Berlins Griechenland-Politik: Richtig oder fatal?
Eurogipfel: Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Foto: Der Rat der EU.
Griechenland soll neue Kredithilfen erhalten. Die Gläubiger - allen voran Deutschland - haben sich mit ihren Bedingungen weitgehend durchgesetzt. Doch bei vielen Beobachtern bleibt ein fahler Beigeschmack. Wie zufrieden seid ihr mit Berlins Griechenland-Politik?
Ein Beitrag von Redaktion
Die Euroländer haben Griechenland den Weg zu neuen Kredithilfen geebnet (hier geht es zum Beschlusstext). Der Finanzbedarf beläuft sich auf geschätzte 82 bis 86 Millarden Euro in den kommenden drei Jahren. Offen bleibt, ob das griechische Parlament und die Parlamente der Geberländer die Beschlüsse absegnen. In Griechenland droht eine Spaltung der Regierungspartei Syriza.
Die Gläubigerstaaten machen Athen - teils neue - Auflagen, darunter: eine Mehrwertsteuererhöhung, eine Rentenreform, ein Treuhandfonds unter europäischer Aufsicht (der Privatisierungen abwickeln soll), Liberalisierungen der Wirtschaft, Reformen des Arbeitsmarkts, der Justiz und der griechischen Statistikbehörde.
Vertreter der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des IWF (auch als Troika bekannt) sollen ihre Arbeit in Athen wieder aufnehmen. Die griechische Regierung soll alle relevanten Gesetzesvorhaben vorab mit den drei Institutionen abstimmen. Athen hat sich vergeblich gegen die Beteiligung des IWF und die Kontrollen durch die Troika gewehrt.
Setzt Griechenland die Reformen um, kann es laut Beschluss auf einen Tilgungsaufschub und längere Laufzeiten der alten Kredite hoffen. Einen nominalen Schuldenschnitt schließt das Papier aus. Vom Tisch ist ein zeitweiser Euro-Austritt, den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vorübergehend ins Spiel gebracht hatte.
Diskussion: Wie bewertet ihr Berlins Griechenland-Politik?
Insbesondere die deutsche Verhandlungstaktik wird äußerst kontrovers diskutiert. Hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die griechische Regierung mit einem "Katalog der Grausamkeiten" maximal gedemütigt und Europa gespalten? Möchte Schäuble Griechenland aus der Währungsgemeinschaft werfen, um andere Euro-Staaten gefügig zu machen - so wie der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis mutmaßt? Oder hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Ende alles richtig gemacht?
Zur deutschen Position möchten wir euer Meinungsbild einholen:
Fühlt ihr euch von der Bundesregierung gut vertreten? Haltet ihr die neuen Kredithilfen für richtig? Wünscht ihr euch andere Bedingungen? Seht ihr eine deutsche Dominanz in der Eurozone - und falls ja, wie hilfreich ist sie aktuell?
Links
- Euro Summit: Euro Summit Statement, 12. Juli 2015
Zur Debatte auf Publixphere
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MisterEde: Griechenland-Krise: Ausweg Kapitalverkehrssteuern?
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Linn Selle: Generation Europa: Wir sind anders...und wir sind viele
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European Republic: Europa: Eine neue Version ist verfügbar
nemo
DAS KALTE HERZ*
Sorry Leute, aber ich sehe nur Verlierer. 200 Jahre nach Waterloo ein Schlachtfeld bis an den Rand gefüllt mit politischen Leichen.
Griechenland & das Griechische Volk: Griechenland gerät mit der Annahme der Forderungen seiner Gläubiger quasi unter Besatzungsrecht und verliert einen Teil seiner völkerrechtlichen Souveränität. Was hier politisch passiert, welche Gesetze beschlossen oder sogar zurückgenommen werden, bestimmen in Zukunft Eurogruppe (Sparen) und NATO (nicht sparen bei der Verteidigung, i.e. Bestellungen bei deutschen Rüstungskonzernen). Keines der Probleme Griechenlands wird auch nur annähernd gelöst, nur wieder falsche Hoffnung geweckt und Zeit gekauft. Es gehört gar nicht so viel ökonomischer Sachverstand stand dazu die nächsten Monate zu beschreiben. Die massiven Steuererhöhungen verbunden mit den Rentenkürzungen und weiteren Entlassungen im öffentlichen Dienst wird das BIP um weitere 5 bis 6% schrumpfen lassen. Als Folge steigt die Schuldenquote weiter und die angepeilten Primärüberschüsse 2015 bis 2017 werden sich als Illusion erweisen. Dann folgen - so ist es jetzt in Brüssel vereinbart worden - automatisch weitere Sanktionen, d.h. weitere Einsparungen und Kürzungen. Eine Elendsspirale ohne Ende. Aber vielleicht ist das ja das Szenario, das die Eurogruppe will.Nach Grexit, Grexit auf Zeit nun doch irgendwann der von Griechenland endlich selbst erklärte Staatsbankrott. Für die Eurogruppe die zwar teurere aber gesichtswahrende Version.
Die Europäische Zentralbank: Sie wird weiter gezwungen offen EU-Recht zu brechen und die insolventen griechischen Banken über ELA solange am Leben zu erhalten bis sich die europäische Konkurrenz dann beim Verkauf der zuvor rekapitalisierten Banken zugreift. EZB-Chef Drahgi musste sich in diesem Zusammenhang in Brüssel, wie die Financial Times berichtete, am Sonntag von Schäuble zusammenfalten lassen, als er Einwände vorbrachte. Draghi ist jetzt ein demontierter Euro- und Währungshüter. Die vielzitierten Märkte werden das zu werten wissen. Was sein „ … whatever it takes!“ jetzt noch wert ist wird man sehen.
Deutschland: Deutschland ist auf der Beliebtheitsskala im Ausland seit diesem Wochenende wieder beim Jahr 1939 angekommen. Der deutsche Finanzminister gibt den Gott des Gemetzels und die Herrscherin kommt so imperial daher wie einst Wilhelm II. So sieht es zumindest das Ausland. Schäuble war sogar so instinktlos den 50 Milliarden-Fond mit dem griechischen Tafelsilber, den es jetzt geben wird, direkt bei der deutschen KfW ansiedeln zu wollen, wo er selbst Chairman oft The Board ist. Der Hegemon in Europa hat sich selbst enttarnt, so könnte man sagen und so sieht es auch das Ausland. Wer seit Samstag in den Blogs und Foren des Auslands unterwegs war, den vielen hunderttausend Tweets im Hashtag #ThisIsACoup gefolgt ist, wer die New York Times oder die Washington Post gelesen hat oder sich die Titelseiten vom Guardian und der Liberation von Montagmorgen angeschaut hat, weiß wovon ich spreche. Hier sind in Europa Illusionsblasen geplatzt und ist in der Tat Vertrauen verloren gegangen, auf unglaubliche und irreparable Weise. Zudem hat sie die Akzeptanz der Europäischen Idee in Deutschland nachhaltig beschädigt. Wer in diesen letzten Tag in den Foren von SPON, ZEIT oder SÜDDEUTSCHER ZEITUNG unterwegs war fühlte sich auf eine PEGIDA-Versammlung versetzt. Und diese Foren waren noch die harmlosesten.
Die deutschen Medien: Sie haben, blind der Regierungslinie folgend, die Chance verpasst einmal beispielhaft ihre Unabhängigkeit und ihren Wert für dieses Gesellschaft zu beweisen und nicht Deutschland & die Griechen, sondern Europa & die Griechen zum Thema zu machen. Wer sich am Wochenende wie ich ein breites und unabhängiges Bild von den Verhandlungen in Brüssel machen wollte, war auf ausländische Medien angewiesen. Meine Großeltern mussten seinerzeit auch schon auf BBC London zurückgreifen um das ganze Bild zu bekommen.
Die SPD: Sie hat ihr europapolitisches Reputation verspielt. Ein Vorsitzender, der über alles und schließlich doch gar nichts informiert ist und eine Partei, die den grazilen Pirouetten ihres schwergewichtigen Vorsitzenden auf dem europapolitischen Glatteis mit angehaltenem Atem folgt. Wohl ahnend, dass in der nächsten Kurve der Sturz droht.
Die Demokratie in Europa: Wieder einmal war der europäische Souverän, zumindest wenn man davon ausgeht, dass er nicht Angela Merkel heißt, nicht gefragt. Oder hat irgendjemand etwas vom/ aus dem europäischen Parlament in dieser Sache gehört? Parlamentspräsident Martin Schulz durfte (nur ausnahmsweise und dank freundlicher Zustimmung der Eurogruppe) dann auch bei den Verhandlungen nur am Katzentisch Platz nehmen.
Europa: Das Europa, das sich seinen Bürgern nach diesem Gipfel zeigt, hat eine andere Qualität. Cem Özdemir hat darauf gestern zu recht hingewiesen. Das Europa der Werte, der Solidarität, das große Friedensprojekt Europa ist nun endgültig hinter das Europa der großen Geldkreisläufe, des (neoliberalen) Marktes und der nationalen Einzelinteressen zurück getreten. Was sich bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen schon andeutete ist nun Gewissheit geworden. Der Erhalt des EURO und des gemeinsamen Währungsraumes ist die einzig sinnstiftende Idee der Europäischen Union geworden.
Dies ist zugleich vielleicht auch der einzig positive Aspekt in diesem Drama. Er bietet die Chance Europa neu zu denken. Ohne den historischen wie emotionalen Hintergrund zweier entsetzlicher Kriege, die bei der Gründung der EWG noch ein so überragende Rolle gespielt haben. Ohne Ideologie und falsche Illusionen. Für mich heißt das, den Resetknopf drücken für ein Europa, das möglicherweise erheblich kleiner sein wird und ein Europa, das den Sprengsatz EURO dauerhaft entschärft. Entweder indem es akzeptiert, das eine Währungsunion immer auch eine Transferunion ist oder indem es dieses Projekt beendet.
*Es lohnt sich Wilhelm Hauffs gleichnamiges Märchen noch einmal im Lichte der Ereignisse der letzten Tage zu lesen. Sehr empfohlen!