+4

Prof. Dr. Hans Michael Heinig zur Frage nach einem Demokratiedefizit in der EU


Gibt es ein Demokratiedefizit in der EU? Und wenn ja, worin liegt der maßgebliche Aspekt des Demokratiedefizits?

Prof. Dr. Heining: Mir erscheint es sinnvoller, von einem „Demokratiedilemma“ zu sprechen. Demokratiedilemma meint eine im Grunde tragische Situation, in der trotz hinreichender förmlicher demokratischer Legitimation gleichwohl wichtige Elemente demokratischer Willensbildung nur defizitär ausgebildet sind oder erscheinen.

In der Literatur wird diese Situation zuweilen auch als „demokratisch legitimiertes Demokratiedefizit“ (Stefan Kadelbach) beschrieben. Das klingt paradox, ist aber zutreffend, wenn man im Hinterkopf behält, dass hier zwei Demokratiebegriffe eingeführt werden: ein formeller Legitimationsbegriff und ein anspruchsvolles Demokratieideal, das normativ nicht hinreichend zu garantierende, faktische Elemente (eine lebendige, für Grund- und Alltagsfragen des Gemeinwesens gleichermaßen aufgeschlossene Öffentlichkeit, ein pluralistisches Parteienwesen, eine virile politische Kultur) umfasst.

Ein Demokratiedilemma besteht deshalb, weil weder über die Arenen nationalstaatlicher Politikformulierung noch über die Institutionen der EU eine Demokratisierung im anspruchsvollen Sinne gelingen will.

Kurzvorstellung Prof. Heinig


Wir haben die Podiumsgäste des zweiten Europäischen Salons zum Thema "Vor der Wahl zum Europäischen Parlament: Europa der Bürger – Europa der Eliten?" vorab um ihre Meinung zu unterschiedlichen Fragen gebeten, um sie online zu diskutieren. Alle Online-Beiträge und Kommentare haben die Chance, am 30. April auf dem Podium direkt in die Diskussion mit den Experten einzufließen.

[zurück zum Thema]



Kommentare

  • Liebes Forum, in der 'Offline'-Diskussion in Berlin ergaben sich zu dieser Frage noch einige Impulse.

    • Prof. Heinig, aber auch Frau Dr. Brantner, machten den Punkt sehr stark, dass von der europäischen Demokratie sehr viel erwartet werde, und oftmals mehr als von der nationalen (also auch von der deutschen). Heinig verwies zum Beispiel auf die grundsätzliche Problematik, Fachdiskussionen mit einer breiten Öffentlichkeit zu führen. Diese Problematik betreffe auch die Bundespolitik (BSP: Kennt sich die Kassiererin im Supermarkt mit den aktuell diskutierten Rentenberechnungsformeln aus?) Wenn allerdings Bürger die fachpolitischen Details der EU-Politik nicht kennen und mitvollziehen (Bsp: Die Kasserin im Supermarkt weiß nichts über die Details der EU-Agrarpolitik) werde dies viel eher als Defizit eingestuft.
    • Heinig machte darauf aufmerksam, dass sowohl die nationalstaatliche als auch die europäische Demokratie oftmals vom Vertrauen in die Repräsentanten lebe. Als Beispiel führte er einen CDU-Wähler an, der nicht jeder politischen Diskussion folgt, sondern einfach sagt: 'Frau Merkel macht das schon'. Auch eine solche Einstellung ist Heinig zufolge in einer Demokratie legitim
    • Heinig zufolge werden die "Unzulänglichkeiten" der EU-Demokratie in der Außenperspektive "extrem relativiert". Er verwies hier auf die Ängste taiwaneischer Studenten vor einer Wiedervereinigung mit China. Dagegen seien etwa britische Ängste vor einem europäischen Bundestaat eine Petitesse. Umso mehr habe er sich gewundert, dass die AFD die EU mit Nordkorea gleichsetzt (Siehe Artikel in der "Welt")

    Mit Blick auf die Voraussetzungen einer europäischen Demokratie spielte die "Europäische Öffentlichkeit" in der Diskussion die zentrale Rolle:

    • Heinig versuchte sich an einer einfachen, unwissenschaftlichen Definition. Für ihn sei die europäische Öffentlichkeit erreicht, wenn europaweit große gesellschaftliche Konflikte in den Massenmedien, als auch in den Familien "am Abendbrotstisch" diskutiert werden. Genau das sei in der europäischen Finanzkrise der Fall gewesen.
    • Heinig sieht Indikatoren dafür, dass an eine europäische Öffentlichkeit weit höhere Maßstäbe angelegt werden als an eine nationale, etwa wenn die europäischen Spitzenkandidaturen - wie von Podiumsteilnehmer Dr. Thomas Darnstädt - als "PR-Gag" bezeichnet würden. "Wahlkampf besteht ganz wesentlich aus PR-Gags, ohne dass wir das national dauernd kritisieren würden." Man müsse auch der europäischen Ebene die Generalisierung, die Abstrahierung und die Personalisierung als legitime Mittel zubilligen
    • Heinig bezweifelt, dass es sinnvoll wäre, von den privatwirtschaftlich organisierten Medien mehr EU-Berichterstattung einzufordern - etwa mit im Rahmen einer Medienethik oder "moralischen Appellen". Allerdings erwartet er von den Öffentlich-Rechtlichen Medien, ihren Auftrag ernst zu nehmen, und die EU-Politik darzustellen. Dass ARD und ZDF das TV-Duell zur Europawahl nicht in ihrem Hauptprogramm austrahlen wollen (sondern auf Phoenix), bezeichnete Heinig als "Skandal sondergleichen"
    • Lieber Herr Heinig,

      ich finde Ihre Sicht sehr erfrischend und überzeugend, habe aber doch einen Punkt zur europäischen Öffentlichkeit. Natürlich spricht manchmal ganz Europa über dasselbe Thema, das ist aber bereits der Fall, wenn Kate und William heiraten. Entscheidend ist aber doch, ob die EU-Öffentlichkeit EU-Gesetzgebungen diskutiert, bevor (!) sie in Kraft treten (Bsp: Glühbirnen-Verbot, Bankenunion, CO2-Handel). Hier sagen Sie, es gebe generell das Problem, Fachdiskurse breit zu diskutieren, ich finde aber, dass Problem ist auf EU-Ebene größer als 'national'. Die Rente mit 63, der Mindestlohn - "deutsche" Gesetze werden vorab breit diskutiert (oft in mindestens 5 oder 6 Talkshows).

      Ich denke, diesen Vorab-Diskurs (von "Hart aber Fair" bis "Maybrit Illner") bräuchte EU-Gesetzgebung auch. Er findet aber bei keiner einzigen EU-Richtlinie statt. Und genau das lässt die EU so undemokratisch wirken, wenn EU-Gesetzgebung 'plötzlich' vom Himmel fällt, und es für jede Debatte zu spät ist. Wie lässt sich das ändern?

  • Die Frage und die Vorab-Erläuterung der Experten zum Thema scheinen die Frage "Europa der Bürger – Europa der Eliten?" leider schon vorab zu beantworten. Wäre es nicht sinnvoller über Europa zu diskutieren, als ob uns dieses "Europa" tatsächlich etwas angeht? Demokratietheorie ist ein spannendes Thema für die Uni. Doch bei der Europawahl sollte es um die Menschen gehen: Welche Möglichkeiten hat der Einzelne (mit und nach der Europawahl), um an den europäischen Entscheidungen teilzuhaben. Hier nur ein paar Stichpunkte: Europäische Bürgerinitiative, Nutzen von öffentlichen Online-Konsultationen, Kontaktieren "seines Europaabgeordneten", netzwerken mit Gleichgesinnten (online und offline), etc. Demokratie ist nicht passiv.

  • Ich finde Ihr Statement umschreibt die Situation der Demokratie in Europa wirklich treffend. Ja wir befinden uns in einem Dilemma.

    Vor allem müssen wir zur Überwindung des Dilemmas bei unserer Vorstellung und Verwirklichung des Demokratieideals ansetzen und brauchen dafür eine starke Öffentlichkeit in Europa.

    Dafür sind aber EU- Akteure nötig, die an einem Strang ziehen: die Europawahl und der Wahlkampf sind eine große Chance, dennoch wird die Öffentlichkeit zum Großteil mit nationalen Themen bespielt. Dem Wähler können auch komplexere Themen zugemutet werden. Das Verstecken hinter der Aussage: "Brüsseler Entscheidungen sind zu komplex und lebensfern", die oft zu hören ist, führt dazu, dass die Bürger abschalten und sich sagen "ich soll und kann das eh nciht verstehen" Man muss die Bürger auch fordern!

    Plakate im Wahlkampf werben mit Merkel - Warum nicht mit Juncker als europäischer Spitzendkandidat der Konservativen?

    Warum muss es überhaupt eine Diskussion darum geben, auf welchem Kanal die Fernsehdebatte der Spitzenkandidaten ausgestrahlt wird?

    Wir fordern alle eine europäische Öffentlichkeit. Dann müssen aber auch die, die Wege zu dieser Öffentlichkeit bereiten können, mitwirken, seien es die Parteien, seien es die Rundfunkanstalten etc.

  • Wie schon gesagt (s. unten) spricht mir Untermieter aus dem Herzen. Dabei sei keinesfalls gesagt, dass die Fragen schlecht oder irrelevant sind. Sie zeigen nur - ebenso wie die Antworten - dass es sich hierbei um eine Diskussion ÜBER "die Bürger" handelt. "Dem Bürger" bleibt kaum eine Möglichkeit (wenn er denn nicht Jura studiert hat) sich hier einzuklinken.

    Daher meine Frage an Herrn Heinig (oder an die Organisatoren): geht es ihm überhaupt darum, mit "uns" zu diskutieren? Oder beschränkt sich sein Kosmos selbst auf den der Eliten?

  • Das ist ein schlauer Kommentar. Aber was schlagen Sie zur Lösung vor? Wenn das am Mittwoch diskutiert werden könnte wäre das gut!

  • Verstehe ich es richtig, dass das "anspruchsvolle Demokratieideal", das wir in den Nationalstaaten anstreben, so auf EU Ebene gar nicht möglich ist - trotz der demokratischen Legitimation, die dort herrscht? Müssten wir also einen neuen Demokratiebegriff entwickeln? Oder was wäre ein möglicher Ausweg aus dem "Demokratiedilemma"?

    • das würde mich auch interessieren, welche Lösung schlagen sie vor?

    • Was würde ein neuer Demokratiebegriff ändern? Die Frage ist nicht als Wertung gemeint, das würde mich nur wirklich interessieren (um's schonmal vorweg zu nehmen: ich glaube nicht dass das irgendwas ändern würde)

    • Ist doch eigentlich gar nicht schlimm, wenn wir das "anspruchsvolle Demokratieideal", das wir in den Nationalstaaten anstreben, auf EU Ebene nicht erreichen. Soll die europäische Ebene die nationale nicht "nur" ergänzen?