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Europäische Spitzenkandidaten upgraden: Lehren aus der #GreenPrimary


picture alliance / dpaDie vier Kandidaten der Europäischen Grünen Partei: Rebecca Harms, José Bové, Monica Frassoni und Ska Keller. Foto & Teaser: dpa / picture alliance


Auf Anfrage von Publixphere erläutert Johannes Hillje, Leiter des Europawahlkampfs 2014 der Europäischen Grünen Partei, die Aktion #GreenPrimay, die europaweite Online-Abstimmung zu den Spitzenkandidaten der Europäischen Grünen für die Europawahl.

Die Nominierung von Jean-Claude Juncker, dem Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), für die EU-Kommissionspräsidentschaft durch die europäischen Staats- und Regierungschefs ist ein wichtiger Etappensieg. Für die europäischen Bürger, für das Europäische Parlament, für die europäische Demokratie. Leute wie David Cameron sprechen von einer Niederlage für Europa und den erstmalig demokratisierten Nominierungsprozess als “schädlich für die Demokratie”. Diese zunächst erstaunlich anmutende Gesinnung beruht auf einer intergouvernementalen Interpretation der EU. Doch wie erklärt man damit die Realität der EU-Institutionen, in der sich Abgeordnete im Parlament in transnationalen Fraktionen zusammenschließen und über Normen für die gesamte EU abstimmen?

Zweifelsohne war der Spitzenkandidatenprozess der Europawahl behaftet von Defiziten und Cameron merkt zurecht an, dass Juncker auf keinem Wahlzettel stand und von keinem Bürger direkt gewählt wurde. Die Schlussfolgerung hieraus muss allerdings sein, die Nominierung der Spitzenkandidaten demokratischer, öffentlicher und transparenter zu organisieren. Die beiden großen Parteien sollten in ihre Überlegungen dazu auch die #GreenPrimary miteinbeziehen – die europaweite Online-Abstimmung der Europäischen Grünen über ihr Spitzenduo für die Europawahl. Mit einer Beteiligung von knapp 23,000 grünen Sympathisanten lief auch dieser Prozess nicht optimal, aber die überwiegend positiven Erkenntnisse dieses einmaligen Experiments europäischer Basisdemokratie machen es für 2019 zu einem überaus relevanten Ansatz.

Beteiligt haben sich an der #GreenPrimary Menschen aus allen 28 EU-Mitgliedsstaaten. In Spanien war die Beteiligung am dritthöchsten, obwohl kein spanischer Grünpolitiker im Rennen war. Live-Debatten in zehn europäischen Städten weckten Interesse für die vier Kandidaten José Bové, Monica Frassoni, Rebecca Harms und Ska Keller, die allesamt auch für das Europäische Parlament kandidierten. Dass Menschen in Spanien, Irland oder Kroatien für einen französischen, deutschen oder italienischen Kandidaten gestimmt haben, hat die Primary europäischer gemacht als die Europawahl selbst und bescherte den Gewinnern Ska Keller und José Bové eine EU-weite Unterstützung ihrer Führungsrolle im grünen Wahlkampf.

Neben der europaweiten Mobilisierung von Teilnehmern, liegt die eigentliche Leistung der #GreenPrimary aber darin, dass eine europäische Öffentlichkeit geschaffen wurde. In einer Reihe von interaktiven Formaten mit individuellen oder allen Kandidaten nahmen etwa an einer Online-Debatte knapp 1,000 Menschen aus 43 (!) Ländern teil. Bei den Live-Debatten haben die Kandidaten nicht nur mit dem Saal- sondern auch mit einem Online-Publikum interagiert. Etwa bei einer Veranstaltung in Berlin, beantwortete das Podium Fragen, aus den Niederlanden, Großbritannien und Spanien getwittert wurden.

Es gilt festzuhalten: damit die europäischen Spitzenkandidaten im Wahlkampf auch als solche in ganz Europa wahrgenommen werden und eine Diskussion über ihre politische Existenzberichtigung nach der Wahl vermieden wird, müssen die Parteien ihre Nominierungsprozesse öffentlicher und demokratischer gestalten. Die #GreenPrimary hat hierfür Pionierarbeit geleistet, auf der die Parteien in fünf Jahren aufbauen sollten.


Kommentare

  • Lieber Herr Hillje, danke für diesen Kommentar. Und für die Möglichkeit, im Nachgang der Europawahlen hier mit Ihnen zu diskutieren! Die Green Primaries waren meiner Meinung nach ein wirklich wichtiger Schritt hin zu mehr Bürgerbeteiligung. Die ganze Sache mit den Spitzenkandidaten war ja noch sehr neu.... ich muss sagen, dass ich erst über die Green Primaries Kampagne auf diese ganze Sache aufmerksam geworden bin. Mich hat das Ganze über europabegeisterte Freunde auf Facebook erreicht.

    Und damit sind wir wahrscheinlich auch schon beim Knackpunkt: ich konnte als Nicht-Mitglied der Grünen kaum fassen, dass eine Partei wirklich so fortschrittlich (und mutig!) agieren und den Prozess öffnen würde. Es wäre wirklich nur wünschenswert, dass andere Parteien auf diesen Zug aufspringen! Leider kenne ich viele Menschen, die überhaupt nichts von dieser Möglichkeit mitbekommen haben. Das ist keine Kritik, sondern eher eine Feststellung. Diese Aktion hat hoffentlich das Eis für zukünftige Wahlkämpfe gebrochen.

    In Ihrer Antwort auf sabinemueller weisen Sie darauf hin, dass Sie beim nächsten Mal auch eine Papieralternative schaffen wollen würden. Das wäre sicher nicht schlecht. Sie schreiben, dass besonders viele junge Menschen teilgenommen haben. Ich nehme an, dass die Wahl der (wie ich finde sehr überzeugenden) Ska Keller anstelle von Rebecca Harms auch darauf zurückzuführen war (?). Die Green Primaries haben jedenfalls gezeigt, wie sehr junge Menschen doch für solche Prozesse zu gewinnen sind. Das war wichtig!

  • Adorno ist dagegen
    +3

    Lieber Herr Hillje,

    Ihre Ansicht zu “Primaries” finde ich interessant, ich halte sie aber – mit Verlaub – für reichlich naiv.

    Die Grünen konnten sich ein solches Experiment leisten, aber auch dies scheint –folgt man der innerparteilichen Kritik in Deutschland (Heiko Wundram - mit Wahlen spielt man nicht ) – nicht gelungen. Auch die österreichischen Grünen sind aus gutem Grund aus den Primaries ausgestiegen. Die Presse hat – abgesehen von ein paar Euro-Enthusiasten - kaum ein gutes Haar an den Primaries gelassen. (SZ zu den #GREENPRIMARIES)

    Meine These: bieten nun auch die Volksparteien Primaries an, wird dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Ein Modell für Europa ist das in meinen Augen keineswegs!

    Wer hätte denn eine Primary bei den großen Volksparteien wohl eher gewonnen: ein Politiker vom Typ Jacques Delors oder wohl eher ein Nigel Farrage?

    Nicht umsonst sieht die Verfassung vieler Länder keine Direktwahl von Regierungschefs zu. In Frankreich wiederum, wo Staatsoberhaupt und Regierungsched in Personalunion direkt gewählt werden, haben wir den Front National als Wiedergänger und ich sehe die Zeit kommen, in der die “Grand Nation” von Marine Le Pen an der Spitze regiert wird. In den USA, in der Primaries zu den festen Ritualen der Präsidentschaftswahlen gehören, bietet sich ein besonders desaströses Bild: die in der Öffentlichkeit diskutierten politischen Probleme haben mit der Realität kaum etwas zu tun, die Tea Party – eigentlich eine Minderheit - verzerrt den politischen Diskurs bis zu Unkenntlichkeit und schickt sich an, die republikanische Partei vollkommen zu übernehmen.

    Ich erkenne an, dass sie sich mit den Primaries um die Bildung einer europäischen Öffentlichkeit bemühen. Diese entsteht jedoch meines Erachtens nicht über Personen oder Personalisierung (selbst so kosmopolitische Politiker wie Dany Cohn-Bendit sind außerhalb von Frankreich und Deutschland kaum bekannt!), sondern über Themen. ACTA, TTIP, die Wasserprivatisierung – bei diesen Themen entstand eine echte europäische Öffentlichkeit. Bei der Europäischen Bürgerinitiative zur Wasserprivatisierung haben Mehr als 1 Millionen Menschen unterschrieben. Bei den Green Priamries haben hingegen nur knapp 23000 Menschen mitgemacht.

    Die Europäische Grüne Partei hat dies verschlafen und auf langweilige Netzprimaries sowie auf Personalisierung gesetzt - meines Erachtens ein Holzweg. Deswegen: motten sie bei der EGP die Primaries ein und setzen sie auf Kampagnen zu europäischen Themen. So schaffen sie viel eher eine europäische Öffentlichkeit.

    • Aber nur über die Themen gehen ist doch fast unmöglich...auch wenn ACTA scheinbar viele Menschen mobilisiert hat, glaube ich trotzdem, dass es neben den Themen auch Identifikationsfiguren geben muss. Dass es bei den Green Primaries nur so wenige Beteiligung gab, lag wahrscheinlich daran, dass die Kandidaten im Vordergrund standen (gut) aber die Themen, für die sie standen zu sehr in den Hintergrund gerückt sind (nicht so gut). Klar, die junge charismatische Ska Keller finden alle sympathisch, nur für welchen Themen steht sie? Das weiß ich bis heute nicht! Deswegen stimme ich zu, macht Politiker-Marketing über Themen - die aber von einer Person, die dafür einsteht, kommuniziert werden.

    • Johannes Hillje Europäische Grüne Partei
      +2

      Ich möchte auf einige Ihrer Kommentare reagieren:

      Die österreichischen Grünen waren nicht prinzipiell gegen die Primary, sondern sind kurz vor Beginn ausgestiegen, da eine frühere nationale Online-Primary durch Missmanagement zum Desaster wurde und diesem Instrument daher in Österreich sehr viel Misstrauen entgegen gebracht wurde.

      Ein Blick über den deutschen Tellerrand zeigt, dass im Gegensatz zu Deutschland in vielen europäischen Ländern positiv über die #GreenPrimary berichtet wurde. Schauen Sie doch einmal in unsere europaweite Presseschau: http://europeangreens.eu/green-primary-media

      In Deutschland hat die Berichterstattung zum einen berechtigte Kritik hervorgebracht, zum anderen aber auch einen sehr abwegigen Spin herbeigeführt (etwa die europäische Gesamtwählerschaft als Maßstab für unsere Beteiligungszahlen zu nehmen).

      Ich teile Ihre Sorgen bezüglich Marine Le Pen und den nächsten Wahlen in Frankreich, bin aber überzeugt, dass das französische Volk es wie bei Le Pen senior nicht zum Äußersten kommen lassen wird. Kleiner Exkurs: es ist interessant zu beobachten, wie Marine Le Pen schon jetzt wieder Abstand von ihrer großen Wahlkampfforderung (“raus dem Euro”) genommen hat. Die Franzosen werden durch solch offensichtlich populistische Manöver verstehen, dass sie keine seriöse und zuverlässige Präsidentin, die das Land “rettet”, sein kann.

      Meine Erfahrung zeigt, dass zum erfolgreichen Agenda-Setting auch Personalisierung gehört, d.h. Themen müssen mit Personen kombiniert werden. Insbesondere wenn Sie die Öffentlichkeit im wirklichen Sinne und nicht nur ein Fachpublikum erreichen wollen.

      Insgesamt halte ich Mittel wie Partizipation und Personalisierung wichtig, um politische Diskurse nicht weiter zu reinen Eliteveranstaltungen verkommen zu lassen und wieder mehr Menschen in die Gestaltung der Gesellschaft einzubeziehen. Das ist im übrigen auch eine der originären Funktionen von Parteien.

      Beste Grüße, JH

      • CarstenWag ist dafür
        +1

        Danke für diese ausführlichen Antworten! Das macht einiges viel klarer. Und dem Punkt, Agendasetting + Personalisierung kann ich nur zustimmen. Beide Aspekte sind sehr wichtig - es muss eben nur die richtige Balance gefunden werden.

  • Lieber Herr Hillje, mich würde sehr interessieren ob es schwer war Ihre Partei von der Kampagne zu überzeugen? Wie groß war Ihr Team in den verschiedenen Ländern? Ich hoffe sehr, dass Sie die Primaries bei den nächsten Europawahlen wieder abhalten!

    • Johannes Hillje Europäische Grüne Partei
      +1

      Liebe Maxi,

      die Mobilisierung und auch die lokalen Ressourcen der Mitgliedsparteien sind sehr unterschiedlich. In Ländern wie Spanien haben sehr kleine Teams (2-3 Mitarbeiter) sehr erfolgreich gearbeitet. In anderen, auch größeren Ländern, hat die Mitgliedspartei dem Projekt etwas weniger Aufmerksamkeit geschenkt, da nationale Projekte Priorität hatten. Insgesamt haben wir unsere Mitgliedsparteien (wie auch im richtigen Wahlkampf) eine Kampagnen-Toolbox angeboten, deren Instrumente direkt einsetzt waren, aber auch an nationale Kontexte angepasst werden konnten.

      Beste Grüße, JH

  • Ich finde den Ansatz gut - zumindest hat er versucht, den Nominierungsprozess transparenter zu machen. Schade nur, dass die Beteiligung nicht so hoch war...ich glaube beim SPD Mitgliedervotum, was ja ebenso - nur nicht online - ablief, waren es mehr als 300.000 Stimmen. Das ist schon ein riesiger Unterschied.

    Lieber Herr Hillje, vielen Dank für den Beitrag! Einige Fragen habe ich allerdings noch: Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen? Wurde die Aktion nicht genug beworben (vielleicht auch aus Vorsicht vor dem 1. Experiment?)? Oder lag es eher am trockenen Thema der Europawahl und der Spitzenkandidaten, dass die Beteiligungsquote so niedrig blieb? Brauchen Politik und Online-Partizipationstools ein besseres Marketing, als es bisher über die "klassischen" Kanäle geschieht? Und: können Sie nachvollziehen, ob mit der Aktion eine andere oder sogar eine neue Zielgruppe von Grünen-Sympathisanten erreicht wurde?

    • Johannes Hillje Europäische Grüne Partei
      +4

      Liebe Frau Müller,

      Vielen Dank für Ihren Kommentar. Zu Ihren Fragen:

      Beim nächsten Mal würde ich eine Papieralternative zur Online-Abstimmung anbieten, soweit das finanziell und organisatorisch zu stemmen ist. Ich würde auch das Timing anders gestalten: die Primary hat zwischen November 2013 und Januar 2014 stattgefunden, das war eine Zeit, in der es noch keine öffentliche Debatte über die Europawahlen und schon gar nicht über die Neuheit der europäischen Spitzenkandidaten gab. Daher mussten wir in vielen Fällen erst einmal ausführlich erklären, wen wir da wählen, warum wir dies tun und welche Funktion die Gewählten haben werden.

      Ich glaube schon, dass es neue Kommunikationsstrategien braucht, um Interesse an unbeliebten politischen Themen (wie EU-Politik) zu wecken. Ein Mittel, das wir eingesetzt haben sind "Memes" in sozialen Netzwerken. Diese haben uns sogar einige Artikel in der Presse gebracht, z.B. http://www.welt.de/politik/deutschland/article122726726/Gruene-werben-mit-Katzen-fuer-Europa.html

      Wir haben aus Gründen der Datensparsamkeit keine demographischen Informationen über die Teilnehmer erhoben. Eine Studie über die Green Primary der Universität Pavia zeigt aber, dass überdurchschnittlich viele junge Menschen teilgenommen haben. Das ist im Lichte der extrem niedrigen Beteiligung junger Menschen an Europawahlen sehr positiv zu bewerten.

      Beste Grüße, JH

      • Hallo Johannes Hillje,

        erstmal finde ich es ehrenwert, dass die Gruenen es probiert haben - europaeisch. Was die Wirkung betrifft, nun ja. Selbst im Gespraech mit franzoesischen Ultra-Oekos blickte ich juengst in staunende Gesichter, als ich fragte, ob sie denn José Bové gewaehlt haetten. Von der Moeglichkeit hatten sie nichts mitbekommen. Aber kann ja noch werden.

        Prinzipiell glaube ich, fehlte es bei der Wahlmobilisierung mal wieder an konkreten EU-Entscheidungen in den kommenden fuenf Jahren, an denen man seine Wahlentscheidung haette fest machen koennen. Die grosse Ausnahme: TTIP. Ich kenne gleich zwei Menschen, die wegen TTIP gruen gewaehlt haben, weil sie, ganz klassisch und offline, ein Anti-TTIP-Faltblatt im Briefkasten fanden.

        Also wenn sie dass noch schaffen, diese "interfraktionelle" Indifferenz zumindest im Wahlkampf mal aufzubrechen, in Sach- und Streifragen zu zerlegen, dann wird die Wahl auch mehr mobilisieren. Aber eigentlich schreib ich hier der faslchen Partei, sie sind ja schon gut dabei.

        Defizitaer bleibt die EU-Demokratie natuerlich auch deshalb, weil das "Regierungs"-Programm, das Aufgabenheft der Kommission, erst nach den Wahlen von den Staats- und Regierungschefs aus dem Hut gezaubert wird. Vielleicht koennte es naechstes Mal vor der Wahl einen EU-Gipfel geben, der die Agenda der naechsten fuenf Jahre absteckt. Dann koennen die Wahler zumindest entscheiden, in welcher politischen Faerbung sie die Umsetzung gern haetten.

        • das sehe ich genau so, und genau das sollte schließlich in die lager- und parteiinternen entscheidungen miteinbezogen werden. Ebenso wie Adorno finde ich, dass politik zwar oft am charisma von persönlichkeiten hängt, dies aber immer zum kippen neigt. deshalb: themen und content, echte politiken statt gesichtern oder wenigstens eine gute mischung als echte alternative. ansonsten, ein spannendes ding, was ihr da versucht habt, weiter so!