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Europas Demokratie unter Druck - ein Lösungsvorschlag


FotoImage: Chickenonline (CC0)

Einigen EU-Ländern – darunter Polen – wird aktuell vorgeworfen, mit europäischen Grundsätzen der Demokratie zu brechen. David Krappitz Mitglied JEB schlägt vor: Bürger, Parteien und Staatsorgane sollten sich auf europäisch verbindlich verankerte Rechte berufen können...


Ein Text von David Krappitz Mitglied JEB (english version), erstmals erschienen auf treffpunkteuropa.de

Die Gefahren für die Demokratien in Ungarn und Polen wurden bis ins Detail analysiert. Ich möchte einen pragmatischen und demokratischen Vorschlag machen, wie sie künftig gebannt werden könnten. Den juristischen Einschlag des Artikels bitte ich vorab zu entschuldigen, halte ihn bei der Lösung des Problems jedoch für notwendig. Ich bitte auch zu beachten, dass der Ansatz eine Antwort auf das rechtliche Strukturdefizit der EU darstellt. Er behandelt jedoch nicht das Wachstum populistischer Strömungen, welches ganz klar ein soziales und kein rechtliches Problem darstellt.

Für die Bundesrepublik enthält das Grundgesetz einige essenzielle Normen, die – gäbe es sie auf der europäischen Ebene – eine Entwicklung wie in Ungarn oder Polen unmöglich machen oder zumindest stark beschränken.

Zentral dafür ist Art. 31 GG mit seinem simplen wie klaren Wortlaut: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“ Anders als auf europäischer Ebene herrscht auf der bundesstaatlichen damit der Geltungsvorrang, das heißt dem Bundesrecht entgegenstehendes Landesrecht ist nichtig. Auf europäischer Ebene gilt hingegen der Anwendungsvorrang: Hiernach ist das Recht der Mitgliedstaaten, welches dem Unionsrecht zuwiderläuft, nicht nichtig, aber es wird schlichtweg nicht angewandt. Es bleibt damit bestehen für den Fall, dass sich die Unionsrechtslage ändert oder das nationale Recht sich auf einen rein nationalen Anwendungsfall beschränkt. Diese unterschiedlichen Systeme stellen für meinen Lösungsvorschlag jedoch kein grundlegendes Problem dar.

Zum Zweiten enthält das Grundgesetz in seinen Artikeln 1-19 die Grundrechte. Diese binden neben den Organen des Bundes ohne Einschränkung auch sämtliche Organe der Länder und Kommunen. Die Grundrechte schützen nicht nur das Privatverhalten von Individuen, sondern enthalten auch politische Rechte, etwa die „Kommunikationsgrundrechte“ in Art. 5 (Meinungs-, Informations-, Pressefreiheit), Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) und Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit). Ähnlich werden in Art. 12 GG (Berufsfreiheit) unternehmerische Tätigkeiten geschützt, die von politischer Bedeutung sein können. Hinzu kommt in Art. 14 GG der Schutz des Eigentums.

Eine noch viel tiefer gehende Aufzählung von Grundrechten gibt es auch auf Ebene der Europäischen Union, die sogenannte Grundrechtecharta. Seit dem Vertrag von Lissabon ist diese auch Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts und gilt somit gegenüber allen Akten von Organen der Europäischen Union. Das große Manko der Grundrechtecharta ist jedoch, dass sie in den Mitgliedstaaten nur „bei der Durchführung des Rechts der Union“ Anwendung findet. Die genaue Bedeutung dieser Einschränkung ist unter Juristen umstritten. Ganz sicher umfasst sie jedoch keine rein nationalen Akte von Organen der Mitgliedstaaten. Ein Unionsbürger kann sich daher etwa nicht auf Grundlage der Grundrechtecharta gegen ein national ausgesprochenes Arbeitsverbot als Journalist wehren, wohingegen dies in Deutschland auf Grundlage des Grundgesetzes möglich wäre.

Die Bedeutung von Staatsprinzipien

Neben den Grundrechten garantiert auch eine Reihe weiterer Normen die Funktionsweise der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese nennen sich „Staatsprinzipien“ und sind dem Bürger oft weniger geläufig als die weithin bekannten Grundrechte.

Im Grundgesetz finden sich diese Prinzipien in Art. 20 und umfassen insbesondere das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Beide Prinzipien klingen zunächst abstrakt, haben jedoch sehr konkrete rechtliche Implikationen. Das Demokratieprinzip schützt etwa die freie Willensbildung des Volkes, das Rechtsstaatsprinzip schützt vor willkürlichen Akten der Staatsgewalt. Parteien sind als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft in Art. 21 GG besonders geschützt und haben etwa gem. Art. 21, 3 GG einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen Parteien. Die Aushebelung der Prinzipien in Art. 20 ist darüber hinaus durch die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG geschützt, das heißt selbst eine Regierung mit verfassungsändernder Mehrheit könnte diese Prinzipien nicht abschaffen. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Verfahren, nach welchen Bürger, Parteien und Staatsorgane gegen Verstöße gegen diese Prinzipien vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und sich so zur Wehr setzen können.

Auf europäischer Ebene fehlt beides: Zwar enthält Art. 2 EUV eine Aufzählung der „Werte“, auf welche die EU sich stützt, darunter etwa Demokratie und Gerechtigkeit. Diese sind jedoch rein deklaratorischer und unverbindlicher Art. Eine Garantie bestimmter Staatsprinzipien wie die oben genannten wäre ein Instrument, um die Verfestigung einer bestimmten Regierung an der Macht eines Mitgliedstaates zu verhindern oder zumindest massiv zu erschweren.

Die Lösung liegt beim Volk

Um die Demokratie in den EU-Staaten nach dem Modell des Grundgesetzes zu schützen, bräuchte es keine neue "Staatsanwaltschaft" auf EU-Ebene (wie sie Ludger Wortmann JEF hier zur Diskussion stellt). Auch politische Sanktionsmechanismen haben sich beispielsweise bei der Haushaltsdisziplin nur bedingt bewährt. Vielmehr würden die Betroffenen in den Mitgliedsstaaten gestärkt. Bürger, Parteien und Staatsorgane könnten sich auf ihre im europäischen Verfassungsrecht verbindlich verankerten Rechte berufen. Der Europäische Gerichtshof kann sich dann auf die Seite der Betroffenen stellen und ihnen zu ihrem verbrieften Recht verhelfen.

Anstelle einer repressiven Lösung wäre dies eine korrektive, die ihre Wurzel und ihren Antrieb in der europäischen Bevölkerung selbst hat. Die Akzeptanz dieses Ansatzes zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die bundesdeutsche Bevölkerung gemeinhin dem Bundesverfassungsgericht mehr Vertrauen entgegenbringt als dem Bundestag. Aus föderalistischer Sicht gilt es, den Bürger zum Zentrum der politischen Macht zu machen. Mit den Instrumenten von Grundrechten und Staatsprinzipien kann er zum Beschützer der europäischen Demokratie werden. Diesen Ansatz sollte die Junge Europäische Föderalisten daher verfolgen.

Poland on my mind

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Kommentare

  • Ein Ausweg aus der falschen Erzählung

    Lieber David, ich werde mal nicht so tun, als würde ich mich mit den juristischen Anforderungen Deines Vorschlags auskennen :). Aber mir gefällt der Gedanke, "den Bürger zum Zentrum der politischen Macht zu machen" - allein um den EU-Diskurs wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.

    Im aktuellen Konflikt "EU-Kommission vs. Polnische Regierung" zeigt sich deutlich: So funktioniert das nicht. Nationale Akteure haben es sehr leicht, die eigene Bevölkerung gegen die EU-Institutionen aufzuwiegeln. So meint die Ministerpräsidentin Szydlo: "Wir lösen unsere Probleme im Land in Einklang mit unseren nationalen Interessen. Die Beamten internationaler Institutionen dürfen uns diese Interessen nicht vergewaltigen."

    In diesem Bild werden die Kommission oder der Rat mitnichten als Anwälte der polnischen Bürger wahrgenommen, die ihre europäischen Rechte verteidigen, sondern als ausländische Aggressoren, als 'Vergewaltiger'. Und diese Rhetorik kann deshalb so erfolgreich sein, weil die Identifikation der Bürger mit den eigenen EU-Institutionen - seien wir ehrlich - in breiten Teilen der Bevölkerung (auch in Deutschland) nicht existiert.

    Kleiner Exkurs hierzu: Man konnte dieses Muster auch gut im österreichischen Präsidentschafts-TV-Duell sehen. FPÖ-Mann Hofer warf dem "Pro-Europäer" Van der Bellen vor, eher Martin Schulz und Jean-Claude Juncker gegenüber loyal zu sein, anstatt (wie angeblich er selbst) dem österreichischen Volk. Eigentlich hätten da alle Österreicher laut lachen müssen. Schließlich haben sie selbst das EU-Parlament gewählt, Schulz ist auch "ihr" EU-Parlamentspräsident, und Juncker "ihr" Kommissionschef. Aber wir wissen, dass da kaum einer lacht. Diese Masche funktioniert. Auch Van der Bellen war situativ nicht in der Lage, diese Frontstellung "Das Volk vs. EU-Schickeria" als aberwitzig paradoxe Fiktion zu entlarven.

    Der Fall muss "Polnische Regierung vs. polnische Bürger" heißen

    Also zurück zu Deinem Text. So lange die Identifikation mit der EU-Kommission, dem EU-Parlament oder dem Rat nicht existiert (was ja auch nachvollziehbare Gründe hat, weites Feld), halte ich den Weg über verbriefte europäische Rechte und einen glaubwürdigen Europäischen Gerichtshof für richtig. Unabhängig von den politischen Akteuren oder der aktuellen Politik (man kann ja Juncker, Schulz und ihre Politik mit Fug und Recht ganz furchtbar finden, wir leben in einem freien Europa) könnte ich mich auf jeden Fall mit meinen europäischen Rechten identifizieren, sie auch gegenüber meiner nationalen Regierung selbstbewusst und stolz geltend machen. Dann wäre das eben kein Konflikt "EU-Kommission vs. Polen", sondern "Polens Regierung vs. polnische Bürger", wobei sich letztere als Europäer nicht alles gefallen lassen müssen und notfalls vor den EuGH gehen können.

    Aber hierzu müsste meines Erachtens auch der Europäische Gerichtshof erstmal an Vertrauen gewinnen. Ich erinnere mich an viele Gesprächsrunden, in der laut bei der Vorstellung gelacht wurde, der EuGH könnte auch nur einen EU-Rechtsbruch im Rahmen der Euro-Rettungsmaßnahmen ahnden. Unabhängig von den konkreten Fällen, er steht einfach im Ruf, den dominierenden politischen Kräften nicht in die Parade zu fahren.

    Haben wir noch einen Werte-Konsens?

    Und schließlich: wir nehmen jetzt einfach so an, dass wenigstens über das Grundgesetz und die EU-Charta kompletter Konsens herrscht. Aber (ich musste das mit Erschrecken feststellen): das ist nicht so. Manche Pegiden identifizieren sich auch nicht mehr mit dem Asylrecht im Grundgesetz (das in manchen Augen der DDR übergestülpt wurde), und die Charta würden sie vielleicht auch anders schreiben, würde man sie fragen. Speziell im 'Osten' (Europas) scheint mir die 'ownership'-stiftende Partizipation bei unserer europäischen Wertefindung doch recht spärlich ausgefallen zu sein. Ist das jetzt irgendwie gemeinsam nachzuholen, im lauten Getose der Populisten?

    • Danke David und Alex für eure Beiträge :)

      Für mich ist der Wunsch nach einer europäischen Verfassung als Schutz gegen nationalen Parteien zwar begründet, aber es passt nicht in der heutigen Realität. Davor braucht es eine politische Kohärenz in der EU, die eine solche Verfassung ermöglicht.

      Auf diesem Wege sind für mich zwei wichtige Schritte noch nicht gemacht. Erstens die Vereinigung von Parteien für die Umsetzung von europaweiten Programmen. Zweitens die Verankerung der EU-politischen Themen in den nationalen Debatten, das heißt, dass in den einzelnen Nationen besser verstanden wird, wie wichtig die EU für fast alle politische Maßnahmen ist.

      • Hallo FelixP,

        eine solche Verfassung braucht meines Erachtens vor allem die Zustimmung des Volkes, das diese Verfassung der jeweiligen nationalen Verfassung vorsetzt.

        Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es möglich wäre, in einem inneren Kern der EU diesen Schritt zu gehen, während die EU-Verträge die Basis der Zusammenarbeit der 28 EU-Länder bleiben. Den Gedanken habe ich auch hier zur Debatte gestellt.

  • Hiernach ist das Recht der Mitgliedstaaten, welches dem Unionsrecht zuwiderläuft, nicht nichtig, aber es wird schlichtweg nicht angewandt.

    Andersrum! Unionsrecht, das nationalem Verfassungsgrecht entgegensteht, ist nichtig.

    Darauf setzt ja z.B. das ganze Verfahren vor dem BVerfG gegen die deutsche Beteiligung an den Euro-Rettungsschirmen. Und gerade deshalb ist eine europäische Verfassung ja auch überhaupt notwendig. Ein Grundgerüst für eine solche Verfassung habe ich auch schon seit einiger Zeit auf meinem Rechner liegen.

    • David Krappitz Mitglied JEB
      +1

      Immer interessiert an solchen Ideen - magst du dein Grundgerüst teilen?

      • Hallo David,

        meine Verfassung zielt auf ein Kerneuropa und insofern ordne ich drei Ebenen. Aber das Grundgesetz schafft es ja in unschlagbaren drei Worten "Bundesrecht bricht Landesrecht". Insofern müsste man nur irgendwo in den EU-Vertrag schreiben: "EU-Recht bricht nationales Recht."

        Das Problem, dann ist der EU-Vertrag grundgesetzwidrig und würde wahrscheinlich auch den Verfassungen aller anderer EU-Länder widersprechen.

        Beste Grüße,
        Mister Ede