten war eine Frechheit. Was soll das? Außerdem wissen Menschen wie Plasberg oder Bischof Huber genau, das die Umma anders organisiert ist als meisten streng hierarchisch gegliederten christlichen Kirchen, in denen die theologische Deutungshoheit bestimmten Personen vorbehalten bleibt. Hier konnte man das bundesdeutsche Gegenteil von Toleranz oder Respekt besichtigen oder andersherum den Versuch jeden Dialog unmöglich zu machen.

        • Hallo nemo, an solcherlei Tiefe (wie funktioniert die Umma?) scheint mir eine Talkshow wie Hart aber Fair überhaupt nicht interessiert. Es ging um pauschalen Bekenntnisdruck. Bekenne! Bekenne!

          Das ist so, als ob man dem evangelischen Herrn Huber befiehlt: "Sagen sie, dass sie mit der Homophobie von Hardcore-Katholiken nicht einverstanden sind! Sagen Sie, dass der evangelikale Kreationismus Unsinn ist! Und wenn sie es einmal gesagt haben, reicht "uns" das nicht. Sagen sie es noch mal und noch mal! Das wird man doch wohl im Stundentakt von Leuten wie ihnen erwarten dürfen! Sie sind doch einer von denen! Warum tun sie denn nichts gegen christliche Fanatiker in Afrika? Wie passt denn überhaupt das Christentum zu Deutschland?'

    • Hallo moseni,

      in vielen Punkten halte ich unsere Gesellschaft schon für fortschrittlich, sei es nun bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder bei den individuellen Freiheiten. Dem Grundtenor deines Beitrags stimme ich aber voll zu, weil Ressentiments bis hin zur offenen Ablehnung von „Anderem“ leider noch immer weit verbreitet sind.

  • „Toleranz impliziert, dass es eine allgemein akzeptierte Norm gäbe und dass es Abweichungen davon gäbe, die von den Mitgliedern der Gesellschaft ertragen werden müssen.“

    Für Toleranz braucht es keine „allgemein akzeptierte Norm“, da Toleranz nur die Akzeptanz der Abweichung zur eigenen individuellen Norm darstellt. Ob ich das Verhalten eines Menschen toleriere oder nicht, bleibt somit einzig und alleine mir überlassen. Das heißt aber nun nicht, dass es keine „allgemein akzeptierte Norm“ gibt. Diese nennt sich dann allerdings ganz einfach Gesetz und eine Gesellschaft hat stets all das zu tolerieren, was nicht verboten ist.

    Daneben geht es bei Toleranz, denke ich, auch nicht um die Frage der individuellen Werte und Normen eines Menschen, sondern um die Frage, wie groß die Abweichung von dieser Norm sein darf.

    Beispiel „Beschneidung (von Jungen)“: Über die Frage, ob das gesellschaftlich toleriert ist, muss man sich nicht streiten, denn das kann man ganz einfach im Gesetz nachlesen. Es ist erlaubt und somit gesellschaftlich toleriert. Davon unberührt bleibt aber die individuelle Einstellung zu diesem Thema. Wie tolerant nun „A“ bei diesem Thema ist, hängt also davon ab, wie weit „B“ mit seiner Einstellung zum Thema von „A“ abweichen kann, ohne dass „A“ dies als Normenverstoß betrachtet.

  • Liebes Forum,

    ein Hinweis. MisterEde hat zwei neue Diskussionen gestartet, in denen er scharfe Kritik am Feminismus übt - und in denen es auch um Gleichstellung geht.

  • Hallo Johanna Braun, ich gebe Dir in allen Punkten Recht. Inzwischen bin ich aber mit dieser Themenwoche ganz zufrieden, wenn die Debatte dazu führt, dass ihre Voraussetzungen in sich zusammenfallen, dass sie sich selbst überflüssig macht.

    Ein Beispiel. Auf einem der ARD-Themenwochen-Plakate ist ein Mann im Rollstuhl zu sehen - Titel: Freund oder Außenseiter?

    Das soll provozieren, und natürlich lasse ich mich gern provizieren, vor allem wenn ich dafür Rundfunkgebühren bezahlt hab. Also wo führt diese Provokation hin?

    Erkenntnis 1: Ich kenne diesen Mann nicht. Ich habe keine Ahnung ob er ein Außenseiter ist oder viele Freunde hat. Ob er und ich Freunde sein könnten, müsste man persönlich herausfinden. Ich fände es jedenfalls anmaßend, ihn gleich zum Freund erklären, nur weil er im Rollstuhl sitzt. Er und ich haben genauso das Recht und vielleicht das Bedürfnis, Todfeinde zu werden.

    Erkenntnis 2: Natürlich meint die ARD nicht diesen konkreten Mann, sondern alle körperlich behinderten Menschen. Das macht die Frage "Freund oder Außenseiter?" natürlich noch wahnwitziger. Sie drängt zu einer Entscheidung, die völlig gaga wäre. Als ob ich 7 Millionen behinderte Menschen in Deutschland einfach mal und "ohne Ansehen der Person" zu meinen Freunden erklären könnte (ohne sie vorher zu fragen!). Das wird schon technisch schwierig, will ich sie alle zum Geburtstag anrufen.

    Fazit: Das Gute an der Kampagne kann sein, dass man die eigene Urteilsfähigkeit hinterfragt und drauf kommt, dass 'unpersönliche' Urteile und Urteile über Gruppen Banane sind. Gut, dass wissen wir schon seit der Grundschule, spätestens, aber die Erinnerung braucht's ab und zu. Denn der Kopf reduziert Komplexität, ordnet schnell zu und ein anhand aller möglichen Merkmale.

    • Liebe Johanna Braun,

      ich stimme dir vollkommen zu, dass der Begriff Toleranz rückwärtsgewandt ist und es viel mehr um Begrifflichkeiten (und damit auch Lebensgrundsätze) geht, die darüber hinausgehen, wie Respekt oder gar Solidarität.

      Und auch ich stimme mit Volker Beck überein, wenn er kritisiert, dass man keine menschlichen Existenzen in Frage stellen darf.

      Aber: vielleicht hat die ARD ja auch verstanden, dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist und sagt sich: lieber mal kleine Brötchen backen und dafür ein bisschen schocken?! Nur so kommen wir an unsere debilen Social Media Nutzerinnen und Nutzer heran.

      Problem hierbei: wenn ich davon ausgehe, dass meine Zuschauerinnen und Zuschauer nicht ganz so smart sind, traue ich ihnen auch nicht zu über die Provokation hinaus zu denken. Und dann bleibt es – wenn überhaupt – bei der Toleranz. Oder bei verstärkten Vorurteilen, die einige schon fast vergessen hätten.

      • Wenn ich ein Mensch anderer Hautfarbe oder schwul oder Mutter eines schreienden Kindes oder Rollstuhlfahrerin wäre, fühlte ich mich durch diese ARD-Kampagne verletzt. Setzt sie doch voraus, dass ich zu den Schwachen und Diskriminierten gehöre, denen gegenüber die Mehrheitsgesellschaft Toleranz im Sinne Johanna Brauns, dass ich ertragen werden muss, geübt werden muss. Es ist keine Diskussion auf Augenhöhe. Muss ich nicht auch, als zu einer Minderheit gehörend, die Mehrheitsgesellschaft ertragen? So kommt man nicht weiter.

        In allem menschlichen Zusammenleben muss man sich "gegenseitig ertragen", egal, ob genuin Deutsche mit Menschen mit Migrationshintergrund zusammenleben, oder ob nur Deutsche mit deutschem Stammbaum zusammen leben. Dafür gibt es Regeln, an die sich alle halten. Lieben müssen und können sie sich oft nicht. Aber aus der Einhaltung der Regeln kann manchmal - im besten Fall - Sympathie erwachsen.

        Ich finde Louisas Begriff der "Solidarität" in diesem Zusammenhang als sehr hilfreich. Weil er auf Zweiseitigkeit beruht. Menschen, die einer Minderheit in unserer Gesellschaft angehören, brauchen die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft, aber umgekehrt können Angehörige der Minderheit auch sehr gefragt sein in ihrer Solidarität zu Angehörigen der Mehrheit. Dafür gibt es sicher Beispiele. Wie schwarze Familien Freude bringen in das Leben einer alten, einsamen Nachbarin oder Behinderte mit ihrer Fröhlichkeit und Selbstverständlichkeit verhärtete Menschen aufweichen...

        Ich empfinde die ARD-Themenwoche zu Toleranz als nicht weiterführend. Sie reißt eher Gräben ein, die privatim in weiten Teilen der deutschen - zu 20 % aus ausländischer Herkunft bestehenden- Gesellschaft schon längst überwunden sind.

        Der Begriff "Solidarität" ist eher weiterführend, denn die wirklich menschlichen, existentiellen Probleme betreffen alle, egal mit welchem Hintergrund. Eine solidarische Nachbarschaft, die Traurigkeiten miteinander teilt, aber auch sich miteinander freut und feiert, ist toll, entsteht aber nur spontan, nicht unter moralischem Druck.

        Die Erziehungskampagne der ARD ruft nur psychologische Widerstände in denen indirekt als intolerant vorausgesetzten Starken, Deutschen, Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft Angesprochenen hervor.

        • Hallo Doro! Du hast Recht, die "Objekte" der Toleranz wählt die ARD schon recht fies aus. Was ist mit dem Wüterich-Hausmeister Müller oder dem eitlen Chef Meyer? Die müssen ja nicht weniger "ertragen" werden. Schön auf den Punkt gebracht mit diesem BILD.