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Mehr Demokratie oder "Klicktivismus"? Die internetgestützte Beteiligung an politischen Prozessen ist so verheißungsvoll wie umstritten. Ein Überblick
Von Alexander Wragge (zuletzt geändert: 4. März 2015)
Unter dem Begriff Online-Partizipation (oder auch E-Partizipation) werden verschiedene „elektronische“ Beteiligungsformen gefasst - von der reinen Information über Bürgerbefragungen bis zur Online-Petitition. Dabei ist es üblich, die Online-Wahl (E-Voting) nicht als Online-Partizipation zu bezeichnen, sondern gesondert zu fassen. Eine einfache Definition lautet: „E-Partizipation bedeutet Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen über das Internet. Wesentliches Ziel ist es, die Gesellschaft stärker in Prozesse zur Entscheidungsfindung von Politik und Verwaltung einzubeziehen.“ Letztlich gehört die Online-Partizipation zum großen Feld der politischen Teilhabe, die traditionell auch viele analoge Wege und Instrumente kennt (Petitionen, Beschwerden, Bürgerversammlungen etc.).
Formen der Online-Teilhabe
Online-Konsultation und Bürgerbefragung
Staatliche Stellen fragen Bürger, aber auch Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft online nach ihrer Meinung - etwa um Gesetzgebungen vorzubereiten. Ein Beispiel sind die Konsultationen der EU-Kommission. Aktuell erfragt die Brüsseler Behörde etwa online Positionen zum geplanten Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP). Die Antworten sind meist öffentlich. Die Konsultation dient dazu, ein Meinungsbild einzuholen, die Ergebnisse sind rechtlich aber nicht bindend.
Auch Städte und Kommunen nutzen Online-Plattformen, um bei den Bürgern Verbesserungsvorschläge einzuholen. So sammelt beispielsweise Darmstadt Ideen zur Haushaltsvergabe (siehe Bürgerhaushalt 2014), die gemeinsam kommentiert und bewertet werden können. Weitere Beispiele sind „Frankfurt fragt mich“, „München Mitdenken“ und „Urban Living" in Berlin. Eine Übersicht über entsprechende Plattformen und Projekte bieten auch Zebralog.de, Kommune21.de und Politik.de
Online-Petitionen und Kampagnen
Online-Petitionen (auch "E-Petition") können beispielsweise beim Deutschen Bundestag eingereicht werden. Hiermit werden sowohl persönliche als auch öffentliche Anliegen (Forderungen, Beschwerden etc.) an den Petitionsausschuss des Bundestages gerichtet. Neben Parlamenten bieten auch nichtstaatliche Plattformen die Möglichkeit Online-Petitionen und Kampagnen zu starten, etwa Avaaz, Campact, Change.org und openPetition.
Im Fall des Bundestages gilt in der Regel: Wird eine Online-Petition innerhalb von 4 Wochen nach Eingang/Veröffentlichung von mindestens 50.000 Personen unterstützt, berät sie der Petititionsausschuss öffentlich. Der Petent darf sein Anliegen persönlich vorbringen (siehe auch Wikipedia zu „Petitionsrecht“). Das ist Kritikern zu wenig. Felix Kolb von Campact meint: "Der Petitionsausschuss ist (…) eher mit der zweiten Reihe von Politikern besetzt, das ist nicht der Ort, wo die politische Macht sitzt."
Ein weiteres Beispiel sind die Europäischen Bürgerinitiativen (EBI). Wenn eine Million Wahlberechtigte aus mindestens sieben Mitgliedstaaten innerhalb von 12 Monaten eine EBI unterstützen, muss sich die EU-Kommission mit ihren Forderungen befassen (siehe hierzu den Publixphere-Hintergrund „Europäische Bürgerinitiative"). Die EBI ist das weltweit erste Element grenzüberschreitender, partizipativer und digitaler Demokratie. Die Bürgerinitiative “Wasser ist ein Menschenrecht!” (Englisch: „Right2Water“) erreichte im Dezember 2013 mit rund 1,68 Millionen gültigen Unterschriften als erste das geforderte Quorum.
Politische Information
Zahlreiche staatliche Stellen informieren die Bürger online. Beispielsweise sind Gesetzentwürfe oder Sitzungsprotokolle über Bundestag.de abrufbar. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Abgeordnetenwatch.de oder Votewatch.eu liefern das (namentliche) Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter (Landes-, Bundes- und EU-Ebene). Das noch recht junge Portal Lobbycloud.eu sammelt Dokumente, die Lobbyisten EU-Abgeordneten zuschicken. Das Portal Fragdenstaat.de hilft Bürgern dabei, Anfragen an Behörden zu stellen.
Kommunikation und Diskussion
Auch die Kontaktaufnahme mit staatlichen Stellen und Politikern findet immer häufiger online statt. Die Portale Abgeordnetenwatch.de und Direktzu.de ermöglichen den Austausch zwischen Bürgern und Politik. Bei Abgeordnetenwatch.de beantworten Politiker Bürgeranfragen öffentlich. Auch über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter diskutieren Bürger mit Politikern. Auch Publixphere lädt Politiker, Akteure und Experten ein, sich an den Diskussionen der Community zu beteiligen. Über das Portal Die-Waehlerischen.de (Sachsen-Anhalt) können Interessierte ihre (politischen) Anliegen diskutieren und sich gegebenenfalls für gemeinsame Projekte zusammentun.
Kontroversen
Was bringt die Online-Beteiligung?
Umstritten ist, was die Online-Partizipation bringt. Kampagnen-Plattformen wie Campact und Avaaz verweisen auf zahlreiche Erfolge. Beispielsweise sammelten Aktivisten über Avaaz in kurzer Zeit 900.000 Unteschriften dafür, dass sich Textilunternehmen wie H&M zu höheren Sicherheitsstandards in ihren Kleiderfabriken - etwa in Bangladesch - verpflichten. Zahlreiche Unternehmen gaben dem Druck mit einer entsprechenden Vereinbarung nach.
Das EU-Parlament stoppte 2012 das geplante Anti-Produktpiraterie-Abkommen ACTA. 2,4 Millionen Unterschriften hatten ACTA-Gegner zuvor über Avaaz gesammelt. Wie entscheidend der Online-Protest gegen ACTA war, können natürlich nur die EU-Abgeordneten selbst einschätzen.
Flashmob gegen TTIP in Hamburg bei einer Wahlkampfveranstaltung der CDU. Der Offline-Widerstand organisiert sich oft online, etwa über die Facebookgruppe: "Stoppt Freihandelsabkommen TTIP". Foto: CC BY-NC 2.0 by campact.
Zugleich verlaufen auch zahlreiche Online-Kampagnen im Sand - bislang zum Beispiel die Forderung nach Asyl für den US-Whistleblower Edward Snowden. Kritiker warnen vor "Klicktivismus". Der linke Aktivist Micah White meint, die Reduktion auf Online-Petitionen und möglichst viele Klickzahlen könne politischen Bewegungen schaden. „Vorbei ist der Glaube an die Macht der Ideen oder die Poesie der Taten, die den sozialen Wandel schaffen“, so White im Guardian.
Auch von politischen Akteuren kommt Kritik. So sagte EU-Handelskommissar Karel de Gucht zu den Online-Protesten gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP: „Ja, diese Macht der sozialen Medien ist schon ungeheuer. Einerseits finde ich das gut, weil es zeigt, dass viele Leute sich für das Thema interessieren. Aber wenn man Tausende E-Mails mit nahezu identischem Inhalt bekommt, merkt man auch, dass es sich um gesteuerte Kampagnen mit viel Desinformation handelt.“ Angesprochen auf 500.000 Unterschriften gegen TTIP im Rahmen einer Campact-Kampagne zeigt sich der EU-Kommissar unbeeindruckt: „Wir müssen Politik für 500 Millionen machen."
Die CDU-Politikerin Christina Schröder hat sich entschieden, keine Bürgeranfragen über das Portal Abgeordnetenwatch.de mehr zu beantworten. Zur Begründung erklärte Schröder unter anderem: „Es ist schlichtweg unmöglich, alle diese Plattformen zu bedienen, zumal das Themenspektrum der Fragen sehr breit ist und die interne Organisation des Bundestages dadurch unterlaufen wird.“
Ein Eliten-Projekt?
Diskutiert wird auch die Frage, ob nur bestimmte internetaffine Personengruppen die Online-Teilhabe an politischen Prozessen prägen, und andere ausgeschlossen bleiben. Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) hat hierzu die "Partizipationsstudie 2014" (20. Juni 2014) erstellt. Demnach partizipieren online überwiegend jüngere Befragte und Akademiker. Männer sind häufiger aktiv als Frauen.
Die Hürden der E-Partizipation hat auch der SPD-Netzexperte Yannic Hahn in seiner Masterarbeit untersucht. Für den Bereich Stadtentwicklung kommt zu dem Schluss: "In den meisten untersuchten Fällen hat die E-Partizipation nicht zu mehr, sondern zu weniger Partizipation geführt."
Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Voss meint, der Anteil von politisch aktiven, latent aktiven und desinteressierten Bürgern sei immer ähnlich gewesen und werde das auch bleiben. Echte Beteiligung sei schließlich schon immer elitär gewesen.
Auch der Online-Partizipations-Experte Julian Jostmeier beobachtet, dass die großen Potenziale des Netzes für eine "deliberative Demokratie" im Sinne des Soziologen Jürgen Habermas noch lange ausgeschöpft werden.
Zur Psychologie hinter der Online-Partizipation schreibt das HIIG:
Je stärker die Selbstwirksamkeitserwartung einer Person ist, desto eher wird sie sich auch an online oder offline Formen von Partizipation beteiligen, weil sie dann auch eher erwartet, etwas erreichen zu können. Für Personen, die keine Wirkungsmächtigkeit ihres Handel erwarten, erscheint die Handlung auch nicht lohnenswert.
Auch stellt das HIIG fest, dass mit steigender Anzahl genutzter Partizipationsformen auch die Kreativität der Befragten wächst. Zur Interpretation heißt es:
Zunächst bedeutet Online-Partizipation das gemeinsame Nachdenken über und
Lösen von Herausforderungen. Das ist anstrengend. Je kreativer eine Person ist, desto leichter fällt diese Anstrengung, denn Kreativität und Problemlösung sind fast gleiche Konzepte. Zudem haben Personen mit einer ausgeprägten Kreativität auch mehr Vergnügen an Aufgaben, die genau ihre Kreativität fordern. Die Tätigkeit ist also für sie gleichzeitig wahrscheinlich weniger anstrengend und zudem angenehm fordernd.
Das HIIG fragt in einer Diskussion auf Publixphere nach der Bilanz und den Möglichkeiten der Online-Partizipation.
In den vergangenen Jahren stand auch zur Debatte, wieviele Menschen rein technisch von Online-Partizipation ausgeschlossen sind, weil sie nicht online gehen können oder wollen. Nach jüngsten Zahlen der EU-Kommission stieg die Internetnutzung durch Arbeitslose, Menschen mit geringer Bildung und ältere Bürger EU-weit von 41 auf 57 Prozent. Ingesamt liegt der Anteil der „Offliner“ EU-weit bei rund 20 Prozent (Siehe hierzu auch Heise.de).
"Shitstorms" / Online-Hetzjagd
In der Kritik stehen online artikulierte politische Forderungen, die sich gegen einzelne Personen richten. So verlangte eine Petition die Absetzung des ZDF-Talkshow-Moderators Markus Lanz, da dieser laut der Initiatoren „offenbar große Probleme damit hat, dem politischen Spektrum links von der Mitte mit einem Mindestmaß an Höflichkeit zu begegnen“. Ausgangspunkt war eine Sendung, in der Lanz der Linkspolitikerin Sarah Wagenknecht mehrfach ins Wort gefallen war.
Rund 233.000 Menschen schlossen sich dieser Petition an. Das ZDF nahm sie entgegen, hält aber an Moderator Lanz fest. "Die Journalistinnen und Journalisten des ZDF müssen kritisch fragen, daran wird sich überhaupt nichts ändern“, so Intendant Thomas Bellut (nachzuhören auf Soundcloud.com).
Auf Cicero Online kommentierte Christian Jakubetz hierzu, es sei ärgerlich, „dass das Netz mit seiner ganzen Kraft und seiner potenziellen Fähigkeit, mit ihm Dinge zu verändern, zu etwas gemacht wird, was es nicht sein sollte: nämlich zu einer Spielwiese für Themen aus der digitalen Erregungsdemokratie.“ Deren wichtigstes Merkmal sei das „permanente Verwechseln von Eigeninteressen oder auch (wie in diesem Fall) eigenen Ärgernissen mit Dingen von Bedeutung“. Auf Publixphere kommentierte NutzerIn „Ingeborg“ die Lanz-Petition als „Mobbing im großen Stil“. „Das ist kein Umgang miteinander in einer Demokratie“.
Die Betreiber von Openpetition.de halten die Kritik an der Lanz-Petition für berechtigt und änderten die Nutzungsbedingungen. „Petitionen, die über das Verhalten einzelner Personen urteilen, werden beendet und gelöscht. Petitionen, die auf eine Veränderung der Regeln und Strukturen zielen, die ein bestimmtes Verhalten erst ermöglichen, sind dagegen zulässig.“
Links zum Thema
Presse und Blogs
Bundestagsradar.net: Die großen Chancen einer starken Netzöffentlichkeit (03. März 2015)
TheGuardian.com: Clicktivism is ruining leftist activism (12. August 2010)
Spiegel.de: Online-Kampagnen: Wie Campact mit Klicks die Welt verändern will (9.Januar 2014)
Süddeutsche.de: Mitmach-Maschine für die Elite (19. Juni 2014)
Tagesspiegel.de: Die Macht im Internet - Nicht ohne mein Netz (10.Juni 2014)
NZZ.ch: Politische Internet-Kampagnen - Ein Mausklick für eine bessere Welt (9. Juli 2013)
Format.at: Avaaz – Das Weltgewissen (5.August 2013)
Heinrich Heine Universität Düsseldorf: NRW Fortschrittskolleg „Online-Partizipation“ wird mit 2,6 Millionen Euro gefördert, Pressemitteilung (13. Mai 2014)
Überblicksseiten
Zebralog.de
Kommune21.de
Politik.de
Wissenschaftliche Quellen
HIIG: Online Mitmachen und Entscheiden. Partizipationsstudie 2014 (20. Juni 2014)
Yannic Hahn: Führt E-Partizipation im Stadtentwicklungsbereich wirklich zu mehr Partizipation? (Ende 2013)
Norbert Kersting (Hrsg.): Politische Beteiligung: Einführung in dialogorientierte Instrumente (2008)
Ifib und Zebralog: "'E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölkerung und Wirtschaft am E-Government'. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern" (2008)
Kathrin Voss (Hrsg.): Internet und Partizipation (2014)