Medien: Plädoyer gegen die Propaganda-Universen
"Pro-russischer-Mob" oder "Freiheitskampf" in der Ost-Ukraine? Für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Worten plädiert User Emil. Foto: picture alliance / dpa.
Ein Beitrag von Emil
Vielleicht geht es anderen auch auch so: die Welt ist verstörend wie nie. An manchen Tagen reicht schon einmal Runterscrollen auf der Startseite von Spiegel Online, um sich explosionsartig zu überfordern: Kriege in der Ost-Ukraine, in Gaza, in Syrien, im Irak, Ebola in Afrika, Diktatur-Vorstufe in der Türkei, Malaysia Airlines MH 370, Malaysia Airlines MH 17... Plus der übliche Horror: Klimawandel, Euro-Brachland, NSA-Überwachung, Renten-Kollaps...
Das ist natürlich Unsinn. Die Welt war selten (nie?) ein besonders friedlicher, angstfreier Ort. Die „gute alte Zeit“ sucht man auch auf „ZDF-History“ vergebens, wo sich Reportagen über die NS-Diktatur, den kalten Krieg und das Vietnam-Inferno abwechseln.
Was aber in meiner Welt-Wahrnehmung 2014 zusehends anders ist als „früher“, ist Folgendes:
Die Verunsicherung über Fakten: wer kann noch sicher sagen, ob die Krim-Bewohner den Beitritt zu Russland (nicht) wollten? Wer weiß noch, wie viel dran ist am anti-russischen Rechtsradikalismus in der Ukraine, wenn wir einmal die Übertreibungen russischer Medien in dieser Frage abziehen? Wer weiß noch, wie verantwortungsvoll Israels Armee in Gaza agiert, wenn er diese zwei Schlagzeilen gleichzeitig lesen kann: „Israel bedauert jedes einzelne zivile Opfer“ UND „Gaza-Veteranen schockieren mit Aussagen über wahllose Morde“
Die Verunsicherung über neue Quellen: auf Facebook verlinkt finde ich inzwischen auch - teils antisemitisch - angehauchte Verschwörungstheorien zu Familie Rothschild (siehe „Epochtimes“) und zu den Bilderbergern (siehe „Deutsche Wirtschaftsnachrichten“). Auch „Compact“ und „Kopp Verlag“ wollen mir mit „Mut zur Wahrheit“ die „Augen öffnen“. Die - teils wirklich perfide - Meinungsmache und Hetze dieser neuen Medien (dokumentiert zum Beispiel hier und hier) könnte mir egal sein, wären sie nicht a) so kalkuliert erfolgreich (Klickzahlen, Likes etc.) und b) auch in meiner Welt so omnipräsent, weil der verfassungsrechtlich und moralisch gnadenlos unbedarfte, rein ökonomisch tickende Facebook-Algorithmus mir damit meine Timeline vollknallt.
Die Verunsicherung über traditionelle Quellen: Ausgerechnet, wenn es mal richtig drauf ankommt, erlauben sich "Qualitäts-Medien" zahlreiche Ausfälle, fachen die um sich greifende Vorstellung von der großen medialen Veschwörung an.
Ich weiß noch, wie ich zusammenzuckte, als die Tagesschau-Stimme Menschen in Donzek plötzlich wie selbstverständlich „pro-russischer Mob“ nannte. Ich war erleichtert, als die ehemalige ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz diese Art der Berichterstattung deutlich verurteilte (wirklich sehenswertes Video). Ich war neuerlich verunsichert, als ich von Vorwürfen gegen Gabriele Krone-Schmalz lesen musste – wie verbandelt ist sie mit russischen Unternehmen?
Ich war irritiert, als ich von erklärungsbedürftigen Verbindungen zwischen Journalisten der Zeit, der Süddeutschen und der FAZ mit irgendwelchen transatlantischen Lobby-Clubs las, in denen sogar Bundespräsident Joachim Gauck verheddert scheint. Ich bin irritiert, wenn mir Spiegel Online die politische Interpretation eines Vorgangs gleich in der Schlagzeile eines Berichts (!) mitliefern muss: „Putin verhängt Importstopp - und schadet Russlands Bürgern“.
Was also tun?
Was ich sagen will: meine aktuelle Überforderung als politisch denkender Bürger ist nicht nur dem aktuellen Weltgeschehen geschuldet, sondern großteils der medialen Weltvermittlung, die vielerorts immer schriller, unseriöser, einseitiger, unverlässlicher, intransparenter, ungenauer und immuner gegen Tatsachen wird.
Was ich von "den Medien" gerne hätte, gab es alles schon einmal:
-
nach allen Seiten schonungslose Recherche, die beispielsweise WEDER den Radikalismus der Hamas ausblendet, noch den mancher israelischer Politiker
-
die gute alte Richtigstellung, wenn Tatsachen falsch berichtet wurden
-
eine klare Trennung zwischen Nachrichten und Kommentaren
-
die klare Kenntlichmachung von möglichen Interessenkonflikten, die bei Verlagen, Medienhäusern und Journalisten bestehen - in guten Blogs hat sich hier der Disclaimer bewährt
Was ich nicht will: in ein in sich geschlossenes Propaganda-Universum abgleiten, sei es nun a la "Fox News", "Russia Today" oder "Kopp-Verlag". Aber wie wehren wir uns gegen diese Parallelwelten, mit deren Bewohnern kaum noch vernünftig zu reden geschweige denn vernünftige (Friedens-)Politik zu machen ist?
666JohnKowalski666
Ach, das Gefühl kenne ich. In den letzten Wochen und Monaten musste ich so manchen Artikel nach kurzer Zeit weglegen, weil ich sonst die gesamte Zeitschrift hätte zerfetzen und in Brand stecken wollen. Eben liest man noch ein sehr schön differenziertes Bild der Gewalt im Nahen Osten, auf der nächsten Seite war es quasi Putin selbst, der den Abschussknopf für MH17 drückte und dabei diabolisch lachte (mit halbverdunkeltem Gesicht oder wahlweise einem Cape). Die Russophobie der deutschen Medien ist da extrem auffällig. Wenn man dann noch sieht, wer von diesem ganzen Konflikt profitiert und mit wem diese aufschreienden Journalisten in den Think Tanks zusammensitzen, wundert man sich nicht mehr, man ärgert sich, wie sehr man ver@rscht wird.
Und da liegt auch die größte Gefahr für die Medien: Der Verlust der Glaubwürdigkeit. Ich kann gut damit leben, wenn wertungsfrei diverse Theorien aufgezählt werden (mit Quelle natürlich). Sobald da aber gewertet wird, will ich wissen, nach welchen Kriterien und wo die Fakten sind. Das vermisse ich schmerzlich. Vor allem deshalb, weil jeder, der gewillt ist es zu sehen, leicht erkennen kann, dass auf beiden Seiten massive Propaganda betrieben wird. Da werden Erinnerungen an den Irak-Krieg wach, wo sich dann auch herausstellte, dass alles gelogen war und Saddam Hussein mit 9/11 und waffenfähigem Uran/Plutonium, sowie Biowaffenlaboren soviel zu tun hatte wie Du und ich. Aber der Krieg war geschlagen und Pandoras Büchse war offen. Die Wahrheit war zweitrangig. So hätte man es in der Ukraine auch gerne.
Vom Fernsehen lasse ich schon einige Jahre die Finger. Nun werden wohl die Holzmedien folgen und deren Flialen im Netz. Ich hab da kein Vertrauen mehr. Wenn ich mich informieren will, kann ich die ganzen wilden Theorien über das volle Spektrum auch selbst aus dem Netz holen. Dazu brauche ich keine sog, Journalisten. Faktencheck ist dann schwer, aber auch das machen Journalisten ja nicht mehr.
Es bleibt kaum mehr, als sich auf die wenigen unzweifelhaften Fakten zu beschränken (ja, es gibt einen Konvoi) und propagandistische Vermutungen (an Bord befinden sich Waffen und Soldaten/an Bord befinden sich Hilfsgüter) nach Wahrscheinlichkeiten und "Cui bono?" abzuwägen. Was würde es z.B. Russlnd bringen, alle Vermutungen zu bestätigen und mit einem gefakten "Hilfskonvoi" voller Waffen die Ukraine zu überfallen? Nichts, außer Ärger. Was bringt es der Ukraine, sowas zu behaupten? Zeit, um Fakten zu schaffen. Nur mal so als Beispiel.
Aber lese ich sowas in den "Leitmedien"? Wenn ja, dann nur zwischen den Zeilen eines kleinen Artikels auf Seite 23. Ganz sicher nicht im Leitartikel. Und das verstört nicht nur mich.Um den Vertrauensverlust wieder reinzuholen, den man jetzt - journalistisch wie auch politisch - sinnlos verpulvert hat, braucht es Jahrzehnte! Und die USA lehnen sich entspannt zurück, während die EU absäuft und sich mit Russland und anderen Ländern überwirft. Mission accomplished...
JK