+7

Medien: Plädoyer gegen die Propaganda-Universen


picture alliance / dpa"Pro-russischer-Mob" oder "Freiheitskampf" in der Ost-Ukraine? Für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Worten plädiert User Emil. Foto: picture alliance / dpa.


Ein Beitrag von Emil

Vielleicht geht es anderen auch auch so: die Welt ist verstörend wie nie. An manchen Tagen reicht schon einmal Runterscrollen auf der Startseite von Spiegel Online, um sich explosionsartig zu überfordern: Kriege in der Ost-Ukraine, in Gaza, in Syrien, im Irak, Ebola in Afrika, Diktatur-Vorstufe in der Türkei, Malaysia Airlines MH 370, Malaysia Airlines MH 17... Plus der übliche Horror: Klimawandel, Euro-Brachland, NSA-Überwachung, Renten-Kollaps...

Das ist natürlich Unsinn. Die Welt war selten (nie?) ein besonders friedlicher, angstfreier Ort. Die „gute alte Zeit“ sucht man auch auf „ZDF-History“ vergebens, wo sich Reportagen über die NS-Diktatur, den kalten Krieg und das Vietnam-Inferno abwechseln.

Was aber in meiner Welt-Wahrnehmung 2014 zusehends anders ist als „früher“, ist Folgendes:

Die Verunsicherung über Fakten: wer kann noch sicher sagen, ob die Krim-Bewohner den Beitritt zu Russland (nicht) wollten? Wer weiß noch, wie viel dran ist am anti-russischen Rechtsradikalismus in der Ukraine, wenn wir einmal die Übertreibungen russischer Medien in dieser Frage abziehen? Wer weiß noch, wie verantwortungsvoll Israels Armee in Gaza agiert, wenn er diese zwei Schlagzeilen gleichzeitig lesen kann: „Israel bedauert jedes einzelne zivile Opfer“ UND „Gaza-Veteranen schockieren mit Aussagen über wahllose Morde“

Die Verunsicherung über neue Quellen: auf Facebook verlinkt finde ich inzwischen auch - teils antisemitisch - angehauchte Verschwörungstheorien zu Familie Rothschild (siehe „Epochtimes“) und zu den Bilderbergern (siehe „Deutsche Wirtschaftsnachrichten“). Auch „Compact“ und „Kopp Verlag“ wollen mir mit „Mut zur Wahrheit“ die „Augen öffnen“. Die - teils wirklich perfide - Meinungsmache und Hetze dieser neuen Medien (dokumentiert zum Beispiel hier und hier) könnte mir egal sein, wären sie nicht a) so kalkuliert erfolgreich (Klickzahlen, Likes etc.) und b) auch in meiner Welt so omnipräsent, weil der verfassungsrechtlich und moralisch gnadenlos unbedarfte, rein ökonomisch tickende Facebook-Algorithmus mir damit meine Timeline vollknallt.

Die Verunsicherung über traditionelle Quellen: Ausgerechnet, wenn es mal richtig drauf ankommt, erlauben sich "Qualitäts-Medien" zahlreiche Ausfälle, fachen die um sich greifende Vorstellung von der großen medialen Veschwörung an.

Ich weiß noch, wie ich zusammenzuckte, als die Tagesschau-Stimme Menschen in Donzek plötzlich wie selbstverständlich „pro-russischer Mob“ nannte. Ich war erleichtert, als die ehemalige ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz diese Art der Berichterstattung deutlich verurteilte (wirklich sehenswertes Video). Ich war neuerlich verunsichert, als ich von Vorwürfen gegen Gabriele Krone-Schmalz lesen musste – wie verbandelt ist sie mit russischen Unternehmen?

Ich war irritiert, als ich von erklärungsbedürftigen Verbindungen zwischen Journalisten der Zeit, der Süddeutschen und der FAZ mit irgendwelchen transatlantischen Lobby-Clubs las, in denen sogar Bundespräsident Joachim Gauck verheddert scheint. Ich bin irritiert, wenn mir Spiegel Online die politische Interpretation eines Vorgangs gleich in der Schlagzeile eines Berichts (!) mitliefern muss: „Putin verhängt Importstopp - und schadet Russlands Bürgern“.

Was also tun?

Was ich sagen will: meine aktuelle Überforderung als politisch denkender Bürger ist nicht nur dem aktuellen Weltgeschehen geschuldet, sondern großteils der medialen Weltvermittlung, die vielerorts immer schriller, unseriöser, einseitiger, unverlässlicher, intransparenter, ungenauer und immuner gegen Tatsachen wird.

Was ich von "den Medien" gerne hätte, gab es alles schon einmal:

  • nach allen Seiten schonungslose Recherche, die beispielsweise WEDER den Radikalismus der Hamas ausblendet, noch den mancher israelischer Politiker

  • die gute alte Richtigstellung, wenn Tatsachen falsch berichtet wurden

  • eine klare Trennung zwischen Nachrichten und Kommentaren

  • die klare Kenntlichmachung von möglichen Interessenkonflikten, die bei Verlagen, Medienhäusern und Journalisten bestehen - in guten Blogs hat sich hier der Disclaimer bewährt

Was ich nicht will: in ein in sich geschlossenes Propaganda-Universum abgleiten, sei es nun a la "Fox News", "Russia Today" oder "Kopp-Verlag". Aber wie wehren wir uns gegen diese Parallelwelten, mit deren Bewohnern kaum noch vernünftig zu reden geschweige denn vernünftige (Friedens-)Politik zu machen ist?


Kommentare

  • Ach, das Gefühl kenne ich. In den letzten Wochen und Monaten musste ich so manchen Artikel nach kurzer Zeit weglegen, weil ich sonst die gesamte Zeitschrift hätte zerfetzen und in Brand stecken wollen. Eben liest man noch ein sehr schön differenziertes Bild der Gewalt im Nahen Osten, auf der nächsten Seite war es quasi Putin selbst, der den Abschussknopf für MH17 drückte und dabei diabolisch lachte (mit halbverdunkeltem Gesicht oder wahlweise einem Cape). Die Russophobie der deutschen Medien ist da extrem auffällig. Wenn man dann noch sieht, wer von diesem ganzen Konflikt profitiert und mit wem diese aufschreienden Journalisten in den Think Tanks zusammensitzen, wundert man sich nicht mehr, man ärgert sich, wie sehr man ver@rscht wird.

    Und da liegt auch die größte Gefahr für die Medien: Der Verlust der Glaubwürdigkeit. Ich kann gut damit leben, wenn wertungsfrei diverse Theorien aufgezählt werden (mit Quelle natürlich). Sobald da aber gewertet wird, will ich wissen, nach welchen Kriterien und wo die Fakten sind. Das vermisse ich schmerzlich. Vor allem deshalb, weil jeder, der gewillt ist es zu sehen, leicht erkennen kann, dass auf beiden Seiten massive Propaganda betrieben wird. Da werden Erinnerungen an den Irak-Krieg wach, wo sich dann auch herausstellte, dass alles gelogen war und Saddam Hussein mit 9/11 und waffenfähigem Uran/Plutonium, sowie Biowaffenlaboren soviel zu tun hatte wie Du und ich. Aber der Krieg war geschlagen und Pandoras Büchse war offen. Die Wahrheit war zweitrangig. So hätte man es in der Ukraine auch gerne.

    Vom Fernsehen lasse ich schon einige Jahre die Finger. Nun werden wohl die Holzmedien folgen und deren Flialen im Netz. Ich hab da kein Vertrauen mehr. Wenn ich mich informieren will, kann ich die ganzen wilden Theorien über das volle Spektrum auch selbst aus dem Netz holen. Dazu brauche ich keine sog, Journalisten. Faktencheck ist dann schwer, aber auch das machen Journalisten ja nicht mehr.

    Es bleibt kaum mehr, als sich auf die wenigen unzweifelhaften Fakten zu beschränken (ja, es gibt einen Konvoi) und propagandistische Vermutungen (an Bord befinden sich Waffen und Soldaten/an Bord befinden sich Hilfsgüter) nach Wahrscheinlichkeiten und "Cui bono?" abzuwägen. Was würde es z.B. Russlnd bringen, alle Vermutungen zu bestätigen und mit einem gefakten "Hilfskonvoi" voller Waffen die Ukraine zu überfallen? Nichts, außer Ärger. Was bringt es der Ukraine, sowas zu behaupten? Zeit, um Fakten zu schaffen. Nur mal so als Beispiel.

    Aber lese ich sowas in den "Leitmedien"? Wenn ja, dann nur zwischen den Zeilen eines kleinen Artikels auf Seite 23. Ganz sicher nicht im Leitartikel. Und das verstört nicht nur mich.Um den Vertrauensverlust wieder reinzuholen, den man jetzt - journalistisch wie auch politisch - sinnlos verpulvert hat, braucht es Jahrzehnte! Und die USA lehnen sich entspannt zurück, während die EU absäuft und sich mit Russland und anderen Ländern überwirft. Mission accomplished...

    JK

  • Hallo Emil, kurz zu einem Aspekt Deines Beitrags - Fluch und Segen von Facebook. Für viele ist Facebook der neue Gatekeeper unserer Weltwahrnehmung. Das birgt viele Gefahren, weil wir den Mechanismus dahinter nicht verstehen. Entschließt sich Facebook, uns einen Ausschnitt der Wirklichkeit nicht mehr oder verstärkt anzuzeigen, kann das Unternehmen nicht nur gefühlstechnisch, sondern auch politisch viel bewirken. Dasselbe gilt natürlich für Google. Dehalb ist es so wichtig, sich selbst aktiv auf die Suche nach Quellen zu begeben, selber aus dem Facebook/Google-Universum auszuziehen.

    Todenhöfer

    Zugleich macht Facebook aber auch Konkurrenten der Mainstream-Medien groß. Ich meine damit nicht nur die von Dir zitierten Verschwörungsseiten / Klickmaschinen, sondern auch jemanden wie Jürgen Todenhöfer. Todenhöfers Facebook-Seite hat ca. 210.000 Likes, fast so viele wie (die ganze Zeitung!) "Die Welt" (220.000). Todenhöfer liefert quasi im Alleingang einen anderen Blick auf den Mittleren Osten und die arabische Welt. Man kann von dem Mann halten was man will, aber er tut viele Dinge, die in den Mainstream-Medien oft schmerzlich vermisst werden: In die Geschichte blicken, mit Menschen vor Ort reden (Taliban, Al-Qaida, Hamas), offizielle Einschätzungen und regierungsnahe Argumente (Propaganda?) hinterfragen. Ich würde die neue Medienwelt also auch als Chance für eine tiefere Auseinandersetzung mit den Dingen sehen.

    • Ich habe mich auch gefragt, ob ich Teil irgendeiner Studie auf Facebook bin. Forscher wollen vielleicht wissen, wann ich endlich beginne, an CHEMTRAILS zu glauben. Jedenfalls verfolgen mich diese CHEMTRAILS-Postings. Und nein, ich glaube nicht daran. Aber frag mich mich in 2 Jahren nochmal, vielleicht bekomme ich derzeit einfach zu viel Chemie ab, um da kritisch nachzudenken. Jetzt mach ich erstmal die Facebook-Gruppe "German Facebook Experiments Watchers" auf :)

      Und zu Todenhöfer. Er ist auch einseitig. Auf seine Weise. Und ich möchte nicht das Privatperseonen den Journalismus ersetzen, weil Redaktionen Recherche nicht hinbekommen.

  • Ich fühle mich auch verunsichert! Wenn selbst die "traditionellen" Medien Falschmeldungen verbreiten bzw. Quellen nicht richtig prüfen...wem soll man da noch glauben?

  • Liebes Forum, ein paar Hinweise: Auch aufgrund dieser Diskussion wurde "Medienkritik" unser "Thema des Monats" September.

    • Entsprechend haben wir einen Hintergrundtext geschrieben, der aktuelle Diskurse zur Medienkritik zusammenstellt. Viele Impulse aus diesem Forum finden sich darin wieder: #pxp_thema: Medienkritik

    • aktuell sind wir dabei, Medienmacher, Politiker und Experten zu euren Beiträgen zu befragen (etwa zu neuen Gegenöffentlichkeiten auf Facebook und YouTube, zur Einseitigkeit in mancher Konflikt-Berichterstattung etc.). Hier werden den September über neue Fragen und Einschätzungen auf Publixphere zur Diskussion stehen.

    • ihr seid außerdem herzlich eingeladen, an unserer Offline-Diskussion zur Medienkritik in Berlin teilzunehmen, die im Rahmen der Social Media Week stattfindet. Titel: Nichts als die Wahrheit? Medien in der Vertrauenskrise (alle Informationen findet ihr hier). Die Panel-Teilnehmer geben wir noch bekannt.

    • Fotos von unserer Diskussion zum ersten Thema des Monats "Troika und Eurokrise" findet ihr auf Facebook. Hier folgt noch eine Zusammenfassung der ganzen Troika-Debatte (Online und Offline)

    • Wir würden uns freuen, wenn ihr am Thema Medienkritik und seinen vielen politisch wichtigen Einzelaspekten dranbleibt, gerne auch mit neuen Diskussionstexten. Hinweise auf eure Interessen, Fragen und Kontakte zum Thema könnt ihr auch gerne richten an redaktion(at)publixphere.de

    • Medien in der Vertrauenskrise- das ist besonders bezogen auf die Situation in der Ukraine sehr aktuell. Beispiel: Vor kurzem wurde über 23 gepanzerte russische Fahrzeuge in der Ukraine berichtet, belegt durch 5 Fotos. Wo stand zu lesen, dass 3 der Fotos in Russland aufgenommen, die anderen nicht zu lokalisieren waren? Warum kann falsche Berichterstattung nicht genauso thematisiert werden ?

    • Was ich mich auch noch frage ist, wie es eigentlich zu dieser Gleichzeitigkeit kommen konnte zwischen Informationsexplosion im Digital-Zeitalter einerseits und diesen riesigen Verlust an Gewissheit über die Realität andererseits.

      Es kann doch nicht so schwer sein, im Jahr 2014, im "Informationszeitalter", letztgültig die Frage entscheiden zu können, ob russische Soldaten in der Ukraine kämpfen oder nicht.

      Aber bis heute (4. September) konkurrieren hier zwei Versionen:

      Süddeutsche Zeitung: Ex-Geheimdienstler bezweifeln russische Invasion

      Heute dürfen wir aber auch das Gegenteil lesen, nämlich wie Russlands Regierung die Invasion und den Tod russischer Soldaten in der Ukraine totschweigt:

      Neue Zürcher Zeitung: "Russlands totgeschwiegener Krieg - Nur zehn Soldaten haben überlebt."

      Wohl gemerkt, es geht um einen physikalischen Vorgang. Soldat setzt Fuss auf ein Stück Boden - ja oder nein?

      Also am Besten jeder sucht sich die Wahrheit selber aus. "Tatsache!" war gestern.

      • WHITE NOISE

        Lieber Emil, da du hier den medialen Aspekt einer realen bewaffneten Auseinandersetzung in der Ukraine anführst, folgende Anmerkung:

        Der polnische Autor und Mathematiker Stanislaw Lem, besser bekannt durch den Hollywood-Film „Solaris“ mit George Clooney, hat in seinem Buch „DER UNBESIEGBARE“ schon 1971 eine technische Zivilisation beschrieben, in der zwei Kriegsparteien sich durch das Verstopfen sämtlicher Kommunikationskanäle mit White Noise schließlich gegenseitig neutralisieren.

        Setzt man voraus, dass die mediale Begleitung bewaffneter Konflikte im Zeitalter der elektronischen Medien und damit die Deutungshoheit von essentieller Bedeutung für die Führung und den erfolgreichen Abschluss eines solchen Konfliktes sind, dann ergibt die ungeheure Menge völlig widersprüchlicher Information oder besser Desinformation Sinn. Auf der Strecke bleibt damit aber der Adressat dieser Informationen, der ja eigentlich als Bürger, Wähler sprich als Gesellschaft das Führen solcher bewaffneter Konflikte legitimieren soll. Ein Widerspruch, den ich auch nicht auflösen kann.

        Letztlich bleibt die Frage, ob nicht die Machteliten auf beiden Seiten einer bewaffneten Auseinandersetzung gerade an einem solchen Zustand interessiert sind? Dies böte dann zumindest die Gelegenheit unabhängig vom politischen Willen der Regierten zu handeln.

        • Lieber nemo,

          danke für den Hinweis auf White Noise, ich muss mich damit mal beschäftigen. Ob Machteliten dieses Rauschen absichtlich herbeiführen, weiß ich nicht. Obama (Link meinte neulich: "Die Welt war schon immer chaotisch." Das sei heute nur aufgrund der sozialen Medien sehr viel offenbarer. Nun ist Obama der Letzte, der sich über soziale Medien beschweren sollte, schließlich hat er deren Möglichkeiten bis an die Grenze der Legalität (und weiter?) für seinen Wahlkampf genutzt (Link)

  • Liebes Forum,

    die Zusammenfassung des #pxp_themas Medienkritik steht nun hier online.

  • Kurzer Hinweis: Auf Twitter verweist Sebastian Christ mit Blick auf die Diskussion hier auf einen Artikel der Wirtschaftswoche: "10 Mythen über Putin und die Ukraine". Ein Mythos sei zum Beispiel: "Die ukrainische Armee führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung". Wie gesagt ist das nur eine Art Crosspost via Twitter, keine Meinungsbekundung der Redaktion.

  • Hallo Emil, hier ad hoc noch'n schönes Beispiel: Heute um ca. 14:00 h (GMT + 1) meldet SPON " Kampf um Donezk: Ukraine lässt russischen Hilfskonvoi nicht passieren". Der war aber gerade erst in Moskau gestartet, wie sich drei Zeilen weiter herausstellt. Die Überschrift suggeriert aber, dass er schon an der Grenze steht und aufgehalten wird.

    • Hallo Nemo, ich habe die Meldung auch gesehen. Was mich schon wieder verwirrt, ist die Unterzeile: "Doch die Regierung in Kiew macht die Grenze dicht - aus Angst vor einem Einmarsch". Es mag ja sein, dass Kiew bzw. EU-Länder (wie der Artikel zeigt) Angst vor einem russischem Einmarsch haben. Trotzdem wäre ich in Kriegszeiten bei der Übernahme solcher Rechtfertigungen distanzierter. Ich bin mir sicher, auf einer russischen Spiegel Online-Seite könnte stehen: "Doch die Regierung in Kiew macht die Grenze dicht - um die Freiheitskämpfer auszuhungern".

      • Macht, Meinung & Medien

        Lieber Emil, ich glaube die Welt ist schon etwas komplizierter geworden als sie es noch vor 20 oder 30 Jahren war. Zum einen brechen die vielen Konflikte auf, die zu lösen wir in dieser Zeitspanne versäumt haben. Und zum anderen geht es national oder international darum, die letzten Claims abzustecken für eine Zeit, in der Demokratie und gleichzeitig die Weiterentwicklung bzw. das Weiterbestehen des Kapitalismus, wie wir ihn jetzt kennen, wahrscheinlich nicht mehr möglich sein wird. Also ist es kein Wunder, wenn bei dieser Unsicherheit gelegentlich so etwas wie Endzeitstimmung aufkommt und dieses Gefühl ist natürlich der ideale Nährboden für obskure Verschwörungstheorien aller Art, wie du sie beschrieben hast.

        Es gibt, denke ich, auch keine medialen Paralleluniversen. Die Nutzung von Medien zur Sicherung von Machtinteressen ist so alt wie die Druckerpresse. So schrieb schon Daniel Defoe nicht nur bemerkenswerte Bücher und war der Urvater des modernen Journalismus, sondern ließ sich als Pamphletist anonym auch immer wieder vor den Karren gelegentlich dubioser politischer Interessen spannen.

        Was die klassischen Printmedien anbetrifft, so unterliegen natürlich auch sie den Spielregeln des freien Marktes oder den Verwertungsgesetzen des Kapitals, je nach politischem Standpunkt. Sie müssen zum Überleben eine angemessene, möglichst hohe Rendite erzielen. Kein Verleger leistet sich heute noch eine Zeitschrift oder eine Zeitung aus einem gewissen Sendungsbewusstsein oder als politisches Hobby. Durch die sinkenden Reichweiten ihrer Printerzeugnisse und die Abwanderung der großen Werbeetats in die elektronischen Medien und das Web, sind die großen Medienkonzerne gezwungen ihre Titel (Umbruch, Lay Out und Inhalte) dem Markt anzupassen und gleichzeitig selbst im Bereich Neue Medien zu investieren. Wachstum ist hier wie in vielen Branchen sonst nur noch durch Zukauf möglich.

        Nun muss man ein so riesiges Angebot zusätzlich zum Printbereich auch mit Inhalt füllen und zwar möglichst preiswert. Dabei leidet dann zwangsläufig die Qualität. Der Unsinn, der z.B. im WWW publiziert wird kann gar nicht schwachsinnig genug sein, um nicht bei Affiliate-Werbung genug Klicks zu generieren, die entsprechend bezahlt werden. Die Privaten Radio- und TV-Sender verhalten sich ja genauso. Und die öffentlich-rechtlichen meinen bei diesem Downsizing mithalten zu müssen. Sybille Berg hat all dies am letzten Wochenende ähnlich wie du in einer Kolumne thematisiert.

        Der Qualitätsjournalismus ist dieser Entwicklung leider zum Opfer gefallen und wird auch nicht ohne weiteres so zurückkehren, wie du es gefordert hast. Zeit, SZ und FAZ sind immer so etwas wie die Kampfblätter der Machteliten in der BRD gewesen, die politisch, interessanten Debatten fanden und finden nur noch in ihren Feuilletons statt. Der Spiegel (zu Augsteins Zeiten brillant formuliert, witzig, gelegentlich ein wenig zynisch & gemein aber immer informativ) und SPON vermischen Meldung & Meinung seit ihrer Gründung, das kann man, muss man aber nicht mögen. Für SPON gilt, dass diese Plattform leider versucht den jeweils gefühlten Meinungstrend vorwegzunehmen.

        Aber es gibt Alternativen. Für alle, die gut Englisch lesen können: die London Review, die New Left Review, Radical Philosophy, das Social Europe Journal oder den Guardian. Auf Deutsch u.v.a: der gute alle LETTRE aus Berlin, die taz, eingeschränkt auch CICERO und natürlich Jacob Augstein‘s Freitag,, der sich fairerweise gleich als Meinungsmedium zu erkennen gibt. Auch bei den elektronischen Medien gibt es ihn noch den investigativen Journalismus, der fragt und nicht Antworten abfragt. Die relativ neue ARD Reihe ARD exklusiv hat vor ca. 3 Wochen eine der besten Reportagen zu TTIP gesendet, die ich bisher gesehen habe. Für 3Sat und Arte gilt das gleiche. Es ist halt nur mühsamer geworden seriösen Journalismus zu finden.

        Außerdem sehe ich nach wie vor im WWW und Plattformen wie Publixphere eine große Chance den öffentlichen Raum zurückzugewinnen, der den Medien auch nach unserer Verfassung zukommt. Und es bietet die einmalige Chance sich weltweit nach alternativen Informationsquellen umzuschauen. Ein gutes Beispiel ist z.B. die Plattform Intercept von Glenn Greenwald.

        • Hallo nemo, danke für die vielen Tipps. Manches kannte ich noch gar nicht. Ich muss zugeben, ich lese Spiegel Online auch nur, weil ich zu faul bin, bewusst nach besseren Inhalten zu suchen. Es ist ein wenig wie der Einfachheit halber zu McDonalds zu gehen, statt was Richtiges zu kochen.

          Was ich mit Parallelwelt meinte, es ist vielleicht noch nicht ganz durchdacht: Ich glaube ein Texaner, der fast sein ganzes Weltwissen aus Fox News bezieht (schau dir mal ein paar Clips auf Youtube an), lebt in gewisser Weise in einer anderen Welt. Dort ist Obama ein kenianischer Moslem, der sich die Präsidentschaft verfassungswidrig erschlichen hat. Weil für manche Medien (vom Iran über Russland bis in die USA) Fakten schlicht egal sind, löst sich die Informations-Grundlage auf, auf der wir miteinander reden können. Ich hoffe in Deutschland kommt es nicht so weit.

          Und zur Endzeitstimmung und dem Kapitalismus noch einmal später.

          • Mit den medialen Paralleluniversen habe ich mich ausschließlich auf Deutschland bezogen.

      • Hallo nemo und Emil , ich will eure Grundsatz-Diskussion gar nicht stören, ich finde es nur unmöglich, wie gerade über diese Hilfslieferungen berichtet wird. Meine letzte Information war "Donzek eingekesselt" und "Donzek unter Raketenbeschuss". Da wäre doch ERST die Frage: Wie geht es den Menschen dort und was brauchen sie? Dann könnte nüchtern registriert werden, dass Russland helfen will, offenbar sogar im Rahmen des IRK. Und DANN können wir uns darüber das Maul zerreißen, was für eine zynische Propaganda-Truck-Show der Putin da abzieht. Spiegel Online macht einfach NUR Letzteres, in geradezu rasender Analyse- und Bewertungs-Geschwindigkeit wie nemo schon angemerkt hat.

        Hilfe ist immer auch politisch, aber niemand hätte im Westen sofort getitelt: "Zynische US-Propaganda-Show: Washington hilft Kurden". Auch sollte man Russland doch ein einziges Mal gönnen, als Held dazustehen. Vielleicht gewöhnt sich ja Moskau dran und schickt nur noch Care-Pakete statt Söldner :)

        • Hallo Rakaba. Hier stört prinzipiell niemand! Ich stimme deinem Einwurf zu. Ich begreife nicht, wie man glauben kann Putin würde es gelingen in einem - angesichts der Notlage in Donzek eher klein geratenen Hilfskonvoi - vor den Augen der Weltöffentlichkeit über einen urkainischen Grenzübergang, der dazu noch gut 350 Kilometer vom Krisengebiet entfernt ist und über urkainisch Staatsgebiet führt, schwere Waffen plus Hunderten von Soldaten ins Land zu bringen. Ist der ehemalige Tigerbändiger nun auch zum postmodernen Houdini mutiert? Die Berichterstattung über diesen Konflikt wird nicht nur bei SPON langsam zur Zirkusnummer mit Clowns, Zwergen, Muskelprotzen, freischwebenden Trapezkünstlern, Drahtseilartisten mit und ohne Netz, Messerwerfern und Peitsche schwingenden Dompteuren.

          • Hallo nemo, ich habe sehr über den Houdini gelacht. Jetzt heißt es grad: "Russischer Konvoi nimmt Kurs auf Separatistengebiet". Dazu das Bild der bedrohlich näher kommenden LKWs. Da bekomme ich auch Angst. Nein Panik. Dieser "Konvoi". Unaufhaltsam. So weiß wie dieser Hai in diesem Film damals. Ob der Konvoi noch abdreht? Im allerletzten Moment? Bevor es zu spät ist?