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Europawahlrecht: Nur eine Minimalreform


Foto:Wie wählen wir unsere EU-Politik? Im Bild: Menschen in Lissabon. Foto: João Lavinha (CC BY 2.0)

Es mangelt nicht an Ideen, wahrhaft europäische Wahlen abzuhalten – zum Beispiel mittels einer gesamteuropäischen Zweitstimme. Was das EU-Parlament nun an Änderungen des Wahlrechts vorschlägt, hält Manuel Müller Der (europäische) Föderalist allerdings für ein "Reförmchen". Verpasst die EU gerade eine große Chance?


Ein Beitrag von Manuel Müller Der (europäische) Föderalist

Hinweis: Dieser Text erschien zunächst auf Manuel Müllers Blog: Der (europäische) Föderalist


Zuerst die gute Nachricht: Mitte November hat das Europäische Parlament endlich seinen Vorschlag zur Reform des Europawahlrechts verabschiedet. Noch vor drei Jahren war eine ähnliche Initiative – der sogenannte Duff-Bericht, über den auch auf meinem Blog einiges zu lesen war – am fehlenden Rückhalt in der christdemokratischen EVP-Fraktion gescheitert. Nun hingegen wurde der von Jo Leinen (SPD/SPE) und Danuta Hübner (PO/EVP) ausgearbeitete Entwurf von der Großen Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.

Die schlechte Nachricht: Während der Duff-Bericht einige wirklich mutige Innovationen enthielt, handelt es sich bei dem neuen Vorschlag bestenfalls um ein Reförmchen. Dies war zum Teil sicher beabsichtigt; nach dem Fehlschlag von 2012 wollten die Initiatoren des Entwurfs sichergehen, dass sie diesmal auch wirklich die notwendige Mehrheit erreichen, und verzichteten deshalb vorerst auf alles, was ihnen zu kontrovers erschien. Allerdings könnte es sein, dass sie damit eine hervorragende Gelegenheit verpasst haben. Denn nach dem Votum im Parlament muss der Vorschlag nun durch den Ministerrat – und dort dürfte die Bereitschaft, auch ambitionierteren Reformen zuzustimmen, selten wieder so groß werden wie jetzt.

Der Direktwahlakt

Aber eins nach dem anderen. Nach den EU-Verträgen (Art. 223 AEUV) hat das Europäische Parlament das Recht, einen „Entwurf für die erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ zu verabschieden. Dieser Entwurf kann dann vom Ministerrat noch verändert werden und braucht schließlich die Zustimmung aller nationalen Regierungen, um in Kraft zu treten.

Bis heute regelt das europäische Wahlgesetz, der sogenannte Direktwahlakt, allerdings nur einige Minimalanforderungen für das Wahlverfahren (hier ein Überblick). Die genaue Umsetzung bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Auch der Entwurf, der nun im Parlament beschlossen wurde, strebt kein einheitliches Verfahren an. Er führt aber einige neue Bestimmungen in den Direktwahlakt ein, durch die die Verfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten zumindest etwas ähnlicher werden sollen.

Reformvorschläge

Im Einzelnen sieht der Entwurf (Wortlaut) unter anderem vor, dass Parteien ihre nationalen Wahllisten künftig mindestens zwölf Wochen vor der Wahl aufstellen und dabei auf parteiinterne Demokratie und Transparenz achten müssen. Die gleiche Frist soll auch für die Nominierung der Spitzenkandidaten der gesamteuropäischen Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten gelten. Außerdem sollen alle Mitgliedstaaten ihren Bürgern auch dann die Möglichkeit zur Wahlteilnahme einräumen, wenn diese außerhalb der EU leben. Ein besserer Informationsaustausch zwischen den nationalen Wahlbehörden soll verhindern, dass Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft unerlaubterweise zweimal abstimmen.

Und obgleich es statt eines einheitlichen Wahltermins weiterhin einen Zeitraum von vier Tagen (Donnerstag bis Sonntag) geben wird, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten selbst die Öffnungszeiten der Wahllokale festlegen, soll wenigstens der Endzeitpunkt der Wahl in allen Mitgliedstaaten identisch sein: nämlich Sonntag um 21 Uhr.

Andere Reformvorschläge fallen etwas schwächer aus: So haben die nationalen Parteien bei der Aufstellung der Wahllisten künftig „für die Gleichstellung von Männern und Frauen zu sorgen“; eine feste Quote, wie sie vor allem die Parteien des linken Spektrums gefordert hatten, findet sich in dem Entwurf jedoch nicht. Die Vereinheitlichung des Mindestwahlalters auf 16 Jahre wiederum erscheint lediglich als Empfehlung an die Mitgliedstaaten, nicht als formeller Vorschlag.

Statt europäischer Listen nur europäische Logos

Vor allem aber verzichtet der Entwurf auf den Kernvorschlag des Duff-Berichts von 2012: die transnationalen Listen, über die ein Teil der Kandidaten in allen Mitgliedstaaten gleichzeitig zur Wahl stehen sollte. Obwohl Jo Leinen, einer der Verfasser des neuen Reformentwurfs, die Schaffung eines „transnationalen Elements“ noch im vergangenen Januar in einem Gastbeitrag auf meinem Blog als „vorrangiges Ziel“ der Wahlrechtsreform bezeichnet hatte, überwog nun offenbar die Angst, dafür erneut keine Mehrheit zu finden. Die gesamteuropäischen Listen finden sich in dem Entwurf deshalb nur noch als Anregung, die der Ministerrat, falls er es möchte, zu einem ungenannten künftigen Zeitpunkt in Kraft setzen könnte:

Der Rat beschließt einstimmig über einen gemeinsamen Wahlkreis, in dem an der Spitze der Listen die Kandidatin bzw. der Kandidat jeder politischen Familie für das Amt des Präsidenten der Kommission steht.

Als konkrete Maßnahme, um den europäischen Parteien bei der Wahl mehr Gewicht zu geben, macht der Entwurf hingegen nur einen ungleich schwächeren Vorschlag: Künftig sollen auf den Wahlzetteln neben den Namen und Logos der nationalen Parteien auch diejenigen ihrer jeweiligen EU-Mutterpartei aufgedruckt werden. Ob das genügt, um dem Europawahlkampf eine wirklich gesamteuropäische Note zu geben, darf freilich bezweifelt werden.

Umstrittene Sperrklausel

Der umstrittenste Vorschlag des Hübner/Leinen-Entwurfs schließlich ist die Pflicht für alle Mitgliedstaaten, eine Sperrklausel zwischen 3 und 5 Prozent der abgegebenen Stimmen einzuführen – eine Regelung, die lediglich Deutschland und Spanien betreffen würde, da alle anderen Länder entweder bereits eine Sperrklausel in dieser Höhe haben oder so wenige Abgeordnete stellen, dass für ein Mandat faktisch ohnehin ein höherer Stimmanteil notwendig ist.

Wenig überraschend waren es deshalb vor allem die Abgeordneten der deutschen Kleinparteien, von der Familienpartei über die Freien Wähler bis zur ÖDP, die in der Plenardebatte Ende Oktober (Protokoll, Video) am vehementesten gegen die Sperrklausel protestierten. Dass sie überhaupt im Europäischen Parlament vertreten sind, verdanken sie dem Bundesverfassungsgericht, das in zwei Urteilen 2011 und 2014 erst die Fünf- und dann auch eine Drei-Prozent-Hürde im deutschen Europawahlgesetz für verfassungswidrig erklärte. Wenn die Hürde nun über die Reform des europäischen Direktwahlakts neu eingeführt wird, werden die Kleinparteien bei der nächsten Europawahl 2019 wohl wieder daran scheitern.

Gleichzeitig ist die Sperrklausel anscheinend auch der Grund dafür, dass die Fraktion der Grünen/EFA, die noch vor drei Jahren zu den wichtigsten Befürwortern des Duff-Berichts gehört hatte, jetzt im Parlament gegen den neuen Reformentwurf stimmte. Von den sieben deutschen Kleinparteien im Parlament haben sich zwei (ÖDP und Piraten) der Grüne/EFA-Fraktion angeschlossen, und auch ihr spanisches Mitglied Compromís hätte mit einer Drei-Prozent-Hürde kein Mandat erreicht. Unter den Fraktionen im Parlament sind die Grünen/EFA daher diejenige, die am meisten unter der neuen Sperrklausel zu leiden hätte.

Wenig überzeugende Argumentation mit dem Verfassungsgericht

Enttäuschend ist allerdings, wie die Gegner der Sperrklausel ihren Standpunkt argumentierten. In der Plenardebatte nahmen fast alle von ihnen – von den Sprechern der Grünen/EFA und der Linksfraktion GUE/NGL über Ulrike Müller von den Freien Wählern (ALDE) bis zu Beatrix von Storch von der AfD und Arne Gericke von der Familienpartei (beide EKR) – Bezug auf das deutsche Bundesverfassungsgericht, dessen Urteile die großen Fraktionen EVP und S&D durch die Direktwahlakt-Reform „umgehen“ wollten. In einer Pressemitteilung wurde der grüne Abgeordnete Sven Giegold sogar noch drastischer und behauptete, die Große Koalition wolle „über das europäische Wahlrecht das Grundgesetz aushebeln“.

Dieses Argument ist aus zwei Gründen wenig überzeugend. Zum einen ist es rechtlich irreführend: Art. 223 AEUV ermächtigt das Europäische Parlament offensichtlich dazu, die Modalitäten im Direktwahlakt vorzuschlagen, und als Europarecht hat der Direktwahlakt Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht. Das Bundesverfassungsgericht stützte sich in seinen Urteilen von 2011 (Rn. 77) und 2014 (Rn. 40ff.) deshalb explizit auch auf die Tatsache, dass es im Direktwahlakt zu diesem Zeitpunkt eben keine Pflicht zu einer nationalen Sperrklausel gab. Wenn sich nun die Rechtslage ändert und eine solche Pflicht neu eingeführt wird, kann auch das Verfassungsgericht die Hürde nicht mehr ablehnen.

Zum anderen ist das Argument aber auch politisch ausgesprochen fragwürdig. Grundlage des Urteils von 2011 war nämlich auch, dass das Verfassungsgericht die demokratische Relevanz des Europäischen Parlaments in Zweifel zog: Das Gericht akzeptierte zwar, dass die Abschaffung der Sperrklausel die Mehrheitsbildung im Parlament erschwere. Es verwies aber darauf, dass der Ministerrat europäische Rechtsakte nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren notfalls auch alleine erlassen könne. Ob das Europäische Parlament handlungsfähig sei oder nicht, sei deshalb letztlich belanglos. Es verwundert schon, wenn nun offenbar etliche Abgeordnete bereit sind, sich dieser verächtlichen Einschätzung der Richter anzuschließen.

Eine seltene Gelegenheit für eine anspruchsvolle Lösung

Besonders bedauerlich an der neuen Sperrklausel-Regelung ist indessen etwas anderes, nämlich ihre Einfallslosigkeit. So wie die Verfasser des Reformentwurfs beim Thema transnationale Listen auf jede Ambition verzichteten, wählten sie auch hier offenbar den Weg, bei dem sie den geringsten Widerstand erwarteten – und das, obwohl sich dem Europäische Parlament eine seltene Gelegenheit für eine anspruchsvollere Lösung bot.

Das wesentliche Hindernis für weitreichende Reformen des Europawahlrechts sind in der Regel bekanntlich die nationalen Regierungen im Ministerrat, die nicht wollen, dass der Direktwahlakt ihren Spielraum für die nationalen Europawahlgesetze allzu sehr einschränkt. Diesmal aber konnten die Befürworter einer europaweiten Lösung auf einen starken Unterstützer im Rat rechnen: die deutsche Bundesregierung, die gerade zu sehr viel bereit wäre, um eine europäische Sperrklausel durchzusetzen. Tatsächlich war es der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD/SPE), der den Vorschlag dazu nach der Europawahl 2014 in einem Interview mit der FAZ und einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau als Erster lancierte.

Eine transnationale Sperrklausel

Unter diesen Umständen hätte das Europäische Parlament die Chance gehabt, statt einer verpflichtenden nationalen Sperrklausel in jedem Mitgliedstaat eine europaweite, transnationale Sperrklausel durchzusetzen. Wie eine solche transnationale Sperrklausel aussehen könnte, haben Anfang dieses Jahres Frank Decker und ich selbst in Beiträgen auf diesem Blog beschrieben.

Die Idee dabei ist, dass nur noch solche Parteien oder Parteibündnisse ins Parlament einziehen würden, die europaweit mindestens 3 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Hürde ist so niedrig, dass sie auch für die kleineren europäischen Parteien durchaus zu nehmen wäre, gleichzeitig aber auch so hoch, dass praktisch keine nationale Partei sie allein überspringen könnte. Die Parteien wären deshalb gezwungen, sich schon vor der Wahl einem der europäischen Bündnisse anzuschließen, was die europäischen Parteien stärken und zugleich die Zersplitterung des Europäischen Parlaments reduzieren würde.

Künftige Reformschritte werden nicht erleichtert

Das Europäische Parlament aber verzichtet in dem neuen Entwurf auf solch innovative Lösungen. Stattdessen bietet es dem Rat eine entkoffeinierte Minimalreform – mit guten Aussichten, dass viele (wenn auch nicht alle) der jetzt vorgelegten Vorschläge am Ende tatsächlich in Kraft treten, aber leider auch mit dem Bewusstsein, dass dadurch weitere Reformschritte eher nicht erleichtert werden. Berichterstatter Jo Leinen sprach zwar am Ende der Plenardebatte von einem „Zwei-Stufen-Konzept“:

Die erste Stufe, die möglich ist, jetzt, und dann kommen wir nochmal mit weiteren Vorschlägen, die sehr wahrscheinlich auch in einem Konvent in einer größeren Beratung mit nationalen Parlamenten und den nationalen Regierungen beschlossen werden müssen.

Es steht aber zu befürchten, dass die deutsche Bundesregierung mit der Wiedereinführung einer nationalen Drei-Prozent-Hürde dann bereits alles erreicht haben wird, was sie sich vom europäischen Direktwahlakt erwünscht. Und dass daher die Stimmung im Ministerrat künftig wieder weniger reformfreudig sein wird als jetzt.

Es wäre ein fatales Zeichen, wenn nach dem Duff-Bericht auch dieser Versuch einer Direktwahlakt-Reform scheitern würde. Dem Hübner/Leinen-Entwurf ist deshalb ohne Zweifel Erfolg zu wünschen. Gleichzeitig aber bleibt auch der schale Nachgeschmack einer verpassten Gelegenheit: Die Wahlrechtsreform, auf die wir gewartet haben, war das noch nicht.

Links


Kommentare

  • Ganz kurz: der Mehr Demokratie e.V weist uns auf seine Position zu den Reformvorschlägen hin. Hauptkritikpunkt: Die Sperrklausel.

    • Ich teile zwar nicht in allen Punkten die Auffassung von „Mehr Demokratie e.V.“, aber das ist für mich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Reform. Einige Punkte werden angesprochen, diese bewertet und eingeordnet und das Ganze kommt auch noch ohne Herabwürdigungen, z.B. des BVerfG, aus.

      Hingegen geht es bei Müller viel mehr um die „transnationalen Listen“ als um die Reformvorschläge, die lediglich in einem Unterpunkt kurz erwähnt werden. Das ist ja auch absolut in Ordnung, nur für mich ist das eben etwas anderes als eine „Analyse“ dieser Reform.

      Übrigens, danke für diesen Link und vor allem danke dafür, dass diese Wahlrechtsreform hier überhaupt ein Thema ist, denn in anderen Medien – da geht es mir wie Alexander Wragge – habe ich davon bislang noch nichts gehört.

  • Hallo Manuel Müller Der (europäische) Föderalist ,

    Die schlechte Nachricht: Während der Duff-Bericht einige wirklich mutige Innovationen enthielt, handelt es sich bei dem neuen Vorschlag bestenfalls um ein Reförmchen.

    Es freut mich, dass Sie die Wahlrechtsreform in Ihrem Artikel vom 23.12.2015 mittlerweile als „derzeit wohl das bedeutendste Einzelprojekt für die Stärkung der europäischen Demokratie“ bezeichnen. Allerdings gar so weit würde ich dann auch wieder nicht gehen, sondern einfach bei meinem Bild vom Schritt in die richtige Richtung auf einem langen Weg bleiben. Es ist gut, dass sich Sozialdemokratie und Europäische Volkspartei zur Stärkung der europäischen Demokratie auf diesen Kompromiss verständigt haben, aber nur zusammen mit vielen anderen Schritten (z.B. der Bankenunion zum Schutz unserer Demokratie vor dem Finanzcasino) wird es am Ende eine echte gesamteuropäische Demokratie werden.

    Beste Grüße,
    Mister Ede

  • Vielleicht frage ich mal vorweg, ob eigentlich das Wahlrechts-Trilemma bekannt ist: „Gleichwertigkeit der Stimme“, „Einhaltung des Regionalproporz“, „Feste Größe des Parlaments“ – Eines davon kann man nicht gewährleisten.

    Zur Wahlrechtsreform: Bei der Reform handelt es sich um eine Harmonisierung, über die die Bürger nicht direkt entscheiden müssen, weil sich an dem grundsätzlichen Prinzip nichts ändert. Die Länder entscheiden, wer wie nach Straßburg geschickt wird. Lediglich ein paar Rahmenbedingungen werden vereinheitlicht. Genau deshalb sollte man diesen Schritt jetzt machen, so wie das unter anderem auch von der SPD vorgeschlagen wird. Klar ist natürlich, dass das Ziel – das ich momentan als nicht erreichbar ansehe – ein 100% einheitliches Wahlverfahren zu haben, weiter verfolgt werden muss.

    Wenn es dann aber irgendwann um ein solches Verfahren geht, z.B. mit transnationalen Listen, sollte meines Erachtens, auch wenn das rechtlich nicht erforderlich ist, der Bürger gefragt werden – wie ich das eben auch bei der Euro-Einführung für durchaus angebracht gehalten hätte. Immerhin kann sich durch eine solche wesentliche Änderung des Wahlrechts die Zusammensetzung des Parlaments deutlich verschieben und es gibt eben das Wahlrechts-Trilemma, also entweder wird die Gleichwertigkeit der Stimme nicht gewährleistet oder der Regionalproporz. Und auch eine gesamteuropäische Sperrklausel könnte ja durchaus gravierende Auswirkungen haben. Was passiert zum Beispiel, wenn niemand mehr mit Orban zusammenarbeiten will und seine Partei aus der EVP fliegt? Haben dann 50% der Ungarn keine Chance mehr, sich in Europa vertreten zu lassen, wenn Orban keine Partner findet? Ich mag den Typ zwar nicht, aber dass so jemand dann einfach durch das Raster des Wahlrechts fällt, ist wohl auch nicht so ganz das Wahre.

    Ich denke einfach, dass man bei so grundlegenden Dingen, die Bürger einfach fragen sollte.

    P.S. Zu welchen Problemen das Wahlrechts-Trilemma bei den Bundestagswahlen führt, hatte ich mal hier beschrieben.

  • Lieber Manuel!

    leider verdecken momentan so viele akute Krisen diese wichtige Debatte um unser künftiges Wahlrecht. Dabei ruhen so viele Hoffnungen auf einer echten, europäischen Wahl. Leider konnten hier die porgressiven Stimmen - die JEF aber auch die Initiative European Republik zum Beispiel - mit ihren Vorstellungen transnationaler Wahlen noch keine wirklich breite gesellschaftliche Debatte anstoßen. Deiner Analyse zufolge scheinen die Akteure mit dem Status Quo doch recht einverstanden zu sein. Da fehlt mir etwas die Erklärung der Bremser: Warum so zaghaft?

    Ich persönlich würde sehr gerne nicht nur als Berliner und Deutscher wählen, sondern als EU-Bürger auch echte transnationale Parteien, nach einem echten transnationalen Wahlkampf, gerne auch über eine europäische Zweitstimme.

    Speziell dann, wenn wir aus den Hilfskonstruktionen für die Euro-Politik raus wollen (ESM, Eurogruppe, Troika) hin zu einer echten Euro-Regierung, einem Euro-Finanzminister usw., bräuchten wir eine entsprechend starke und legitime Volksvertretung. Leider bleibt mir etwas schleierhaft, wie diese beiden Debatten aktuell zusammengedacht werden.

    Was mir noch nicht klar ist: haben sich Länder wie Großbritannien und Schweden inzwischen schon mit dem Konzept der Spitzenkandidaturen abgefunden? Das war ja letztes Mal ein ulkriges Schauspiel, als etwa die Briten so taten, als gäbe es diesen Mechanismus gar nicht. Ich hoffe zumindest dieser Machtkampf ist jetzt entschieden und wiederholt sich nicht das nächste Mal.

    Generell: schön das wenigstens einer in diesem Land diesen europäischen Zukunftsprozess verfolgt. Ich habe davon in den großen Medien exakt gar nichts gelesen!

    • Manuel Müller Der (europäische) Föderalist
      +2

      Lieber Alex, ganz kurz: Über transnationale Listen wurde diesmal im EP gar nicht viel diskutiert. Im Zusammenhang mit dem Duff-Bericht gab es 2011 allerdings mal eine Plenardebatte darüber. Mit den darin von den Gegnern vorgetragenen Argumenten habe ich mich hier detaillierter auseinandergesetzt.

      Zu den Spitzenkandidaten: Nachdem sich das EP 2014 durchgesetzt hat, gehe ich davon aus, dass der Europäische Rat 2019 auf diesen Machtkampf verzichten wird. (Wobei das ein wenig davon abhängen wird, welche Parteien dann in den großen Mitgliedstaaten regieren.)

      Zum Zusammendenken der Euro- und der Demokratie-Debatte: Das ist natürlich ein großes Thema, zu dem gerade die nationalen Regierungen bislang nur wenig überzeugende Vorschläge haben. Das Problem ist, dass die verstärkte wirtschaftspolitische Integration sich auf die Eurozone beschränken würde, während das EP natürlich die gesamte EU umfasst. Alle Vorschläge einer Euro-Regierung, gegebenenfalls mit einer parlamentarischen Euro-Kammer, laufen daher Gefahr, das EP und damit die gesamteuropäische Demokratie zu schwächen. Mein Ansatz ist deshalb (ganz kurz gesagt), den Euro (wie es auch im Vertrag steht) als "die Währung der EU" zu betrachten und mithin bei der Stärkung der Euro-Governance vor allem auf die Kommission und das EP zu setzen. (Ausführlicher habe ich dazu hier und hier geschrieben.)

      • Das Problem ist, dass die verstärkte wirtschaftspolitische Integration sich auf die Eurozone beschränken würde

        Das ist falsch. Die wirtschaftspolitische Integration muss im Rahmen des Binnenmarktes erfolgen und nicht im Rahmen der Eurozone:

        • Die Problematik des Steuerdumpings ist ein gesamteuropäisches wirtschaftspolitisches Thema, hat aber nichts mit dem Euro zu tun.

        • Die Unterschiede beim Datenschutz sind ein gesamteuropäisches wirtschaftspolitisches Thema, haben aber nichts mit dem Euro zu tun.

        • Der Emissionshandel ist ein gesamteuropäisches wirtschaftspolitisches Thema, hat aber nichts mit dem Euro zu tun.

        • Also ist die wirtschaftspolitische Integration anscheinend auch ein gesamteuropäisches Thema und beschränkt sich eben nicht nur auf die Eurozone. Bei der fiskalischen Integration oder auch der geldpolitischen Integration (Bankenunion) würde das natürlich anders aussehen, aber davon haben Sie hier ja nichts geschrieben.

        Mein Ansatz ist […], den Euro (wie es auch im Vertrag steht) als "die Währung der EU" zu betrachten und mithin bei der Stärkung der Euro-Governance vor allem auf die Kommission und das EP zu setzen.

        Das kann man zwar machen, aber verraten Sie mir, mit welchem Zeitraum man rechnen muss, bis Großbritannien das Pfund durch den Euro ersetzt? Als Vision mag das ja alles ganz nett sein, aber als Vorschlag für die Praxis ist das doch komplett untauglich.

    • Sehr geehrter Alexander Wragge,

      1.)

      „Da fehlt mir etwas die Erklärung der Bremser“

      Wer sind denn die Bremser? Jene, die mit der Harmonisierung des Wahlrechts die europäische Integration vorantreiben, oder jene, die diesen Schritt hin zu einem gemeinsamen Europa ablehnen?

      Der Ablauf muss doch sein:
      1. Harmonisieren, was ohne Verfassung harmonisiert werden kann.
      2. Dann in einem breiten Diskurs eine Verfassung ausarbeiten.
      3. Im Anschluss die Bürger der EU-Länder abstimmen lassen, ob sie einen solchen EU-Staat wollen.
      4. Und sollten diese zustimmen, die EU vollenden.

      Der Ablauf darf aber nicht sein:
      1. Ohne gemeinsame Verfassung und ohne die Bürger zu fragen, zunächst ganz viel nationale Souveränität auf die EU zu übertragen, z.B. durch von oben aufgezwungene transnationale Listen.
      2. Dann die EU irgendwie durch nicht legitimierte Gremien und sogenannte Experten zusammenzuschustern.
      3. Und abschließend die Bürger darüber zu informieren, was über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde.

      Insofern würde mich aber auch interessieren, warum jene, die für die europäische Integration sind, plötzlich bei dieser Harmonisierung auf der Bremse stehen.

      2.)

      „Leider bleibt mir etwas schleierhaft, wie diese beiden Debatten aktuell zusammengedacht werden.“

      Im Rahmen einer Verfassungsdebatte gehört beides (Eurofinanzminister, transnationale Listen) zusammen. Mir würde es eher schwer fallen, das getrennt zu denken – also eine europäische Demokratie ohne Staatlichkeit bzw. ein EU-Staat ohne europäische Demokratie.

      3.)
      Weiterhin fehlt mir aber vor allem die Bereitschaft zum Diskurs. Meine Frage nach der Sperrklausel und kleineren Ländern bleibt ja z.B. unbeantwortet stehen, auch wenn das – egal ob jetzt oder künftig im Rahmen einer Verfassungsdebatte – eine wichtige Frage ist.

      In Deutschland wurde nach der Wiedervereinigung z.B. die 5%-Hürde für West und Ost gesondert ermittelt, um die Parteien aus dem Osten der neuen Republik nicht zu benachteiligen. Und auch für die dänische Minderheit wird in Schleswig-Holstein eine Ausnahme gemacht, um deren Minderheitenrechte zu wahren.

      Mein Frage(n) an Sie, Herr Wragge: Wenn „Experten“ auf solche Fragen (z.B. nach dem Minderheitenschutz bei transnationalen Listen) keine vernünftige Antwort haben, sollte man dann nicht die Qualität von Experte und Vorschlag kritisch hinterfragen?

      • Ist der Vorschlag tatsächlich ausgereift?
      • Ist es wirklich das, was mit dem Motto der EU „In Vielfalt geeint“ gemeint ist?
      • Sind paneuropäische Listen nicht eher etwas für einen europäischen Bundesstaat als für einen Staatenbund?
      • Krallt man sich hier evtl. an einer fixen Idee fest, statt das Große und Ganze im Blick zu haben?
      • Geht es am Ende bei transnationalen Listen nur um Symbolpolitik?
      • Sperrklausel ganz abschaffen?

        Lieber MisterEde,

        wenn Manuel Müller Zeit hat, wird er bestimmt auf Ihre Einwände antworten. Denn er arbeitet genau an der von Ihnen geforderten Debatte und wägt sehr genau ab. Als JEFler und europäischer Föderalist steht Manuel Müller für eine bestimmte Version Europas für die er ja auch wirklich sehr viele gute Gründe anführen kann.

        Ich finde die Idee einer europäischen Zweitstimme sehr sinnvoll, wie sie Manuel Müller hier beschreibt.

        Bei der (paneuropäischen) Sperrklausel bin ich mir alles andere als sicher. Ich habe hierzu mehrfach mit dem damaligen Kläger Hans Herbert von Arnim gesprochen und er konnte immer sehr überzeugend darlegen, warum diese Klausel speziell bei den Europawahlen ungerecht ist. Man könnte die Sperrklausel auch europaweit abschaffen und sehen, wie sich die Dinge einpendeln. Fraktionen werden sich trotzdem bilden, denn als Einzelkämpfer ohne Fraktion im Rücken habe ich nicht viel Einfluß im Parlament. Das hat sich ja auch darin gezeigt, dass sich am Ende so viele fraktionslose Abgeordnete den Grünen angeschlossen haben. Also vielleicht könnte man sagen, man probiert das, weil man um die Kollateralschäden solcher Sperrklauseln für die Demokratie weiß.

        Wer geht vor? Die Eliten oder die Bürger?

        Zu Punkt 1. Dieses Dilemma des EU-Prozesses ist so alt wie die EU selbst. Was glauben Sie, hätten die ersten Jahrzehnte der EG und der EU so stattgefunden, wenn die Menschen jeweils via Volksabstimmung gefragt worden wären? Die Osterweiterung? Die Euro-Einführung?...

        Die Problematik, dass die Akteure Europa vorgestalten und die Menschen entweder gar nicht fragen, oder die Menschen es gar nicht merken, oder die Dinge erst im Nachhinein demokratisch legitimiert werden (denken Sie an die Rettungsschirme) haben wir die ganze Zeit. Und es ist das Anliegen von einem Portal wie Publixphere - genauso wie von einem Manuel Müller (das unterstelle ich ihm mal ) das zumindest ein wenig zu ändern, indem wir die politische Debatte endlich einholen bevor es zu spät ist! Indem wir das neue Europawahlrecht diskutieren bevor es beschlossen wird!

        Okay, soweit erstmal, liebe Grüße, Alexander Wragge

        • Manuel Müller Der (europäische) Föderalist
          +2

          Nur noch mal ganz kurz zu dem Argument, dass sich auch die meisten Abgeordneten von Kleinparteien einer der existierenden Fraktionen anschließen:

          1. Die gestiegene Fraktionsdisziplin im EP ist ein wichtiger Grund, weshalb das EP in den vergangenen Jahren an handlungsfähigkeit gewonnen hat. Es ist davon auszugehen, dass eine größere Anzahl von (nicht europäisch organisierten) Kleinparteien in den Fraktionen deren interne Meinungsbildungsprozesse erschwert. Dadurch wird die Fähigkeit des Gesamtparlaments, stabile Mehrheiten zu bilden, kaum weniger eingeschränkt, als wenn die Vertreter der Kleinparteien fraktionslos bleiben.

          2. Sollte das nicht der Fall sein - etwa weil die Kleinparteien sehr ähnliche Positionen vertreten wie die großen Parteien in der Fraktion -, stellt sich die Frage, weshalb die Kleinparteien überhaupt mit eigenen Listen antreten wollen. Wenn FDP und Freie Wähler bzw. Grüne und ÖDP im Europäischen Parlament tatsächlich immer am selben Strang ziehen, warum dann den Wählern durch getrennte Listen Sand in die Augen streuen?

          3. So oder so erscheint es mir (wie schon weiter unten kurz angesprochen) als ein Gebot der demokratischen Transparenz, dass die Parteien schon vor der Wahl zu erkennen geben, welcher gesamteuropäischen Gruppierung sie nahestehen. Das absurde Seilziehen um Neumitglieder, wie es etwa nach der letzten Europawahl zwischen den Rechtsfraktionen zu beobachten war, ist mit Sicherheit nicht demokratiefördernd.

          • Zu 1.: Unabhängig der Frage einer Sperrklausel können die Fraktionen doch selbst darüber entscheiden, welche Parteien sie aufnehmen. Und wenn der Entscheidungsprozess in den Fraktionen erschwert würde, dann wäre es den Fraktionen doch ohne Probleme möglich, die Aufnahme dieser Kleinparteien abzulehnen. Wo also ist da das Problem?

            Zu 2.: Gegenfrage: Bis vor kurzem gab es doch in Deutschland eine Sperrklausel bei der Europawahl. Warum haben sich die Kleinparteien, z.B. die ÖDP, solange es die 5%-Hürde gab, nicht an die großen Parteien, z.B. die Grünen, angehängt? Waren die einfach alle ganz doof? Das gilt übrigens auch bei der Bundestagswahl. Warum treten die denn alleine an, obwohl sie es doch nie über die Hürde schaffen? Da hätte ich gerne mal eine Antwort zu. Und mit der Antwort können Sie Ihr Argument dann selbst entkräften.

            Zu 3.: Und ich würde es als Gebot der Demokratie ansehen, dass man solche Entscheidungen den Wählern selbst überlässt. Wenn den Wählern eine solche Vorfestlegung wichtig ist, werden sie es bei ihrer Wahlentscheidung schon berücksichtigen.

            • Manuel Müller Der (europäische) Föderalist
              +2

              Da hätte ich gerne mal eine Antwort zu. Und mit der Antwort können Sie Ihr Argument dann selbst entkräften.

              Sie werden verstehen, dass ich mit meiner Zeit etwas Besseres anzufangen weiß, als in diesem Tonfall zu diskutieren.

              • Nach Ihrer Aussage, dass tausende Demokraten, die sich in Kleinparteien (ÖDP, Piraten, Tierschutzpartei usw.) engagieren, den Wählern „Sand in die Augen streuen“, nur weil sie sich nicht vor der Wahl mit größeren Parteien zusammenschließen, hätte ich wohl einfach direkt fragen sollen, was das denn eigentlich für ein Demokratieverständnis sein soll.

                Ich bin zwar für Sperrklauseln, um die Funktionsfähigkeit von Parlamenten zu sichern (dort wo es notwendig ist), finde aber, dass auch Kleinparteien Respekt verdient haben. Die ÖDP wird schon wissen, warum sie sich eben gerade nicht mit den Grünen zusammenschließt.

                Und wenn wir bei der Transparenz sind: Haben denn die Grünen vor der Wahl in Hessen gesagt, dass sie Schwarz-Grün machen werden? Also bitte die Kirche im Dorf lassen und von Kleinparteien nicht mehr verlangen als von großen Parteien.

        • Hallo Herr Wragge,

          danke für Ihre ausführliche Antwort.

          Europäische Integration: Nun ja. Es soll auch andere geben, die sich ein solches gemeinsames Europa vorstellen – gab es schon vor Jahrzehnten. Immerhin steht die weitere Integration als Ziel ja auch im EU-Vertrag.

          Einheitliche Wahl: Ich befürworte vor allem ein einheitliches Wahlrecht für das EU-Parlament nach dem Prinzip „one (wo)man one vote“. Ob das dann mit transnationalen Listen gemacht wird, ist für mich zunächst nachrangig, was aber nicht heißt, dass ich diese nicht befürworten würde.

          Sperrklauseln: Bei der aktuellen Konstruktion mit 28 Einzelwahlen halte ich jeweils eine Sperrklausel von 3 – 5% für vertretbar. Bei transnationalen Listen und transnationaler Sperrklausel würde ich aber wohl eher so 0,5 - 2% befürworten, weil das auch bei niedriger Wahlbeteiligung schon mindestens ein paar hunderttausend Stimmen erfordert und bei 0,5% auch schon zu etwa 3 bis 4 Abgeordneten führt.

          Reihenfolge: Da habe ich dann doch eine andere Auffassung. Ich bin nicht bereit die Demokratie einem wie auch immer gearteten Ziel unterzuordnen. Argumentationen in der Richtung, die Demokratie sei zu anstrengend oder „haben wir die ganze Zeit“ so gemacht, halte ich für unzulässig. Gleichwohl heißt das aber natürlich nicht, dass die Bürger nun über jedes Detail abstimmen sollen – sondern eben nur dann, wenn es darum geht, die Souveränität der Nationalstaaten weiter auf die EU zu übertragen.

          Um das an Ihren Beispielen zu verdeutlichen:
          Rettungsschirme: Da geht es um eine begrenzte Summe Geld. Deutschland zahlt ja z.B. auch Entwicklungshilfe an andere Länder, sogar noch zu wenig. Aber das ist etwas was der Bundestag über sein Haushaltsrecht zu entscheiden hat und nicht der Bürger per Volksabstimmung.

          Ost-Erweiterung: Die hat ja nichts an dem Verhältnis von Deutschland zur EU geändert also folglich nicht zu einer Übertragung von Souveränität geführt. Insofern haben darüber einfach die entsprechenden europäischen Gremien zu entscheiden z.B. der Europäische Rat.

          Euro-Einführung: Dies hat die souveräne Geldpolitik auf die EU-Ebene verlagert, weshalb man dazu eine Volksabstimmung hätte machen müssen. Ich bin mir aber auch sicher, dass Deutschland sich für eine Euro-Einführung ausgesprochen hätte, wenn 1990 gefragt worden wäre, ob diese Bedingung für die Wiedervereinigung eingegangen werden soll.

          Europawahlrecht: Dazu schreibe ich noch einen zweiten Kommentar. Zum Urteil des BVerfG hatte ich hier etwas geschrieben: Der Witz ist aus meiner Sicht nämlich, dass die Sperrklausel wegen der Gleichwertigkeit der Stimme wegfallen musste, obwohl es diese Gleichwertigkeit bei der EU-Wahl eh nicht gibt.

          Beste Grüße, Mister Ede

  • „dieser verächtlichen Einschätzung der Richter“

    Aber Herr Müller, die „Verachtung“ kommt doch nicht vom BVerfG, sondern wenn, dann von den EU-Verträgen, die zwar ein Parlament vorsehen, diesem aber nicht allzu viele Rechte einräumen. Das BVerfG-Urteil zeigt also lediglich die Realität auf. Jedoch war es schon immer so, dass der Überbringer der schlechten Botschaft die Schläge bekommt und genau das scheint mir hier der Fall zu sein.

    „statt einer verpflichtenden nationalen Sperrklausel in jedem Mitgliedstaat eine europaweite, transnationale Sperrklausel“

    Selbst größere Länder wie Belgien oder Österreich machen nicht mal 3% der Bevölkerung in der EU aus, geschweige denn Luxemburg oder Malta. Tritt eine Partei also nur in einem dieser Länder an, hätte sie folglich niemals die Chance ins Europaparlament einzuziehen, wie übrigens auch die nur in Bayern antretende CSU. Parteien aus kleineren Ländern wären somit gezwungen, ihre Eigenständigkeit aufzugeben und sich, trotz Sprachbarrieren (wie viele Europäer sprechen eigentlich Lettisch) und unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, über tausende Kilometer hinweg mit anderen Parteien zu vereinen. Eine insgesamt ziemlich abstruse Vorstellung, bei der ich mich nicht wundere, dass es dafür keine Mehrheit gibt.

    Mein Fazit: Der Text ist ein Rundumschlag gegen das BVerfG, die europäische Demokratie und die regionale Vielfalt, hat aber wenig mit den Realitäten in der EU zu tun. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den vorgesehenen Änderungen beim Wahlrecht stelle ich mir anders vor.

    • Manuel Müller Der (europäische) Föderalist
      +1
      1. Das BVerfG hat in diesem Fall nicht nur "die Realität aufgezeigt", sondern auch eine normative Bewertung abgegeben. Die Feststellung, dass der Rat ein Gesetz auch ohne Zustimmung des EP erlassen kann, wenn im EP keine Mehrheitsbildung möglich ist, ist ein Fakt. Das BVerfG folgert daraus, dass die Mehrheitsbildungsfähigkeit des EP nicht so wichtig ist, weil die EU ja auch ohne das EP handlungsfähig bleibt. Ebenso gut könnte man aber argumentieren, dass die Mehrheitsbildung im EP von entscheidender Bedeutung ist, weil eine EU-Gesetzgebung allein durch den Rat undemokratisch wäre. Dem BVerfG scheint das aber egal zu sein, offenbar weil es der Mitsprache des EP ohnehin keinen besonders hohen demokratischen Wert zuschreibt. Das aber kann man als verächtlich bezeichnen.

      2. Der Sinn der Sperrklausel ist es, in einem Repräsentativsystem die Vielfalt zu reduzieren, um die Entscheidungsfähigkeit zu erhöhen und demokratische Alternanz zu ermöglichen; warum das nicht undemokratisch ist, habe ich hier ausführlicher argumentiert. Im Falle einer transnationalen Sperrklausel würden dadurch auch nationale Parteien, die keine Partnerparteien in anderen Ländern finden, ausgeschlossen. Allerdings trifft das ohnehin nur auf wenige Parteien zu: Die erwähnte CSU zum Beispiel ist ja Mitglied der Europäischen Volkspartei, und auch die sieben größten Parteien in Luxemburg sind allesamt längst europäisch organisiert. In den letzten Jahren hatten selbst eher kleine Neugründungen wie die Piraten - Sprachbarrieren hin oder her - kein Problem, sich innerhalb kurzer Zeit zur Europäischen Piratenpartei (PPEU) zusammenzuschließen. Eine Partei aber, die wirklich überhaupt keine Partner auf europäischer Ebene finden kann, wird auch im Europäischen Parlament nicht viel bewegen; um eine solche Partei auszuschließen, ist eine Sperrklausel nur legitim.

      (Einige der Sperrklausel-Gegner im EP argumentieren damit, dass auch die meisten der deutschen Kleinparteien sich einer der EP-Fraktionen angeschlossen haben, sodass die deutsche Null-Prozent-Hürde nur bedingt zu einer realen Fragmentierung des Parlaments geführt hat. Für mehr Transparenz gegenüber dem Wähler wäre es in meinen Augen allerdings angemessen, wenn diese nationalen Kleinparteien schon vor der Wahl durch den Beitritt zu einer europäischen Partei Farbe bekennen müssten, wo sie im gesamteuropäischen Spektrum stehen - und nicht erst nach der Wahl durch den Beitritt zu einer Fraktion.)

      • Ebenso gut könnte man aber argumentieren, dass die Mehrheitsbildung im EP von entscheidender Bedeutung ist, weil eine EU-Gesetzgebung allein durch den Rat undemokratisch wäre.

        So gesehen hätte das BVerfG die Sperrklausel auch auf 7% anheben können, mit dem Argument, es handele sich um eine Glückszahl!
        Anders ausgedrückt: Entweder ist die Mehrheitsbildung im EP entscheidend oder eben nicht. Ist sie nicht entscheidend, dann kann man den Richtern doch kaum vorwerfen, dass sie das dann auch so feststellen und daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen. Was Sie als „verächtliche Haltung“ beschreiben, würde ich eben einfach als „Aussprechen der Wahrheit“ bezeichnen.

        Der Sinn der Sperrklausel ist es, in einem Repräsentativsystem die Vielfalt zu reduzieren, um die Entscheidungsfähigkeit zu erhöhen und demokratische Alternanz zu ermöglichen; warum das nicht undemokratisch ist […]

        1. Ich sage ja nirgends, dass eine Sperrklausel grundsätzlich undemokratisch sei, sondern zeige einzelne Probleme auf, z.B. wenn es um den Schutz von Minderheiten geht.
        2. Und wenn das mit der Sperrklausel sowieso alles so unproblematisch ist, wie Sie schreiben, dann dürfte es für Sie ja auch ein Leichtes sein, mir zu erklären, wieso dann z.B. für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein eine Ausnahme gemacht wird.

        Für mehr Transparenz gegenüber dem Wähler wäre es in meinen Augen allerdings angemessen, wenn diese nationalen Kleinparteien schon vor der Wahl durch den Beitritt zu einer europäischen Partei Farbe bekennen müssten

        Und ich fände es in einer Demokratie angemessen, so etwas den Wähler entscheiden zu lassen. Wenn Ihnen persönlich eine solche Partei zu intransparent ist, dann müssen Sie sie ja nicht wählen. Aber bitte nicht einfach andere Wähler bevormunden, die können nämlich selbst entscheiden, ob ihnen eine solche vorherige Festlegung wichtig ist oder nicht.