Spitzenkandidaturen: Droht Europa ein Debakel?
Im Europawahlkampf warb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür, dass ihr europäischer Parteifreund Jean-Claude Juncker (EVP) Kommissionspräsident wird. Nach seinem Wahlsieg bleibt Junckers Nominierung ungewiss. Foto: dpa
Ein Diskussionsanstoß der Redaktion
Liebe Publixphere-Community,
in der Diskussion "Europe reloaded? Eure Bilanz der Europawahl..." gibt es einen regen Austausch zur Frage, ob Jean-Claude Juncker, Spitzenkandidat der - bei der Europawahl siegreichen - europäischen Konservativen (EVP), Kommissionspräsident werden sollte. Wir stellen diese Entscheidung daher noch einmal gesondert zur Diskussion.
Fragen
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seht ihr die EU-Staats- und Regierungschefs in der Pflicht, Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident vorzuschlagen? Was wären die Konsequenzen, wenn sie es nicht tun? Müssten sich die Wähler getäuscht fühlen? Wäre das ein Eklat für Europas Demokratie?
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Kann die EU es verkraften, wenn Jean-Claude Juncker gegen den Widerstand der Länder Großbritannien, Schweden und Ungarn Kommissionspräsident wird?
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sind die Spitzenkandidaturen eine gute Idee oder muss das Konzept begraben werden, da Länder wie Großbritannien und Schweden es gar nicht praktiziert haben und nicht mittragen?
Hintergrund für Neueinsteiger: Worum geht es?
- Erstmals stellten die europäischen Parteienfamilien vor der Europawahl 2014 Spitzenkandidaten auf. Die Idee dahinter: Nach der Wahl schlagen die EU-Staats- und Regierungschefs (Europäischer Rat) dem EU-Parlament den Spitzenkandidaten als Kommissionspräsidenten vor, dessen europäische Parteifamilie die meisten Stimmen erhielt (Siehe auch Hintergrund zur "Europawahl 2014").
- Das Verfahren soll dem Wähler mehr demokratische Mitbestimmung ermöglichen und die Wahlbeteiligung fördern ('Personalisierter Wahlkampf'). Bislang einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs (Europäischer Rat) hinter verschlossenen Türen auf einen Kandidaten - der einer breiten europäischen Öffentlichkeit oftmals unbekannt war
- Möglich macht das neue Modell der Spitzenkandidaten der Lissabon-Vertrag von 2009. Demnach müssen die EU-Staats- und Regierungschefs bei der Kandidatenfindung den Ausgang der Europawahl "berücksichtigen" (Siehe Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags). Umstritten bleibt, wie eng "berücksichtigen" auszulegen ist. Muss der Europäische Rat den 'siegreichen' Spitzenkandidaten als Kommissionspräsidenten vorschlagen oder nur 'irgendeine' Person aus den Reihen der siegreichen Partei?
- im Wahlkampf ließen die Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker und Martin Schulz keinen Zweifel daran: sie bewerben sich bei den Wählern um das Amt des Kommissionspräsidenten.
- Die großen Fraktionen des Europaparlaments bestehen nun darauf, das Konzept der Spitzenkandidaturen auch nach der Wahl durchzuhalten: der Europäische Rat müsse zunächst den siegreichen Juncker vorschlagen, der dann eine Mehrheit im EU-Parlament zu suchen hätte. Zustimmen müssen mindestens 376 der 751 Abgeordneten. Scheitert Juncker im Parlament, wäre der zweitplatzierte Martin Schulz (SPE) "an der Reihe".
- Allerdings halten Großbritannien, Schweden und Ungarn die Spitzenkandidaturen nicht für bindend. Die Regierungschefs in Großbritannien und Ungarn sprechen sich dezidiert gegen Juncker aus. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) legte sich zunächst nicht eindeutig auf den Luxemburger fest: "Die EVP hat ihn nominiert. Diese ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen erledigt werden", so Merkel unmittelbar nach der Wahl. Am 30. Mai sprach sie sich jedoch in Regensburg für Jean-Claude Juncker als neuen EU-Kommissionspräsidenten aus. "Deshalb führe ich jetzt alle Gespräche genau in diesem Geiste, dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte."
- Der Europäische Rat will erst beim kommenden Gipfel am 26. und 27. Juni über die Kandidatenfrage entscheiden. Die Regierungschefs bestimmen mit qualifizierter Mehrheit, wen sie nominieren. Diese ist erreicht, wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Einem Bericht von ZEIT Online zufolge versucht Großbritanniens Premier David Cameron eine Sperrminorität gegen Juncker zu organisieren. Camerons Tory-Partei ist nicht in der EVP organisiert.
- Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn nennt das Ergebnis des EU-Gipfels kurz nach der Wahl (27. Mai 2014) "ernüchternd bis erbärmlich". "Es wird auf Zeit gespielt, es wird auf Müdigkeit gespielt, mit dem Ziel, das zu erreichen, was eigentlich im Kopf von Cameron und einigen anderen ist."
Links zur Diskussion:
Rolf-Dieter Krause (ARD Brüssel): "Merkels Spiel ist ungewöhnlich dumm", Kommentar zur Wahl des Kommissionspräsidenten, 28.05.2014
Jakob Augstein (SPON): "EU-Wahl: Angela Nazionale". Kolumne zur Wahl des Kommissionspräsidenten, 29.05.2014
Jon Worth (EU-Blogger): Where now for the Spitzenkandidaten process after EUCO? Keep calm, Kommentar zur Wahl des Kommissionspräsidenten, 28.05.2014
Philipp Hacker-Walton (Kurier): Merkels Zögern ist ärgerlich, aber nicht überraschend, Kommentar zur Wahl des Kommissionspräsidenten, 30.05.2014
FAZ: "Europa wird direkt ins Herz getroffen" - Interview mit Jürgen Habermas (30.05.2014)
EU-Parlament: Erklärung der Konferenz der Präsidenten (Fraktionsvorsitzende) zum Wahlverfahren (Englisch), 27.05.2014
David Krappitz Mitglied JEB
Man stelle sich eine Bundestagswahl vor: Die Parteien stellen ihre Kandidaten auf, die Kanzlerkandidaten leiten den Wahlkampf und sie duellieren sich in landesweiten TV-Debatten. Der Wahltag kommt, die Wähler geben ihre Stimme für ihre bevorzugte Partei oder ihren bevorzugten Kanzlerkandidaten ab. Am Sonntagabend sitzen alle vor dem Fernseher, und die Hochrechnungen verkünden, wer die Wahl gewonnen hat. Diese Partei und ihr Kanzlerkandidat haben selten eine absolute Mehrheit, also braucht es noch eine Weile, bis die Koalitionsverhandlungen beendet sind und die Regierung steht. Der Kanzlerkandidat muss formell vom Bundespräsidenten vorgeschlagen und vom Bundestag gewählt werden. Eine ganz normale Bundestagswahl; das Volk hat gewählt.
Jetzt stelle man sich vor, der Sonntagabend hat das Wahlergebnis verkündet, und am Dienstag der folgenden Woche treffen sich erstmal die Ministerpräsidenten aller Bundesländer, um das Ergebnis zu bewerten. Da stellt die MPin von NRW fest, wie dramatisch ihre Partei die Wahl verloren hat, und will erstmal das GG ändern. Der MP von Sachsen weiß gar nicht mehr, wen er vor der Wahl nochmal als Kanzlerkandidaten unterstützt hat. Und der MP von Bayern will am liebsten gar keinen Kanzler über sich.
Und der Wähler, der durch die Wahl seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat?
Die Kanzlerkandidaten, die monatelang Wahlkampf gemacht haben?
Wie würde Merkel in einer solchen Situation wohl reagieren?
Vermutlich würde sie schäumen vor Wut, ob der schlaflosen Nächte, ob des Tritts in das Gesicht des Wählers - und es würde ein Wort vorherrschen: UNDEMOKRATISCH.
Genau diese Situation herrscht nach der Europawahl: Das Volk hat gewählt, der Sieger steht fest, Koalitionsverhandlungen stehen in Aussicht.
Und was machen Merkel und die anderen Regierungschefs? Siehe oben.
Es gibt in der Politik der westlichen Welt vermutlich kein in seiner Bedeutung niederschmetternderes Wort als jenes, um dieses Verhalten zu beschreiben. Es ist UNDEMOKRATISCH.
Freundlicher Gruß an den Wähler.